Arzneimittel und Therapie

Benzodiazepin-Missbrauch gezielt ansprechen

Wie klappt der Einstieg in den Ausstieg?

In Deutschland sind rund 1,4 Millionen Menschen arzneimittelabhängig, davon etwa 70 Prozent von Benzodiazepinen. Ein Arzneimittelmissbrauch liegt nach Schätzungen bei rund 2,8 Millionen Menschen vor. Insbesondere ältere Frauen sind von diesem Problem betroffen. Ganz im Sinne der Nationalen Strategien zur Drogen- und Suchtpolitik der Bundesregierung 2012 hat die Bundesapothekerkammer bereits im vergangenen Jahr einen Leitfaden für die apothekerliche Praxis herausgegeben.
Gesprächseinstieg Ein Fragebogen mit zwölf Fragen gibt den Betroffenen die Rückmeldung, wie wahrscheinlich es ist, dass aktuelle Beschwerden, die er an sich selbst beobachtet, Folge der Langzeiteinnahme der Benzodiazepine oder Z-Drugs sind. Dieser Fragebogen kann nicht das Beratungsgespräch ersetzen, er stellt keine Diagnosen, aber er ist eine gute Grundlage für einen Gesprächseinstieg. Foto: DAZ/Schelbert

Der Leitfaden "Medikamente: Abhängigkeit und Missbrauch; Leitfaden für die apothekerliche Praxis" (s. u. www.abda.de) gibt eine erste Hilfestellung für die Praxis. So sind zahlreiche Informationen zum Erkennen eines Missbrauchs oder einer Abhängigkeit und dafür bekannte Arzneimittelgruppen näher beschrieben. Auch auf die Regelung der Apothekenbetriebsordnung [§ 17 (8)], wonach einem Arzneimittelmissbrauch in geeigneter Weise entgegenzutreten ist, wird eingegangen. Doch wie spricht man in der Apotheke diese Patienten konkret an?

Krückstock "Benzo-Check"

Viele der Betroffenen klagen über Unausgeglichenheit, dass sie sich "gerädert" fühlen oder antriebslos. Das sind typische Signale einer Low-dose-Abhängigkeit. Werden diese unerwünschten Begleiterscheinungen – paradoxe Effekte der Benzodiazepine und der Z-Analoga – in der Apotheke erkannt und angesprochen, so ist das eine Möglichkeit, mit Langzeitanwendern ins Gespräch zu kommen und diese zu motivieren, zukünftig auf Benzodiazepine nach Rücksprache mit ihrem Arzt zu verzichten. Um die Betroffenen für diese unerwünschten Begleiterscheinungen zu sensibilisieren, wurde der sogenannte Lippstädter Benzo-Check entwickelt (siehe Kasten unten). Mit gezielten Fragen können viele Patienten erfolgreich motiviert werden, sich einem Entzug – meist durch ein langsames Ausschleichen – zu unterziehen, so Dr. Rüdiger Holzbach von den LWL-Kliniken Lippstadt und Warstein, der sich bereits seit vielen Jahren in der Behandlung von Suchtpatienten engagiert. Er hat sehr viel Erfahrung mit Langzeitanwendern von Benzodiazepinen gesammelt und gibt im Folgenden Tipps, wie der Einstieg in den Ausstieg gelingen kann.


Dr. Rüdiger Holzbach ist Chefarzt der Abteilung Suchtmedizin der LWL-Kliniken Warstein und Lippstadt. Foto: Privat

Nicht Sucht, sondern paradoxe Effekte!

DAZ: Viele ältere Menschen erhalten regelmäßig Benzodiazepine ärztlich verordnet. Benzodiazepine sind jedoch nicht für einen Langzeitkonsum gedacht, da sie ein Abhängigkeitsrisiko haben. Welche Phasen durchläuft die Suchtentwicklung aufgrund Ihrer Erfahrung?

