DPhG-Jahrestagung

DPhG-Tagung in Greifswald

Bessere Arzneimittel – mehr Sicherheit in der Therapie

Helga Blasius und Claudia Bruhn | Die Jahrestagung 2012 der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft (DPhG) fand vom 11. bis 13. Oktober in Greifswald statt und stand unter dem Motto "Moleküle, Targets und Tabletten". Neben neuen Wirkstoffen und neuen Wirkprinzipien waren innovative Arzneiformen und die Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit die Hauptthemen der Tagung. Nicht ohne Stolz wurden die Erfolge bei der institutionellen Förderung der pharmazeutischen Forschung und ihrer Vernetzung mit anderen Wissenschaften vorgestellt. Der erste Teil des Berichts von der DPhG-Jahrestagung stand im DAZ-Heft Nr. 43.
Prof. Dr. Wolfgang Frieß Foto: Bruhn

Probleme bei Biologika: Aggregate und Partikel in Proteinarzneimitteln

Prof. Dr. Wolfgang Frieß, Inhaber des Lehrstuhls für Pharmazeutische Technologie und Biopharmazie an der Universität München, stellte in seinem Plenarvortrag die neuen analytischen Herausforderungen dar, um unerwünschte Aggregate oder Partikel in gentechnisch hergestellten Arzneimitteln zu entdecken.

Gentechnisch hergestellte Wirkstoffe wie Insulin, Erythropoietin (EPO) oder monoklonale Antikörper sind heute zur Behandlung vieler chronischer Erkrankungen unverzichtbar. Ein zunehmendes Problem stellen jedoch Proteinaggregate und Partikel in derartigen Biopharmazeutika dar. Diese können sich während der Herstellung oder Lagerung der Produkte bilden und beim Patienten eine Immunantwort auslösen. Als Beispiel nannte Frieß eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung (Seidl A. Pharm Res 2012; 29(6): 1454 – 67), die gezeigt hat, dass Natriumwolframat in einem EPO-Produkt zur Denaturierung des Wirkstoffs und nach der Applikation zur Bildung neutralisierender Antikörper beim Patienten geführt hatte. Das Natriumwolframat war bei der Herstellung der Spritzen, mit denen EPO verabreicht wird, verwendet worden.

Auch bei den monoklonalen Antikörpern werden häufig neutralisierende Antikörper oder Anti-Drug-Antiköper (ADA) beobachtet. Dies hat Konsequenzen für das Ansprechen auf die Therapie, wie das Beispiel Adalimumab besonders eindrucksvoll zeigt.

Nicht immer liegt die Ursache für unerwartete Immunreaktionen im Herstellungsprozess. So kann beispielsweise ein genetisch bedingter Verlust der B- und T-Zelltoleranz dazu führen, dass das Immunsystem auch humane therapeutische Proteine als fremd ansieht und eine Immunreaktion auslöst.


Foto: Blasius

Zulassungsbehörden erteilen Auflagen

Zulassungsbehörden wie die FDA und die EMA haben inzwischen verschiedene Richtlinien veröffentlicht, nach denen die Hersteller die Immunogenität ihrer Proteinarzneimittel überprüfen sollen. Mit speziellen Methoden sollen sie auch makroskopisch unsichtbare Partikel (subvisible particles, 200 nm bis 200 µm) und Aggregate quantitativ und qualitativ (z. B. hinsichtlich Größe, Gestalt, Bindungszustand und Proteinkonformation) bestimmen.

Frieß erläuterte, dass nicht alle denkbaren Partikel oder Aggregate in einem Arbeitsgang analytisch erfasst werden können. Stattdessen müssen viele verschiedene Verfahren zum Einsatz kommen, beispielsweise die Größenausschlusschromatografie, die analytische Ultrazentrifugation, die Resonanzmassenbestimmung oder die Elektronenmikroskopie. Jedes Verfahren bietet in einem bestimmten Anwendungsgebiet sowohl Vorteile als auch Nachteile.

Ein modernes System mit der Bezeichnung Archimedes erlaubt eine besonders genaue Bestimmung von Partikelmasse und -größe. Die Probe wird dabei durch einen Mikrokanal geleitet und in Schwingungen versetzt, deren Frequenz sich bei Anwesenheit von Partikeln ändert.

Noch viel Forschungsarbeit ist notwendig, so Frieß, um einerseits die Ursachen für die Entstehung von Aggregaten und Partikeln in Proteinarzneimitteln zu finden und andererseits deren Immunogenität beim Patienten abzuschätzen.


