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Geriatrische Pharmazie
Selbstmedikation bei Senioren
Möglichkeiten und Grenzen bei verschiedenen Symptomen
Rund zwei Drittel der Selbstmedikationskunden in der Apotheke äußern einen Präparatewunsch, jeder Dritte schildert ein Krankheitsbild. Gerade bei Senioren sind jedoch viele Beschwerden nicht eindeutig: Sie können durch den natürlichen Alterungsprozess bedingt sein, auf leichten Gesundheitsstörungen beruhen oder auf ernsthafte Erkrankungen sowie auf Nebenwirkungen von Medikamenten hinweisen. Daher muss der Apotheker prüfen, ob eine Selbstmedikation überhaupt möglich ist: Sind die Beschwerden auf das Alter zurückzuführen? Lassen sie sich in der Selbstmedikation behandeln? Oder soll der Patient besser einen Arzt aufsuchen?
Symptom: Probleme mit der Blase
Probleme rund um die Blasenentleerung nehmen im fortgeschrittenen Alter zu. Die kompetente Beratung in der Apotheke erschöpft sich jedoch bei Weitem nicht im diskreten Verkauf von Inkontinenzprodukten. Vor allem muss der Apotheker beachten, dass Harninkontinenz ein tabuisiertes Thema ist. Den Betroffenen ist die Blasenschwäche oft so peinlich, dass sie nicht einmal mit ihrem Hausarzt darüber sprechen. Zugleich ist der individuelle Leidensdruck sehr hoch. Nicht selten ist Harninkontinenz auch ein Grund für Pflegebedürftigkeit. Dabei ist Inkontinenz im Alter kein unausweichliches und unabänderliches Schicksal. Die Prävalenz dieses Symptoms nimmt zwar mit steigendem Alter zu – etwa 30% der über 65-Jährigen sollen an Symptomen der Harninkontinenz leiden – , doch betrachten Altersmediziner Inkontinenz nicht als einen Teil des physiologischen Alterungsprozesses.
Grundformen der Harninkontinenz sind
- Dranginkontinenz,
- Stressinkontinenz,
- Überlaufinkontinenz und
- funktionelle Inkontinenz.
Allerdings können auch Mischformen vorkommen. Hinter allen Formen können sich eine Reihe von Erkrankungen und anderen Faktoren verbergen (siehe Tab. 1) [17].
Tab. 1: Einteilung der Harninkontinenz (modifiziert nach [17, 18]) | |
Form |
Ursache |
Dranginkontinenz – gehäufter heftiger Harndrang mit spontanen Blasenentleerungen |
Überaktivität des Detrusors wegen Reizblase, Harnwegsinfekte, ZNS-Erkrankungen |
Belastungsinkontinenz – unfreiwilliger Harnverlust bei erhöhtem abdominellem Druck, etwa beim Niesen, Lachen, Heben, Bücken |
Schwäche von Blasensphinkter und Beckenboden, etwa nach Geburt oder Prostataoperation |
Überlaufinkontinenz – Blasenentleerung bei erhöhtem Druck in der Harnblase |
Obstruktionen durch BPS oder Prostatakarzinom; neurogene Störungen des Detrusors durch anticholinerge Medikamente, bei diabetischer Neuropathie oder Bandscheibenvorfall (Cauda-equina-Syndrom) |
Funktionelle Inkontinenz – bei intakter Anatomie und Physiologie der Harnwege |
Neurologische Erkrankungen (Demenz),
Störungen von Mobilität oder Kognition, fehlende Hilfsmittel, unzureichende Anpassung der Umgebung
|
Bei älteren Patienten ist es daher wichtig, nicht nur diskret Inkontinenzprodukte zu verkaufen, sondern auch darauf hinzuweisen, dass die Ursache der Blasenschwäche ärztlich abgeklärt werden sollte. In einigen Fällen kann die Behandlung der zugrunde liegenden Erkrankung die Blasenentleerungsstörungen verbessern, in anderen Fällen kann eine gezielte therapeutische Intervention die Beschwerden lindern. Dazu gehören beispielsweise physiotherapeutische Übungen zur Stärkung des Beckenbodens bei der Stressinkontinenz oder Arzneimittel zur Behandlung eines benignen Prostatasyndroms [17].
Wenn ältere Kunden in der Selbstmedikation Inkontinenzprodukte oder Präparate verlangen, die für die Indikation Harndrang und Blasenschwäche beworben werden, sollte in der Apotheke auch immer ein Blick auf die eingenommenen Medikamente geworfen werden. Denn einige Arzneimittel können eine Harninkontinenz verursachen oder verstärken. Dazu zählen Diuretika, α-Rezeptoragonisten sowie Arzneistoffe mit anticholinerger Wirkung (etwa Neuroleptika, Antidepressiva, Biperiden), die Harnverhalten und nachfolgend eine Überlaufinkontinenz auslösen können. Calciumantagonisten können durch Flüssigkeitsretention und Nykturie ebenfalls zu einer Inkontinenz beitragen. Paradoxerweise kann diese Nebenwirkung auch bei Anticholinergika wie Oxybutynin auftreten, die zur Behandlung der Dranginkontinenz eingesetzt werden [18]. Wenn Diuretika zur Pharmakotherapie gehören, sollten die Patienten das Arzneimittel möglichst nicht abends einnehmen, um nächtlichen Harndrang zu vermeiden [17].
