Zukunftskongress

"Apotheke heavy" statt "Apotheke light"

Der freie Heilberuf Apotheker in der Krisengesellschaft

Ein besonderer Höhepunkt beim diesjährigen 4. Zukunftskongress war der Vortrag des Sozial- und Krisenforschers Prof. Dr. Gerhard Schulze von der Universität Bamberg. Schulze entwickelte – nach einem Rückblick auf die Wurzeln der Pharmazie und die Geschichte des Apothekerberufs – einige Ideen für ein Zukunftsmodell, in dem er den "Beratungsapotheker als Bewohner der Grauzone zwischen Biochemie, Psychologie und Alltagskultur" sieht. Die Apotheke müsse einen Lotsendienst und damit Suchhilfe und Unterstützung im "Ozean gesundheitsbezogener Informationen" bieten.
Prof. Dr. Gerhard Schulze, Soziologe an der Uni Bamberg, bescheinigt der Politik eine "mühsam unterdrückte Beißhemmung" gegenüber Apotheken.

Eine Branche mit maximaler Distanz zu Dieter Bohlen

Als Krisenforscher beschäftigt sich der Soziologe Schulze unter anderem auch mit dem deutschen Gesundheitssystem, das seiner Einschätzung nach trotz aller Panikmeldungen als Ganzes gut funktioniert und bei der Bevölkerung großes Vertrauen genießt. Einer von Schulzes Interessensschwerpunkten ist die Apotheke, auf die er regelmäßig in einer DAZ-Kolumne seinen "Blick von außen" richtet. Dabei bescheinigt er den Apothekern "nicht gerade forderndes Auftreten", was ihre eigenen Anliegen betrifft. "Zum Erscheinungsbild der Branche gehört ein gewisses Understatement, sozusagen die maximale Distanz zu Dieter Bohlen", sagt Schulze. Er vermutet den Grund für die Zurückhaltung darin, dass sich die Apotheker lange Zeit keine Gedanken um die Sicherung ihrer Lebensbedingungen machen mussten. Diese waren durch die "Eindeutigkeit der Funktion" garantiert – vor allem in der "stolzen Zeit" des 19. Jahrhunderts, in der der Apotheker zum Akademiker wurde, und auch noch bis ins 20. Jahrhundert hinein. Heute leiden die Apotheker am "Phantomschmerz", bedingt durch den Verlust ihres Alleinstellungsmerkmals früherer Zeiten, nämlich der Arzneimittelherstellung. Der Übergang der "Verantwortung für die Identität der ausgegebenen Stoffe von der Person des Apothekers an die Organisationen der pharmazeutischen Industrie" bedeutete einen Strukturbruch, ja sogar eine Strukturkatastrophe für die Apotheker. Dieses "professionspolitische Erdbeben" ist bis heute spürbar. Und doch muss es nicht zwangsläufig eine Katastrophe für den Berufsstand sein, der zugleich auch einen Funktionsgewinn, nämlich als heilberuflicher Berater seiner Kunden und Lotse vor allem im komplexen OTC-Markt erfahren hat. "Auch hundert Jahre nach dem Strukturbruch wird der Apotheker noch als Heilberuf verstanden", sagt Schulze. Zudem ist die Apotheke in der Gesellschaft institutionalisiert und kulturell verankert, auch wenn, so Schulze, die "Haltung der Politik regelmäßig schwankt zwischen Apothekenfreundlichkeit und mühsam unterdrückter Beißhemmung". Die Bevölkerung hat gegenüber der Apotheke ein "Pauschalvertrauen, das schon an Liebe grenzt". Die Apotheke zeichnet sich dadurch aus, dass sie für die Menschen leicht zugänglich ist. Dabei hat der kostenlose Rat des Apothekers eine "Tradition der Beiläufigkeit", die sich wie vieles, was sich im Laufe der Zeit kulturell verankert, bis heute erhalten hat.

Fortbildung am Wochenende "Der Apotheker muss seinen Berufsethos selbst produzieren."

Kein ökonomischer Anreiz

Ganz klar sieht Schulze jedoch das ökonomische Dilemma, in dem sich viele Apotheken befinden. Er sieht die Genervtheit und Verbitterung der Apotheker über Politikversagen, Bürokratie und Neuerungen ohne jeden Verstand. Dabei ist eine Weiterentwicklung der Heilberuflichkeit nur unter sicheren wirtschaftlichen Bedingungen möglich. Das Kerngeschäft der Apotheke, die Arzneimittelversorgung der Bevölkerung, ist heute nur durch "Querfinanzierung" aufrechtzuerhalten. Dabei muss der Apotheker Produkte verkaufen, die hinsichtlich der Qualität eine Bandbreite von "sinnvoll" bis "völlig absurd" durchlaufen. Die Rolle des Apothekers befindet sich dauerhaft im Widerspruch zwischen Betriebswirtschaft und Ethik. Für eine weitreichende Beratung des Kunden, der dem Apotheker so viel Vertrauen schenkt, gibt es laut Schulze keinen ökonomischen Anreiz: "Der Apotheker muss seinen Berufsethos selbst produzieren." Dass der Berufsstand noch nicht "verrottet" ist, liegt einzig und allein daran, dass die "intrinsische Motivation der extrinsischen überlegen ist: "Für Sinn engagieren wir uns, für Geld jobben wir nur." Um seine Kunden zu versorgen, braucht der Apotheker von heute vor allem Frustrationstoleranz.