Foto: Blasius

Was schnell im Mund zerfällt

In der Session "Spezielle Darreichungsformen" stellten zwei Referenten innovative orale Arzneiformen vor, die teilweise bereits erfolgreich im Einsatz sind. Zwei weitere Vorträge erörterten die Applikation von Arzneistoffen in Form von Nanopartikeln bzw. mithilfe von injizierbaren Hydrogelen.

Über orodispersible Arzneiformen berichtete Prof. Dr. Jörg Breitkreutz, Düsseldorf. Für ihn sind sie die oralen Darreichungsformen der Zukunft. Es handelt sich um Formulierungen, die in der Mundhöhle schnell zerfallen und dabei entweder den Arzneistoff selbst oder partikuläre Wirkstoffträger freisetzen. Zunächst nur Nischenprodukte, haben sie heute eine große Bedeutung erlangt, vor allem für "Problempatienten" wie Kinder, Senioren und Patienten mit Schluckstörungen und Transportstörungen im Magen-Darm-Trakt, denn sie kombinieren beim Einnehmen die Vorteile fester und flüssiger Darreichungsformen. Sie sind lange haltbar, obwohl sie normalerweise keine Konservierungsstoffe oder Antioxidanzien enthalten, lassen sich präzise dosieren und setzen den Wirkstoff schnell frei.

Während Lyophilisate zum Einnehmen und orodispersible Tabletten (ODTs; Schmelztabletten) in der Therapie bereits gut etabliert sind – in den USA machen ODTs derzeit 50% aller Entwicklungen aus – , sind orodispersible Filme (ODFs; Schmelzfilme) und orodispersible Minitabletten (ODMTs) in Europa und für den deutschen Markt erst in jüngster Zeit zugelassen. ODFs wurden erst 2012 ins Europäische Arzneibuch aufgenommen (revidierte Monografie "Zubereitungen zur Anwendung in der Mundhöhle" im Nachtrag 7.4; die deutsche Ausgabe erscheint demnächst).

Technologisch wurden bei Schmelztabletten in der letzten Zeit allem durch die Entwicklung von Hilfsstoff-Fertigmischungen (wie Ludiflash®, Pharmaburst®, Pearlitol Flash® oder Parteck® ODT) große Fortschritte gemacht, aber die Zerfallszeiten sind meist erheblich länger als bei Lyophilisaten zum Einnehmen. Dagegen haben die Letzteren den Nachteil, dass sie sehr hygroskopisch und fragil sind. Zudem ist es für motorisch behinderte Patienten (z. B. mit M. Parkinson) schwierig, die Verpackung zu öffnen.

Breitkreutz und seine Arbeitsgruppe beschäftigen sich mit orodispersiblen Minitabletten mit einem Durchmesser von nur 2 mm und einer Masse von 7 bis 8 mg. Da sie nur maximal 2,5 mg Wirkstoff aufnehmen können, eignen sie sich vornehmlich für hochwirksame Wirkstoffe. Ihre Zerfallszeit ist mit lediglich 5 Sekunden sehr ähnlich wie die der oralen Lyophilisate.

Schmelzfilme wurden zunächst für den Lebensmittelbereich entwickelt. Das erste Produkt auf dem deutschen Arzneimittelmarkt war Risperidon Hexal Schmelzfilm (2010). Die Herstellung ähnelt derjenigen von transdermalen therapeutischen Systemen. Ein neuer technologischer Ansatz sind Schmelzfilme, bei denen der Arzneistoff mit einem Tintenstrahldrucker aufgebracht wird. Breitkreutz hat bei seinen Experimenten gute Erfahrungen mit dem Flexografiedruck gemacht. Das Ergebnis sind Schmelzfilme, die optisch einem Maler-Kreppband ähneln.


Session Spezielle Darreichungsformen mit (von links): S. Kirchhof, M. Rischer, Prof. Dr. S. Klein (Chair), M. Neumann, Prof. Dr. J. Breitkreutz. Foto: Blasius

Was länger im Magen verbleibt

Die Herausforderungen der Entwicklung gastroretentiver Arzneiformen schilderte Marco Neumann, Universität Greifswald. Sie sollen über eine verzögerte Magenpassage eine kontrollierte Freisetzung erwirken. Die Vorteile der Gastroretention bestehen in einer verbesserten Bioverfügbarkeit, niedrigeren Wirkstoffdosen, einer Reduktion der Verabreichungsfrequenz und einer besseren Patientencompliance.

In den letzten Jahrzehnten wurden verschiedene gastroretentive Formen entwickelt, die sich in vier Kategorien gliedern lassen:

  • Flotierende Systeme, die auf dem Mageninhalt schwimmen,
  • Mukoadhäsive Systeme, die an der Magenschleimhaut haften,
  • Systeme mit hoher Dichte, die sich in der Magenhöhle (Antrum) ablagern und
  • auffaltende oder expandierende Systeme, die im Magen an Größe zunehmen und daher den Magenpförtner (Pylorus) nicht passieren können.