Holzbach: Die Abhängigkeit oder Sucht steht am Ende einer längeren Entwicklung, die sich unter Umständen über Jahre oder gar Jahrzehnte hinzieht. Im Gegensatz zu Alkohol zum Beispiel sind die Benzodiazepine und Z-Drugs für die Betroffenen in der Regel nicht frei verfügbar, nicht frei dosierbar. Sie wissen, dass sie "es nicht übertreiben dürfen", und steigern deshalb zunächst nicht die Dosis. Der Körper gewöhnt sich aber sehr schnell, innerhalb von wenigen Wochen, an die dämpfende Wirkung der Benzodiazepine, sodass die Patienten in Relation zu dem, was sie bräuchten, unterdosiert sind – ähnlich wie ein Alkoholiker, der zwei Promille gewohnt ist und bei ein Promille bereits Entzugserscheinungen zeigt. Auch Medikamentenabhängige bräuchten aufgrund des raschen Gewöhnungseffektes bereits höhere Dosierungen, haben aber keinen Zugriff darauf. Deshalb entwickeln sie, ausgelöst durch die Unterdosierung, Entzugssymptome. Da diese in der Regel aber ähnlich zu den ursprünglichen Einnahmegründen sind, wird dies von den Patienten als Verschlechterung der Grunderkrankung interpretiert. Bei einem Reduktions- oder Auslassversuch verstärken sich die Beschwerden – jetzt erleiden die Betroffenen regelrechte Entzugssyndrome – und es entsteht der Eindruck, dass die Medikamente noch immer wirken, und sie werden deshalb weiter genommen. Die wesentlichen Folgen sind zunächst die relativen Entzugserscheinungen und später das Apathiesyndrom. Die Betroffenen verlieren dadurch erheblich an Lebensqualität und ziehen sich aus Beziehungen zurück. Inwieweit bleibende Schäden, insbesondere kognitiv-amnestische Defizite, auftreten, ist in der Literatur umstritten. Aus meiner Erfahrung bilden sich die Defizite nach dem Absetzen zurück – allerdings kann dies unter Umständen viele Monate dauern.


DAZ: Wie sprechen Sie Patienten an, bei denen Sie relative Entzugserscheinungen feststellen, um diese zum Ausschleichen aus der Benzodiazepin-Therapie zu motivieren?

Holzbach: Das Wichtigste ist die Information über die Zusammenhänge – und, weil die Patienten sich nicht als süchtig erleben, das Vermeiden der Begriffe Sucht oder Abhängigkeit. Wenn Patienten verstehen, dass die Medikamente diesen paradoxen Effekt auslösen, sind sie sehr häufig sofort bereit dazu, einen Ausschleichversuch zu wagen.


DAZ: Was ist das Besondere am Lippstädter Benzo-Check?

Holzbach: Er kann zunächst Betroffenen als Selbsttest ausgehändigt werden, ohne dass viel erklärt werden muss. Der Test gibt den Betroffenen die Rückmeldung, ob es mehr oder weniger wahrscheinlich ist, dass ihre aktuellen Beschwerden Folge der Langzeiteinnahme der Benzodiazepine oder Z-Drugs sind. Er ersetzt nicht das Beratungsgespräch, er stellt keine Diagnosen, aber er ist eine gute Grundlage für einen Gesprächseinstieg.


DAZ: Wie erfolgreich ist die Ausschleich-Therapie, vor allem auch bei älteren Patienten?

Holzbach: Hier kann das Modell-Projekt des Apothekers Dr. Pallenbach, das derzeit durch Förderung des BMG unter Leitung der ABDA in mehreren Modellregionen "in die Fläche" ausgeweitet wird, als Referenz dienen: Mit einfachen Mitteln, durch die Kooperation von Hausarzt und pharmakologisch beratendem Apotheker und ohne spezielle suchtmedizinische oder psychotherapeutische Techniken, konnten von den im Durchschnitt 72 Jahre alten Patienten 55% mit dieser Unterstützung komplett entziehen und weitere 18% die Dosis reduzieren. Wenn man dann noch sieht, wie die Menschen wieder Lebensfreude und Selbstvertrauen entwickeln, nachdem die Hemmung durch die Medikamente weggefallen ist, dann versteht man nicht, warum diese Mittel den Menschen so lange gegeben wurden.


