Fortbildungskongress

Das Kreuz mit dem Kreuz

Frühzeitige Behandlung verhindert Chronifizierung

Die meisten Kreuzschmerzen sind zwar "harmlos", so Prof. Dr. Annette Becker von der Phillipps-Universität Marburg, eine Überdiagnostik und pathologisches Schmerzverhalten können jedoch zur Progredienz der Beschwerden führen. In jedem Fall wichtig ist das Erkennen von Warnhinweisen für schwere Verläufe und persistierende Beschwerden. Hier sei besonders auch der Apotheker gefragt

Prof. Dr. Annette Becker Foto: DAZ/ck

Etwa 75% aller Deutschen hatten schon einmal Kreuzschmerzen. Dabei bezeichnet der Begriff "Kreuzschmerz" einen Schmerz im Rückenbereich unterhalb des Rippenbogens und oberhalb der Gesäßfalten. Zwar ist die Spontanheilungsrate sehr hoch, es darf aber nicht unterschätzt werden, dass sehr häufig die Schmerzen wiederkehren. Nach dem zeitlichen Verlauf werden akuter, subakuter und chronischer/chronisch rezidivierender Kreuzschmerz unterschieden. Unter akutem Kreuzschmerz werden Schmerzepisoden zusammengefasst, die weniger als sechs Wochen anhalten. Schmerzepisoden, die länger als sechs Wochen dauern, werden subakut genannt. Wenn die Symptome schon länger als zwölf Wochen bestehen, ist von chronischem bzw. chronisch rezidivierendem Kreuzschmerz die Rede. Wobei unter rezidivierend ein Wiederauftreten nach symptomfreier Phase von mindestens sechs Monaten verstanden wird. Das Symptom "Rückenschmerz" ist ätiologisch durch über 100 unterschiedliche Erkrankungen erklärbar. Finden sich durch Anamnese und körperliche Untersuchung keine Hinweise für gefährliche Verläufe und andere ernstzunehmende Pathologien, sollen vorerst keine weiteren diagnostischen Maßnahmen durchgeführt werden. Denn eine Überdiagnostik und pathologisches Schmerzverhalten können die Progredienz der Beschwerden fördern. Diese Beschwerden werden als nicht-spezifischer Kreuzschmerz klassifiziert. Von spezifischen Schmerzen spricht man, wenn eine eindeutige Ursache zu finden ist, zum Beispiel ein Sturz, Morbus Bechterew, Osteoporose oder ein Tumor.

Auf Warnhinweise achten!

Begleitsymptome und Vorerkrankungen, die als Warnsignal für eine spezifische Ursache mit dringendem Behandlungsbedarf dienen, bezeichnete Becker als "red flags". Die Tabelle zeigt die Symptome, die als Warnhinweise für gefährliche Verläufe zu betrachten sind, und die stets erfragt werden sollten. Das Vorliegen eines dieser Warnsignale allein hat eine geringe Aussagekraft. Nur das Gesamtbild aller Symptome ermöglicht eine adäquate Einschätzung des Risikos. Wichtig sei es, so Becker, auch auf Risikofaktoren zu achten, die zu einer Chronifizierung der akuten Kreuzschmerzes führen können: Zu diesen als "yellow flags" bezeichneten Risikofaktoren zählen

  • biologische Faktoren: höheres Alter, degenerative Prozesse

  • Depressivität, Distress (berufs- und arbeitsbezogen)

  • Kognition (Katastrophisieren, Hoffnungslosigkeit, Angst-Vermeidungs-Verhalten)

  • Schmerzverhalten: passiv (Schonung, Vermeidung), Überaktivität

  • Neigung zur Somatisierung: berufliche Faktoren (Schwerarbeit, Vibrationen), iatrogene Faktoren (Überbewertung radiologischer Befunde)

  • Lebensstil: Rauchen, Übergewicht, geringe körperliche Kondition.