Neumann beschäftigt sich mit der letzten Kategorie und entwickelt Darreichungsformen auf Basis schnell aufquellender hydrophiler Polymere für den antiviralen Arzneistoff Aciclovir. Dieser zeigt eine pH-Wert-abhängige Freisetzung und eine geringe Bioverfügbarkeit von lediglich 10 bis 20% (BCS-Klasse III/IV), weil er nur ein kleines Resorptionsfenster im oberen Dünndarm hat.

Eine Darreichungsform mit einer pH-Wert-unabhängigen kontrollierten Freisetzung in 8 bis 12 Stunden hat Neumann bereits hergestellt. Er hat deren Quellverhalten, Wasseraufnahme und flotierende Eigenschaften in vitro charakterisiert, was jedoch noch keine Vorhersage der tatsächlichen Gastroretention erlaubt. Auch Tierversuche können hierfür nur bedingt herhalten. Am menschlichen Magen-Darm-Trakt werden Daten gewöhnlich mittels γ-Szintigrafie, Röntgen, Endoskopie, Magnetresonanztomografie (MRT) und Magnetic Marker Monitoring (MMM) erhoben. Als biorelevante Testmethode versucht Neumann nun ein mechanisches Magen-Modell zu entwickeln, das die Druckverhältnisse im Magen und die "Putzwellen" (housekeeping waves) bei der Magenentleerung simuliert.

Was besonders fein verteilt ist

Über die Vorteile innovativer Darreichungsformen mit Nanopartikeln hinsichtlich der Verabreichung und der Pharmakokinetik berichtete Dr. Matthias Rischer von der Losan Pharma GmbH in Neuenburg am Rhein.

Es gibt mehrere Verfahren zur Herstellung von Nanopartikeln, wobei Rischer Top-down-Prozesse wie die Nassmahlung in Gegenwart von Mahlkugeln oder die Hochdruckhomogenisierung präferiert. Er setzt zwei Technologien ein:

  • NUXFR, d. h. Nano Unit Fast Release (Nanopartikel in Granulat/Tablette mit schneller Freisetzung) und
  • NUXSR, d. h. Nano Unit Sustained Release (Nanopartikel in Granulat/Pellet/Tablette mit verzögerter Freisetzung).

Die Prozessschritte der NUX-Technologie bestehen in der Nanomahlung, Wirbelschichtgranulierung (Layering, Trocknung) und anschließender Tablettierung oder Abfüllung in Kapseln oder Sticks.

Orale und parenterale Darreichungsformen mit Nanopartikeln spielen in der Forschung seit mehr als zehn Jahren eine große Rolle und haben heute in der präklinischen und klinischen Entwicklung für neue Wirkstoffe und Life-cycle-Projekte einen hohen Stellenwert erreicht. Gründe für die rasante Zunahme sind Optionen für neue Applikationsformen, die schnelle pharmakologische Testung am Tier, die hohe In-vitro-In-vivo-Korrelation, die hohe Bioverfügbarkeit (d. h. geringe therapeutische Dosis) und nicht zuletzt das Auslaufen relevanter Patente. Dennoch haben es bisher erst wenige Applikationsformen mit Nanopartikeln bis zur Marktreife geschafft. Beispiele sind Lipidil One® (Fenofibrat, 1998 zugelassen), Rapamune® (Sirolimus, 1999) und Emend® (Aprepitant, 2003).

Was exzellent vernetzt ist

Susanne Kirchhof entwickelt an der Universität Regensburg neue Arzneiformen, die aus Hydrogelen als Trägerstoff und Proteinen als Arzneistoff bestehen.

Hydrogele haben in der Pharmazie und auch in der Medizintechnologie zahlreiche Anwendungen gefunden. Sie dienen als dermale Füllstoffe und Weichteil-Implantate in der kosmetischen Chirurgie, als dreidimensionale Gerüste zur Förderung der Stammzelldifferenzierung bei Zelltransplantationen sowie als injizierbare Carrier für die lokale Freisetzung von Peptiden und Proteinen.

Kirchhof konzentriert ihre Untersuchungen auf die Entwicklung injizierbarer Hydrogele als lokale Freisetzungssysteme für Proteine, z. B. zur Behandlung der altersbedingten Makuladegeneration, die normalerweise eine einmal monatliche intraokulare Injektion erfordert.

Für die Vernetzung von Hydrogel und Wirkstoff und dessen verzögerte Freisetzung in seiner aktiven Form müssen geeignete Reaktionen gefunden werden. Dabei sind die Dichte der Vernetzung, der Abbau des Hydrogels und etwaige Protein-Polymer-Interaktionen zu berücksichtigen. Bisherige Systeme erfüllen alle diese Voraussetzungen nur teilweise.