DAZ: Herr Holzbach, vielen Dank für das Interview.


Apothekerin Dr. Constanze Schäfer, MHA


Lippstädter Benzo-Check


Die unerwünschten Begleiterscheinungen – paradoxen Effekte – der Benzodiazepine und der Z-Analoga motivieren viele Patienten, über ihren Schlafmittelgebrauch nachzudenken und gemeinsam mit ihrem Arzt nach einer Lösung für ein Ausschleichen zu suchen. Hier hilft der Lippstädter Fragebogen. Er enthält zwölf konkrete Fragen, die sich auf Symptome beziehen, die im Verlauf der Einnahme aufgetreten sind oder sich verschlechtert haben. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Symptome auch durch eine andere Erkrankung zu erklären sind.

Dieser Fragebogen kann auch durch die Apotheke genutzt werden, um mit Langzeitanwendern ins Gespräch zu kommen und diese zu motivieren, zukünftig auf Benzodiazepine nach Rücksprache mit dem Arzt zu verzichten. Eine sichere Beurteilung kann nur durch weiterführende Gespräche mit dem Arzt erfolgen. Niemals dürfen Benzodiazepine und Non-Benzodiazepine (Zolpidem, Zopiclon, Zaleplon) schlagartig abgesetzt werden!

Der Fragebogen kann unter DAZ.plus/Dokumente zur Verfügung.


Fragebeispiele:

Erleben Sie eine Abschwächung Ihrer Gefühle bis hin zu einer depressiven Verstimmung?

□ überhaupt nicht 0 Punkte

□ ein wenig 1 Punkt

□ ziemlich 2 Punkte

□ stark 3 Punkte

□ sehr stark 4 Punkte


Ist Ihre Konzentrations- und/oder Merkfähigkeit gestört?

□ überhaupt nicht 0 Punkte

□ ein wenig 1 Punkt

□ ziemlich 2 Punkte

□ stark 3 Punkte

□ sehr stark 4 Punkte


Schwanken Ihre Gefühle innerhalb eines Tages deutlich?

□ überhaupt nicht 0 Punkte

□ ein wenig 1 Punkt

□ ziemlich 2 Punkte

□ stark 3 Punkte

□ sehr stark 4 Punkte


Leiden Sie unter Schlafstörungen?

□ überhaupt nicht 0 Punkte

□ ein wenig 1 Punkt

□ ziemlich 2 Punkte

□ stark 3 Punkte

□ sehr stark 4 Punkte


Der Patient kreuzt die für ihn zutreffende Antwort an und zählt die Punktzahl zusammen. Die Auswertung erfolgt durch den Patient oder den Apotheker anhand der errechneten Punkte direkt mit dem Fragebogen.


0 – 12 Punkte:

Noch keine sicheren, typischen Folgeerscheinungen. Sie sollten die Gefahren der Langzeiteinnahme kennen (die in den Fragen angesprochenen Veränderungen) und sich über alternative Behandlungen informieren. Entscheiden Sie dann mit Ihrem Arzt, wie weiter vorzugehen ist.


13 – 24 Punkte:

Die Summe der Veränderungen kommt wahrscheinlich von der Einnahme der Benzodiazepine/Non-Benzodiazepine. Die Fortführung der Einnahme ist problematisch. Das Absetzen der Medikamente ist anzuraten, die Weiterverschreibung sollte auf jeden Fall befristet werden. Sprechen Sie mit Ihrem Arzt.


25 und mehr Punkte:

Die Veränderungen kommen mit hoher Wahrscheinlichkeit von der Langzeiteinnahme der Benzodiazepine/Non-Benzodiazepine. Ein ambulanter oder stationärer Entzug ist Ihnen dringend anzuraten. Sprechen Sie mit Ihrem Arzt.



DAZ 2012, Nr. 45, S. 34

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