Arzneimittel und Therapie

Zum Nutzen und Risiko von Massenimmunisierungen

Welche Nebenwirkungen kommen wie häufig vor?

Massenimpfungen gegen Erreger altbekannter Erkrankungen wie Masern, Mumps und Röteln in der Pädiatrie oder neu entdeckter Viren wie H1N1 gehören in der modernen Medizin zur üblichen Vorgehensweise. Immer wieder gibt es Schlagzeilen zu sogenannten Impfzwischenfällen, die sich im modernen Kommunikationssystem schnell verbreiten und zu einer gewissen Impfmüdigkeit führen. Eine dänische Kohortenstudie gibt nun eine Hilfestellung zur Risikobewertung von Nebenwirkungen, die möglicherweise nach Massenimpfungen auftreten.

Ziel der Studie war die Erfassung von speziellen Symptomen, zu denen es nach Immunisierungen kommen kann, die aber nicht zwanghaft aus der Impfung resultieren. Sie liefert eine Hilfestellung zur Evidenz-basierten Risikobewertung von Massenimpfungen bei Kindern.

Als eine Studie [Wakefield et al, Lancet, 1999] den Hinweis darauf gab, dass es einen Zusammenhang zwischen der MMR-Impfung und dem Risiko für Autismus gebe, wirkte sich das negativ auf die Impfraten aus, und es folgte ein überdurchschnittlicher Ausbruch von Masern [Jansen et al., Science 2003]. Als während des saisonalen Grippe-impfprogramms 2006 in Israel vier Menschen innerhalb von 24 Stunden nach der Impfung starben, wurde das gesamte Programm gestoppt. Eine spätere Analyse ergab, dass diese vier Patienten sowieso ein erhöhtes Risiko für einen plötzlichen Herztod hatten [Kokia et al., 2007]. Die plötzliche pandemische Verbreitung des H1N1 Influenza-A-Virus 2009 führte zu einer sehr schnellen Entwicklung und Zulassung des monovalenten, abgeschwächten Lebendimpfstoffes, während die Erfassung dessen Toxizität jedoch noch gar nicht abgeschlossen war. Auch Kinder und Jugendliche wurden in den meisten Ländern mit diesem neuen Impfstoff geimpft, und Nebenwirkungen wie Guillain-Barré-Syndrom, Neuritis, multiple Sklerose, Epilepsie oder Anaphylaxie traten auf. All das führte sowohl in der Bevölkerung als auch bei Ärzten zu einer gewissen Unsicherheit.

Die aktuelle Kohortenstudie erfasste alle zwischen Januar 1980 und Dezember 2009 in Dänemark zur Welt gekommenen Kinder. 2.300.227 Kinder nahmen teil, das Follow-up betrug 37.262.404 Personenjahre. Die mediane Follow-up-Zeit betrug 16,8 Personenjahre. Die Kinder wurden der in Dänemark standardisierten Grundimmunisierung unterzogen, an der 82,9% der Bevölkerung teilnehmen. Zu den Impfungen gehörten MMR, Polio, zeitweise Diphtherie und Tetanus, in den ersten Jahren auch noch Pertussis, und ab 2009 auch die Impfung gegen das humane Papilloma-Virus. Die Studienteilnehmer wurden vom Tag der Geburt bis zur ersten Einweisung ins Krankenhaus aufgrund einer der folgenden Diagnosen oder bis zum Ende des Follow-up beobachtet. Als Symptome, die möglicherweise als Impfnebenwirkung zu deuten sind, wurden die folgenden gewählt: akute infektiöse oder postinfektiöse Polyneuritis (Guillain-Barré-Syndrom), akute transverse Myelitis, optische Polyneuritis, Fazialisparese, anaphylaktischer Schock, zerebraler Anfall, multiple Sklerose, Typ-1-Diabetes, juvenile und rheumatoide Arthritis, Narkolepsie, Tod durch unbekannten Grund. Erfasst wurden jeweils der Zeitpunkt des Auftretens des Symptoms nach der Impfdosis, das Geschlecht und Alter des Kindes und sogar saisonale Raten, das heißt, von jedem Vorfall war bekannt, in welchem Quartal eines Jahres er aufgetreten war.

Mehr zerebrale Anfälle

Insgesamt kam es während der Studienperiode unter den Teilnehmern unter 18 Jahren zu 73.564 Vorfällen der geprüften Symptome. Dabei gab es deutliche Unterschiede zwischen den Inzidenzen der einzelnen Diagnosen. Die Spanne reichte von 0,32 pro 100.000 Personenjahre für autoimmune Thrombozytopenie bis zu 189,82 Fällen pro 100.000 Personenjahre für zerebrale Krampfanfälle. Niedrige Inzidenzraten zeigten sich auch bei der akuten transversalen Myelitis (0,36), der Narkolepsie (0,48), der optischen Polyneuritis (0,60) und dem Guillain-Barré-Syndrom (0,67). Dagegen zeigten sich auch bei juveniler und rheumatoider Arthritis (16,73) und Typ-1-Diabetes (17,71) recht hohe Inzidenzraten, jeweils pro 100.000 Personenjahre. Deutliche Unterschiede gab es jeweils in den Verteilungen von Geschlecht und Alter. Außerdem fielen besonders beim Auftreten von multipler Sklerose und anaphylaktischem Schock saisonale Unterschiede auf, mit höheren Raten im Winter bzw. Herbst. Anhand der Daten dieser Kohortenstudie errechneten die Forscher die Wahrscheinlichkeiten, mit denen es in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Impfung in einer hypothetischen Impfpopulation zu den jeweiligen Symptomen kommen würde. Beispielsweise ergäben sich bei 1.000.000 geimpften Personen < 18 Jahre innerhalb von 42 Tagen nach der Impfung 20 Fälle von Diabetes mellitus, 19 von juveniler oder rheumatoider Arthritis, acht von Fazialisparese und fünf von multipler Sklerose. Anders sieht es mit den Wahrscheinlichkeiten innerhalb von 24 Stunden nach der Impfung aus. Hier prädominieren besonders die zerebralen Anfälle, die in 218 Fällen von 1.000.000 geimpften Personen auftreten würden.

Aussagekraft und Grenzen

Einige Fragen bleiben von dieser Studie unbeantwortet. So gab es keine Informationen darüber, in welchem Umfang die Influenza-Impfung während der Hauptbeobachtungszeit der Studie von den Probanden angenommen wurde. Außerdem ist kritisch anzumerken, dass die Symptomerfassung nur in Krankenhäusern erfolgte, und Zielsymptome, die außerhalb der Klinik aufgetreten wären, gar nicht erfasst worden wären. Außerdem wurden unterschiedliche Rassen nicht erfasst und ob ein Symptom beim gleichen Patient eventuell mehr als einmal auftrat. In Zeiten öffentlichen Misstrauens gegen Impfungen und einer geringen Akzeptanz derselben bietet diese Studie aber zumindest reichlich Informationsmaterial, um Evidenz-basiert Nutzen und Risiko neu eingeführter Impfstoffe bewerten zu können.


Quelle

Rasmussen TA. et al.: Use of population based background rates of disease to assess vaccine safety in childhood and mass immunization in Denmark: nationwide population based cohort study. BMJ (2012) 345: 1 – 12. e5823 doi: 10 1136/bmj e5823.


Apothekerin Dr. Annette Junker



DAZ 2012, Nr. 44, S. 45

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