Auf der Suche nach einer adäquaten Vernetzungsreaktion, mit der schnell und zuverlässig eine einheitliche Netzwerkarchitektur erzielt werden kann, hat sich bei Kirchhofs Experimenten die Diels-Alder-Reaktion als typische "Click-Reaktion" als optimal erwiesen. Sie läuft unter milden Reaktionsbedingungen ab, erfordert keine Katalysatoren und Initiatoren, ermöglicht eine exzellente Kontrolle über die Maschenweite, und bei pH-Werten < 7 zeigen sich keine Quer-Reaktionen mit inkorporierten sensitiven Wirkstoffen wie Peptiden, Proteinen oder lebenden Zellen.

Als Rohmaterial wird verzweigtes Polyethylenglykol verwendet, das mit Furyl- und Maleimid-Gruppen funktionalisiert wird, woraus sich zwei komplementäre Typen von Makromonomeren ergeben, 4-Arm-PEG-Hydrogel und 8-Arm-PEG-Hydrogel. Mischungen der beiden Typen erzeugen innerhalb weniger Minuten hochelastische Gele mit einer geringen Quellfähigkeit. Prüfungen auf rheologische Eigenschaften, Quellfähigkeit und Abbaubarkeit haben bereits vielversprechende Ergebnisse geliefert.

Fortschritte durch neue oralen Antikoagulanzien (NOA)

In der Session Thrombozytenfunktion und Gerinnung gab Prof. Dr. Susanne Alban, Universität Kiel, einen Überblick über die neuen oralen Antikoagulanzien und wichtige Anwendungsaspekte.

Thromboembolische Erkrankungen wie Herzinfarkt, Schlaganfall und Lungenembolie zählen zu den häufigsten Todesursachen in der westlichen Welt. Während jahrzehntelang nur Phenprocoumon (z. B. Marcumar®) und Warfarin (Coumadin®) für die Langzeit-Antikoagulation zur Verfügung standen, hat sich die Situation durch die Zulassung der neuen oralen Antikoagulanzien (NOA) deutlich verbessert: 2008 wurden der direkte Thrombininhibitor Dabigatran (Pradaxa®) und der erste direkte Faktor-Xa-Inhibitor Rivaroxaban (Xarelto®) zugelassen. 2011 folgte Apixaban (Eliquis®), Edoxaban befindet sich in der Phase III der klinischen Prüfung. In Japan ist der Wirkstoff unter dem Handelsnamen Lixiana® bereits zugelassen. Edoxaban und Apixaban sind wie Rivaroxaban direkte Faktor-Xa-Inhibitoren (Indikationen siehe Tab. 1).


Tab. 1: Indikationen der neuen oralen Antikoagulanzien (OAK), Stand 05/2012 (Xarelto® und Eliquis®) bzw. 08/2012 (Pradaxa®)

OAK, Name

Hersteller
Rivaroxaban, Xarelto®
Bayer
Dabigatran, Pradaxa®
Boehringer Ingelheim
Apixaban, Eliquis®
Pfizer/Bristol-Myers Squibb
Indikationen
Behandlung von tiefen Venenthrombosen (TVT); Prophylaxe von rezidivierenden TVT und Lungenembolien nach akuten TVT bei Erwachsenen
Prävention von Schlaganfall und systemischer Embolie bei Patienten mit nicht valvulärem Vorhofflimmern und Risikofaktoren
Prophylaxe venöser Thromboembolien nach elektiven Hüft- oder Kniegelenksersatz-OPs


Die Vorteile der NOA liegen im schnellen On- und Offset der Wirkung, in einer vorhersagbaren Pharmakokinetik wegen geringer inter- und intraindividueller Schwankungen und einem breiten therapeutischen Fenster, erläuterte Alban. INR-Bestimmungen wie bei den Vitamin-K-Antagonisten sind daher nicht notwendig.

Beratung für die Anwendung von NOA

Weil Dabigatran in großen, womöglich schwer zu schluckenden Kapseln verpackt ist, muss der Apotheker die Patienten aufklären, dass sie die Kapseln keinesfalls öffnen dürfen, um nur deren Inhalt zu schlucken, denn dann würde die Bioverfügbarkeit sprunghaft ansteigen. In Blister verpackte Kapseln sollen nicht durch die Blisterfolie gedrückt, sondern die Folie soll vorsichtig abgezogen werden. Wegen der Hydrolyseempfindlichkeit darf dies erst kurz vor der Anwendung geschehen.