Bei diesen Symptomen müssen Sie hellhörig werden und den Patienten an den Arzt verweisen, denn es könnten hinter den Rückenschmerzen schwerwiegende erkrankungen wie ein tumor oder eine infektion stecken. [Quelle: Prof. Dr. A. Becker, Marburg]
Fraktur                                   tumor                                        infektion                                   Radikulopathien/ Neuropathien
. Trauma                                 . höheres Alter                         . Fieber und Schüttel-             . Schmerzen in Dermatom
. systemische Steroid-         . Karzinomanamnese                 frost, Appetitlosigkeit,          . ausgedehnte oder zuneh- therapie                               . Gewichtsverlust                        Ermüdbarkeit                            mende neurologische
. Appetitlosigkeit                     . Zeit nach einer bakteri-           Ausfälle
. rasche Ermüdbarkeit               ellen Infektion                       . Kaudassyndrom
. Schmerz in Rückenlage       . i.v.-Drogenabusus
. starker nächtlicher               . immunsupprimierende Schmerz                                    Grunderkrankung
. kürzlich Infiltrationsbe- handlung an der Wirbel- säule
. starker nächtlicher Schmerz

Symptomatische Therapie

Beim nicht-spezifischen Kreuzschmerz erfolgt die Therapie symptomatisch, im Vordergrund steht die Aktivierung der Betroffenen. Becker betonte, dass bei der Behandlung auf eine regelmäßige Einnahme der Medikamente nach einem festen Zeitplan zu achten ist: "Die Zeit steuert die Einnahmen, nicht der Schmerz." Die Medikation soll für einen Auslassversuch nach einigen Tagen unterbrochen werden, um den Erfolg zu überprüfen.

Zur symptomatischen Therapie bei Kreuzschmerz können aus der Gruppe der nicht-opioiden Analgetika Paracetamol, verschiedene traditionelle nicht-steroidale Antirheumatika/Antiphlogistika (tNSAR) und COX-2-Hemmer angewendet werden. Aufgrund geringer Evidenz und möglicher Nebenwirkungen kann keine der genannten Medikamentengruppen als Mittel der ersten Wahl empfohlen werden. Paracetamol kann für einen Behandlungsversuch (Dosierung max. 3 g/d) angewendet werden, wobei eine Besserung der Schmerzen innerhalb einer Woche eintreten sollte! Vor dem Einsatz von tNSAR und COX-2-Hemmern ist insbesondere das gastrointestinale sowie kardiovaskuläre Risikoprofil zu beachten. Bevorzugt sollten Substanzen mit geringer gastrointestinaler Toxizität angewendet werden. Becker nannte Ibuprofen (max. 2,4 g/d) und Diclofenac (max. 150 mg/d). Es gilt: die niedrigst wirksame Dosis so kurzfristig wie möglich. Zum Schutz vor gastrointestinalen Nebenwirkungen kann prophylaktisch ein Protonenpumpenhemmer gegeben werden. Für COX-2-Hemmer konnte zwar eine Schmerzlinderung bei Kreuzschmerz gezeigt werden, für diese Indikation sind sie jedoch in Deutschland nicht zugelassen. Bei fehlendem Ansprechen auf Analgetika wie Paracetamol oder NSAR können schwache Opioide (z. B. Tramadol, Tilidin/Naloxon) bei nicht-spezifischem Kreuzschmerz eingesetzt werden. Die Wirksamkeit der Opioidtherapie soll bei akutem nicht-spezifischem Kreuzschmerz nach spätestens vier Wochen, bei chronischem Kreuzschmerz nach spätestens drei Monaten überprüft werden. Tritt die gewünschte Schmerzlinderung bzw. Funktionsverbesserung nicht ein, darf die Opioidtherapie nicht fortgesetzt werden!

Muskelrelaxanzien können bei akutem und chronischem Kreuzschmerz angewendet werden, wenn nicht-medikamentöse Maßnahmen oder die alleinige Gabe von nicht-opioiden Analgetika keine Besserung bewirken. Sie sollten nicht länger als zwei Wochen fortlaufend eingenommen werden. Benzodiazepine sollten vermieden werden.

Zwar liegen mehrere klinische Studien zu Weidenrinde oder Teufelskralle enthaltenden Extrakten vor, die Datenlage reicht jedoch nicht für eine Evidenz aus: Phytotherapeutika sollten bei akutem und chronischem nichtspezifischem Kreuzschmerz nicht angewendet werden.

Die Patienten sollen, wenn weniger intensive evidenzbasierte Therapieverfahren unzureichend wirksam waren, mit multimodalen Programmen im Bereich der Kuration oder Rehabilitation behandelt werden. Sie bestehen aus medizinischen (Pharmakotherapie, Edukation), physischen (Bewegungstherapie), berufsbezogenen und verhaltenstherapeutischen Komponenten und sollten von mindestens drei Berufsgruppen mit unterschiedlichem therapeutischem Hintergrund durchgeführt werden.


ck



DAZ 2012, Nr. 7, S. 75

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