Apotheker im World Conference Center WCC Der ehemalige Plenarsaal des Deutschen Bundestages, Teil des WCC in Bonn, war Tagungsort des vierten Zukunftskongresses öffentliche Apotheke des Apothekerverbands Nordrhein.

Verborgenes Wissen erlebbar machen

"Überall stößt man auf Menschen, die zu wenig wissen, um ihren Job gut zu machen. In der Apotheke ist es umgekehrt." Schulze wundert sich über "die riesige Diskrepanz zwischen verborgener Fachkompetenz und manifestem Apothekenalltag". Mit der Anzahl der Medikationen wächst jedoch der Beratungsbedarf ebenso wie mit der Zunahme der verfügbaren Produkte und Dienstleistungen. Die Kunden können oft von sich aus keine sinnvollen Fragen stellen, denn das Laienwissen ist dem Fachwissen nicht gewachsen: "Der Laie kann sich nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Damit befindet er sich in einem pharmazeutischen Münchhausen-Dilemma, ohne es zu wissen." Schulze sieht die übervollen Beipackzettel zu Arzneimitteln nicht als Hilfe für den Anwender, nein, die Beipackzettel erhöhen sogar den Beratungsbedarf. Es gibt mehr Informationen zu jeder Frage, als man verarbeiten kann und zu jeder Meinung gibt es eine Gegenmeinung. Der Mensch befindet sich in einer Zwickmühle zwischen Selbstverantwortung und Überforderung. Letztlich geben "im Dickicht der Optionen" Bauchgefühle den Ausschlag. Damit wird der Bedarf an "heilkundigen Generalisten" immer größer. Apotheker und Hausärzte sind nach Einschätzung von Schulze "geborene Generalisten", die den Menschen mit ihrer Beratung hilfreich zur Seite stehen können. Das bisher oft verborgene Wissen des Apothekers muss abrufbar werden, zum Nutzen des Patienten.

Eine pharmazeutische Ausstellung im Foyer des ehemaligen Plenarsaals begleitete den Zukunftskongress.

Der Apotheker der Zukunft

Ableitend aus seinen Betrachtungen entwickelte Schulze einige Ideen für ein Zukunftsmodell der Apotheke. Ganz vorne steht für Schulze die Beratungsapotheke, und zwar als "Apotheke heavy", nicht als "Apotheke light" mit umfassender pharmazeutischer Betreuung und vertrauenswürdigem Lotsendienst im Ozean der vielfältigen Angebote. Die Apotheke müsse einen Katalog an Dienstleistungen entwickeln, für die sie selbstverständlich auch eine Vergütung erhalte. Es müssten Beratungstermine vergeben werden, die Beratungen müssten in einem eigenen Beratungszimmer stattfinden. Für definierte Fälle müsste es eine Beratungspflicht geben.

Weiterhin hält es Schulze für wichtig, dass die Kooperation von Apothekern und Ärzten als festes Leistungsmerkmal des Gesundheitswesen ausgebaut und institutionalisiert wird. Das "traditionelle Beargwöhnungsverhältnis" müsse sich ändern – zugunsten der Synergien, von denen alle profitieren würde.

Natürlich müssten sich die neuen Aufgaben in den Studienordnungen von Pharmazeuten und Medizinern niederschlagen. Kommunikationstechniken müssen als wichtiger Bestandteil der Ausbildung Eingang in die Curricula finden. Das Patientengespräch werde schon aus dem Grund immer wichtiger, weil man heute weiß, dass Körper und Bewusstsein sich in einer Symbiose befinden und alles, was Experten dem Patienten sagen, die Selbstheilungskräfte hemmen oder fördern kann. Biochemie, Psychologie und Alltagskultur – das ist die "Grauzone", in der der Beratungsapotheker der Zukunft seine Rolle finden wird. Und zwar als Naturwissenschaftler, Menschenkenner und Milieuexperte.


rb

Hinweis für Interessierte: Der Vortrag von Prof. Dr. Gerhard Schulze wird in einer der nächsten Ausgaben der DAZ im Wortlaut veröffentlicht.



DAZ 2012, Nr. 6, S. 72

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