Da Rivaroxaban lipophil ist, sollte es zu einer Mahlzeit eingenommen werden. Für die 20 mg-Filmtablette wurde gezeigt, dass die AUC bei Einnahme mit einer Mahlzeit um 39% größer war als nach Nüchterneinnahme. Auch bei der 15 mg-Tablette verbessert die Einnahme mit einer Mahlzeit die Bioverfügbarkeit; bei der 10 mg-Dosis hingegen beeinflusst die Einnahmeart die AUC nicht.

In Umsetzung der Pharmakovigilanzrichtlinie haben die Hersteller von NOA spezielle Ratgeber für Ärzte entwickelt. Darin sind alle Inhalte der Fachinformationen noch einmal aufbereitet und mit Bildern illustriert. "Ärzte lesen keine Fachinformationen", wusste Alban zu berichten. Daher tragen diese Ratgeber zweifellos zur Erhöhung der Arzneimittelsicherheit bei.

Analog zu den Vitamin-K-Antagonisten gibt es auch bei den NOA Patientenausweise. Dies ist keine Marketingmaßnahme der Pharmaindustrie, sondern ebenfalls ein Beitrag zur Erhöhung der Arzneimittelsicherheit, betonte die Referentin.


Das Gebäude der Biochemie der Universität Greifswald im frühherbstlichen Sonnenschein. Foto: Blasius

Pharmakometrie als Schnittstelle zwischen Pharmazie und Mathematik

Die in der Wirkstoffforschung angewendeten Modelle und Simulationsmethoden haben sich dank verbesserter Computertechnik in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt. Ein Beispiel dafür ist die Pharmakometrie, eine Disziplin an der Schnittstelle zwischen Pharmazie und Mathematik. Zu ihren Zielen zählt die Charakterisierung sowie auch Vorhersage der Pharmakokinetik und Pharmakodynamik von Arzneistoffen

Wie Junior-Prof. Dr. Thorsten Lehr von der Universität des Saarlandes in seinem Vortrag berichtete, hat die Pharmakometrie unter dem Fachbegriff modellbasierte Arzneimittelentwicklung inzwischen auch Eingang in den Zulassungsprozess von Arzneimitteln gefunden. So waren beispielsweise bei der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA zwischen 2000 und 2008 198 Einreichungen mit pharmakometrischen Inhalten registriert.

Pharmakometrische Methoden kommen in allen Phasen der AM-Entwicklung zum Einsatz, betonte Lehr. Die Spannbreite ist groß, und welches der verfügbaren Modelle verwendet wird, hängt von der jeweiligen Fragestellung ab.

So können mithilfe mathematischer Modelle geeignete Wirkstoffdosierungen ermittelt oder die Wahrscheinlichkeit von Wechselwirkungen berechnet werden. Es ist möglich, Einflussfaktoren wie Alter oder Geschlecht zu variieren, um herauszufinden, welcher Faktor klinisch relevant ist. So können pharmakometrische Modelle beispielsweise auch für die Begründung pädiatrischer Indikationen hilfreich sein.

Ein Beispiel dafür, dass das Ergebnis einer pharmakometrischen Analyse Eingang in die Fachinformation gefunden hat, ist das neue orale Antikoagulans Pradaxa® , wo Angaben zu Wechselwirkungen des Wirkstoffes Dabigatran, z. B. mit Verapamil und Amiodaron, auf pharmakometrischen Analysen beruhen.

Arzneimitteltherapiesicherheit als Zukunftsperspektive für die Pharmazie

Die Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) entwickelt sich zunehmend zu einem eigenständigen interdisziplinären Arbeitsgebiet, das zwischen Medizin, Pharmazie, Epidemiologie und Versorgungsforschung angesiedelt ist. Die Referenten der Session "Optimierte Patientenversorgung" auf der DPhG-Jahrestagung vermittelten anhand zahlreicher Beispiele, wie notwendig AMTS-Forschung ist und welche Zukunftsperspektiven sie für die wissenschaftliche und praktische Pharmazie bietet.

Prof. Dr. Ulrich Jaehde, Universität Bonn, bezeichnete die Arzneimitteltherapie als einen Hochrisikoprozess, der allen Beteiligten hohe Aufmerksamkeit abverlangt. Er wies darauf hin, dass es vonseiten der Zulassungsbehörden strenge und umfangreiche Anforderungen an die Sicherheit eines Arzneimittels gibt, während es zur Gewährleistung der AMTS von der Abgabe bis zur Anwendung eines Arzneimittels kaum systematische Ansätze gibt. Hierbei können viele Fehler passieren, z. B. Überdosierungen oder Interaktionen mit anderen Arzneistoffen. Organschäden oder sogar Todesfälle können die Folge sein. Viele unerwünschte Ereignisse sind durch "Sicherheitsbarrieren" im Medikationsprozess vermeidbar. Bei der Verordnung, der Abgabe, der Applikation und auch beim Monitoring kann theoretisch eingegriffen werden, um sie zu verhindern.

Politik hat das Problem erkannt

Um die Situation für Patienten in Deutschland zu verbessern hat das Bundesministerium für Gesundheit bereits 2008 einen "Aktionsplan zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) in Deutschland" veröffentlicht. 2010 folgte die zweite Auflage, die dritte wird derzeit vorbereitet. Der Aktionsplan ist in fünf Schwerpunkte gegliedert:

1. Etablierung einer Sicherheitskultur in den Fachkreisen unter Einbeziehung der Patienten

2. Verbesserung der Informationen über Arzneimittel

3. Entwicklung und Einsatz von Strategien zur Risikovermeidung bei der Anwendung von Arzneimitteln

4. Förderung der Forschung auf dem Gebiet der AMTS

5. Organisation eines kontinuierlichen Prozesses zur Umsetzung und Fortschreibung des Aktionsplanes.

Im Vergleich zu Australien und Amerika, wo die AMTS-Forschung bereits viel weiter fortgeschritten ist, gibt es in Deutschland nach Jaehdes Ansicht noch zu wenige Projekte. Die Klinische Pharmazie an der Universität Bonn zählt hier zu den Vorreitern. Sie hat beispielsweise in Kooperation mit der Apothekerkammer Nordrhein eine Studie zum UAE-Check (UAE: unerwünschte Arzneimittelereignisse) bei älteren, multimorbiden Patienten in öffentlichen Apotheken durchgeführt. Dafür wurde ein einfacher Dokumentationsbogen entwickelt, dessen Ausfüllen nur etwa fünf Minuten dauert. Beteiligt waren sechs Apotheken und 162 Patienten; 153 Bögen konnten ausgewertet werden, 148 UAE wie Juckreiz oder Herzbeschwerden wurden dokumentiert. Eine größere Studie soll sich hieran anschließen.

Das Problem bei solchen Projekten, so Jaehde, ist die unzureichende Nachhaltigkeit: Wenn das Projekt beendet ist, die Studierenden nicht mehr zur Verfügung stehen oder der Doktorand seine Promotion abgeschlossen hat, verschwindet auch das jeweilige Angebot.

In einem Projekt zur ambulanten Pharmazeutischen Betreuung von Patientinnen mit Mamma- oder Ovarialkarzinom (Liekweg A et al. Support Care Cancer 2012; 20: 2669) profitierten die individuell betreuten Teilnehmerinnen deutlich. So zeigte sich beispielsweise bei ihnen eine signifikant höhere Lebensqualität als in der Kontrollgruppe. Signifikant mehr Patientinnen der Interventionsgruppe sprachen zudem auf die Emesisprophylaxe an.

AMTS in Alten- und Pflegeheimen

Prof. Dr. med. Petra A. Thürmann, Helios Klinikum Wuppertal, machte in ihrem Vortrag darauf aufmerksam, dass Bewohner von Alten- und Pflegeheimen ein besonders hohes Risiko für unerwünschte Arzneimittelereignisse (UAE) besitzen. Nicht nur die häufige Polymedikation, vor allem mit psychotropen Substanzen, sondern auch ein hoher Anteil von dementen Patienten (60 bis 70%) prädestinieren dafür.

Da es bisher kaum Studien zur Häufigkeit und Schwere von UAE in Alten- und Pflegeheimen gab, finanzierte das Bundesgesundheitsministerium eine entsprechende Querschnittsanalyse von 778 Bewohnern in elf Pflegeheimen. Bei insgesamt 80 Bewohnern wurden UAE festgestellt, die zu rund 60% vermeidbar gewesen wären, z. B. durch das rechtzeitige Erkennen von Frühwarnzeichen. Thürmann hob hervor, dass sich dabei die Zusammenarbeit von geschulten Pflegekräften und klinischen Pharmazeuten als sehr vorteilhaft erwiesen hat.

Geplant ist nun eine größere prospektive randomisierte Studie mit ca. 1000 Heimbewohnen in zwei verschiedenen Regionen Deutschlands, deren primärer Endpunkt die Reduktion von UAE durch derartige Intervention ist.


Session Arzneimittelüberwachung/Regulatory Affairs mit (von links): Dr. A. Funke, Dr. O. Queckenberg (Chair), PD Dr. K. Raith (Chair), Dr. N. Schramek. Foto: Blasius

Arzneimittelüberwachung: Neue Ansätze zur Mutagenitätsbewertung

In der Session Arzneimittelüberwachung/Regulatory Affairs kamen verschiedene Aspekte der pharmazeutischen Qualität und der Analytik von Arzneimitteln zur Sprache. So gehören genotoxische Verunreinigungen von Arzneimitteln zum essenziellen Prüfspektrum innerhalb des Zulassungsverfahrens. Leitlinien der International Conference on Harmonization (ICH) schreiben vor, dass zur Bewertung der Mutagenität in der Regel in der ersten Stufe ein Ames-Test erforderlich ist. Dr. Andreas Sutter, Leverkusen, gab einen Einblick in die Entwicklung alternativer Bewertungsmodelle mithilfe der In-silico-Toxikologie (Computer-gestützte Toxikologie). Diese umfassen Ansätze, die die quantitative Struktur-Wirkungs-Beziehung eines Moleküls bewerten (QSAR, Quantitative Structure-Activity Relationship). Sutter ist federführend an der Erarbeitung eines White Paper beteiligt, das derzeit auf seine Nutzbarkeit zur Erfüllung der ICH-Vorgaben geprüft wird.

Bei der korrelativen QSAR wird ein Molekül in aktive und inaktive Fragmente zerlegt und bekannten Strukturen zugeordnet. Wenn sich hieraus keine Mutagenitätsvermutung ableiten lässt, sollen keine weiteren Prüfungen (z. B. Ames-Test) erforderlich sein. Gegebenenfalls kann oder muss noch weiteres Expertenwissen hinzugezogen werden.

Zur Evaluierung der in der pharmazeutischen Industrie angewendeten Prozesse wurden in Europa und in den USA verschiedene Ringstudien durchgeführt, in denen sich für die Methodik eine negative Prädiktivität und Sensitivität ähnlich dem Ames-Test gezeigt hat. Das White Paper soll Ende des Jahres eingereicht werden. Im Falle der Annahme ist mit einer Verabschiedung im Jahr 2013 zu rechnen.

Systematische Entwicklung von Herstellungsprozessen

Dr. Adrian Funke, Berlin, skizzierte eine Kontrollstrategie für das Beschichten einer Arzneiform mit einem Wirkstoff (active coating), basierend auf einer systematischen Prozessentwicklung und Prozessanalytik (PAT) mithilfe der In-line-NIR und der Raman-Spektroskopie – ein Beispiel für das Konzept des "Quality by Design" (QbD; s. Kasten).


Quality by Design (QbD)


Definition nach ICH Q8

Systematischer Entwicklungsansatz, der mit vordefinierten Zielsetzungen beginnt, der Produkt- und Prozessverständnis sowie Prozesskontrolle, basierend auf solider wissenschaftlicher Basis und auf Grundlage von Qualitätsrisikomanagement, hervorhebt.


Das Beispiel betraf eine Kombination der Arzneistoffe Candesartan-cilexetil und Nifedipin, beide mit einer intendierten unterschiedlichen Freisetzung, was nur über ein "active coating" des schnell freisetzenden Wirkstoffs zu realisieren ist. Das Beschichten ist ein kritischer Schritt, denn dabei muss die Gleichförmigkeit des Gehalts sichergestellt werden. Um diese zu erreichen, müssen die Prozesse sehr gut definiert und der Endpunkt klar erkennbar sein. Prozessual betrachtet, handelt es sich um eine Nicht-Standard-Applikation einer Standard-Unit-Operation.

Im Rahmen des "Quality by Design" wurden die folgenden fünf relevanten Faktoren ermittelt: Trommelbeladung, Drehgeschwindigkeit der Trommel, Sprühdruck, Sprührate und Sprühzeit. Die Faktoren sollten unabhängig voneinander zu betrachten sein. Je genauer die Gleichförmigkeit des Gehalts zu bestimmen ist, umso größer ist die Anzahl der zu prüfenden Einheiten (Filmtabletten).

Für den zweiten Faktor, den Endpunkt für die Besprühung, wurde eine Kontrollstrategie entwickelt, die sich der In-line-NIR und der Raman-Spektroskopie als Inprozesskontrolle bedient.

Im Endergebnis führte die Reproduzierbarkeit des "active coating" zu einer Zubereitung, die die vordefinierten Qualitätsanforderungen erfüllt: QbD.

Kontrollen für Gewebe, Zellen und ATMPs

Gewebe und Zellen für die Transplantation eröffnen ein weites Feld für die Behandlung vielfältiger Erkrankungen. GMP-Inspektorin Dr. Isabel Astner, Braunschweig, umriss den regulatorischen Hintergrund für diese spezielle Produktgruppe sowie für Arzneimittel für neuartige Therapien (Advanced Therapy Medicinal Products, ATMPs).

Die gesetzliche Grundlage für Arzneimittel aus Geweben und Zellen sowie ATMPs wurde auf europäischer Ebene gelegt und in Deutschland im Arzneimittelgesetz (AMG), in der Arzneimittel- und Wirkstoffherstellungsverordnung (AMWHV), im Transplantationsgesetz (TPG) sowie in der TPG-Gewebeverordnung (TPG-GewV) implementiert.

Beispiele für Gewebe im Sinne des Arzneimittelgesetzes sind Knochenmark (Stammzellen), Knochen, Knorpel, Sehnen, Bänder, Herzklappen, Augenhornhäute, Keimzellen oder auch Hodengewebe.

Im Jahr 2008 wurden in Deutschland über 150.000 Gewebe transplantiert, überwiegend Hautgewebe (ca. 110.000), die größtenteils importiert wurden. Rund 150.000 Gewebe-Einfuhren standen etwa 94.000 Ausfuhren gegenüber.

Arzneimittel für neuartige Therapien (ATMP) umfassen drei Klassen:

  • Tissue-engineered products (TEPs),
  • Somatische Zelltherapeutika,
  • Gentherapeutika.

Beispiele für ATMPs sind immunkompetente Blutzellen, β-Zellen des Pankreas, genetisch modifizierter, IL-10-sezernierender Lactococcus lactis , Chondrozyten, Keratinozyten und andere Hautzellen sowie Zellen der Augenhornhaut.

Laut Astner befinden sich in diesen Produktgruppen sehr viele Präparate in der Entwicklungspipeline und in der klinischen Prüfung.

Das Spektrum der Überwachungsmaßnahmen in diesem Bereich umfasst die Erteilung von Erlaubnissen für Einrichtungen für Gewebespenden und ‑labors, Gewebe-verarbeitende Betriebe und Prüflabors, Herstellungserlaubnisse für ATMP-Hersteller, die Einfuhr von Geweben und Gewebezubereitungen, Drittlandinspektionen usw.

Zwischenfälle bei der Übertragung von Zellen betreffen z. B. Fehler und Versäumnisse beim Screening auf Krankheitserreger oder auch eine unzureichende Datenerhebung im Bereich der Epidemiologie, wobei solche Zwischenfälle erst seit 2008 systematisch erhoben werden. Bislang sind die Zahlen niedrig.

Illegalen Arzneimitteln auf der Spur

Dr. Nicholas Schramek vom Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit in Oberschleißheim gab einen Einblick in seine Erfahrungen mit der Analytik von illegalen Arzneimitteln. Proben solcher Arzneimittel gehen bei seinem Amt z. B. vom Landeskriminalamt und vom Zoll ein. Die Anzahl der eingeschickten Präparate steigt ständig, und es werden immer häufiger bislang unbekannte Wirkstoffe mit einer immer größeren Bandbreite gefunden. Dies stellt hohe Anforderungen an die Schnelligkeit und Machbarkeit der Analytik.

Als typische Beispiele führte Schramek die Potenzmittel an. Derzeit sind in Deutschland lediglich die drei PDE5-Hemmer Sildenafil, Vardenafil und Tadalafil als Arzneimittel zugelassen. Dagegen wurden aus Proben mittlerweile knapp 60 illegale chemische Abwandlungen bekannter PDE5-Hemmer ermittelt, die analytisch erfasst werden müssen. Dazu wird zunächst ein schnelles Screening mittels DC/HPLC durchgeführt, was einen hohen Durchsatz ermöglicht. Hinweise auf die Art des PDE5-Hemmers liefert die LC/MS, während die Quantifizierung mittels HPLC durchgeführt wird. Zur Absicherung der chemischen Struktur sind häufig NMR-Untersuchungen erforderlich. Leider fehlen hierbei laut Schramek oft die notwendigen Referenzdaten.

Anders als bei den Potenzmitteln findet sich bei illegalen Schlankheitsmitteln eine extreme Vielfalt an Wirkstoffen, darunter: Sibutramin und seine Derivate, Rimonabant, Diuretika, Dinitrophenol, Coffein plus Ephedrin/Synephrin, Fenfluramin und seine Derivate sowie Abführmittel. Auch hier kommt das Labor mit nur einer Methode meist nicht mehr weiter, allerdings sind Datenbanken besser nutzbar, um bekannte Stoffe zu finden.

Schramek wünscht sich für die Zukunft dringend schnellere Screening-Verfahren, adäquate Methodenentwicklungen für die LC/MS und NMR sowie die Nutzung der Diffusion-Ordered Spectroscopy (DOSY) und der Principal Component Analysis (PCM), um den steigenden Anfall an illegalen Proben mit einem hohen analytischen und zeitlichen Aufwand im Labor besser bewältigen zu können.



DAZ 2012, Nr. 44, S. 92

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