Ein Miktionsprotokoll, das die Blasenentleerungen, eventuelle Inkontinenzepisoden und die Flüssigkeitszufuhr festhält, kann eine gute Vorbereitung für den Arztbesuch sein. Entsprechende Vordrucke oder Hefte bieten etwa die Hersteller von Präparaten gegen Blasenschwäche oder die Deutsche Kontinenz Gesellschaft ebenso an wie Broschüren zum Thema, die den Einstieg in ein Beratungsgespräch erleichtern können. Wenn Senioren unter Blasenschwäche leiden, sollen sie auf keinen Fall vorsorglich die Trinkmenge reduzieren. Denn damit verstärkt sich die Gefahr einer Exsikkose, was weitere Probleme mit sich bringt [17].
Bei geriatrischen Patienten spielen häufig auch funktionelle Aspekte bei der Harninkontinenz eine Rolle, etwa wenn durch die eingeschränkte Mobilität oder eingeschränktes Sehvermögen nachts die Toilette nicht schnell genug erreicht werden kann oder die Senioren Angst vor Stürzen haben. Hilfsmittel wie etwa Urinflaschen und Hinweise an die Betroffenen oder Angehörigen können dann helfen, das Inkontinenzproblem zu verbessern [14].
Der Nutzen von Präparaten mit β-Sitosterol oder Sägepalmenextrakten beim benignen Prostatasyndrom ist unter Experten umstritten. In früheren Studien fanden sich Hinweise, dass die Präparate die Symptomatik verbessern, auch wenn kein Einfluss auf die Progression der Prostatavergrößerung gezeigt werden konnte [10]. In einer neueren Untersuchung ließ sich allerdings auch mit qualitativ hochwertigen Präparaten auf der Basis von Sägepalmenextrakt keine Verbesserung der Symptome beim benignen Prostatasyndrom finden [21].
Symptom: Schwindel
Schwindel ist im Alter ein häufiges Symptom. So berichten bei über 70-Jährigen zwischen 50 und 60% der Patienten über entsprechende Beschwerden. Bekannt ist, dass mit fortschreitendem Alter sich verschiedene Strukturen des Gleichgewichtssystems verändern. Trotzdem ist Schwindel kein typisches Alterszeichen, das unkritisch akzeptiert werden sollte. Denn die Beschwerden können auf eine ganze Reihe von pathologischen Veränderungen zurückgehen: So kann beispielsweise eine primäre Erkrankung des Gleichgewichtsorgans vorliegen, aber auch nicht-vestibuläre Krankheiten. Mögliche Differentialdiagnosen umfassen unter anderem orthostatische Veränderungen, Hypoglykämien, Morbus Parkinson, zerebrale vaskuläre Störungen, kardiale Synkopen und Arrhythmien. Gleichzeitig ist Schwindel ein multifaktorielles Geschehen, an dem nicht nur die eigentliche Erkrankung, sondern auch weitere alters- oder krankheitsbedingte Faktoren beteiligt sind. So können etwa Senioren mit Erkrankungen des Bewegungsapparates Schwindel durch orthostatische Dysregulation schlechter kompensieren. Deshalb ist Schwindel im Alter auch häufig ein Risikofaktor für Stürze [15,16].
Wenn Senioren in der Apotheke über Schwindel klagen, sollten sie umgehend an den Hausarzt verwiesen werden, damit eine Differentialdiagnose erfolgen kann. Auch fachärztliche Beratung (HNO, Neurologie) kann hilfreich sein. In der Apotheke sollte aber auf jeden Fall überprüft werden, ob Medikamente an der Schwindelsymptomatik beteiligt sind. So kann Schwindel als Nebenwirkung bei einer Reihe von Arzneimitteln zur Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen auftreten (etwa Diuretika, Betablocker, Vasodilatatoren), aber auch bei zahlreichen Psychopharmaka, Muskelrelaxanzien, Opioid-Analgetika und Antikonvulsiva [4, 5].
Dimenhydrinat ist für die Behandlung von Schwindel zwar zugelassen, kommt aber leitliniengerecht nur relativ selten und bei wenigen Indikationen zum Einsatz [16]. Für die Selbstmedikation von Schwindel bei Senioren ist es aufgrund der starken anticholinergen Nebenwirkungen nicht geeignet [17]. Ginkgo ist zugelassen für die Behandlung von Schwindel durch vaskuläre Ursachen. Einige kleinere Studien haben zwar eine Wirksamkeit gezeigt [6], die Aussagekraft in Bezug auf den Nutzen ist aber unter anderem durch die kleinen Fallzahlen fraglich. Eine gute Anlaufstelle für eine umfassende Diagnostik kann eine Schwindelambulanz sein, die es in vielen größeren Städten gibt.
Symptom: Vergesslichkeit
Dass mit dem Alter das Gedächtnis nachlässt, wird von vielen älteren Menschen als natürlich betrachtet. Doch nimmt die geistige Leistungsfähigkeit nicht pauschal ab: Altersmediziner beschreiben, dass bei gesunden Senioren zwar die Zugriffszeiten auf Gedächtnisinhalte etwas verlängert sind, die auf Erfahrung aufbauenden Leistungen ("kristalline" Intelligenz) dagegen kaum abnehmen [19].
Allerdings können Alterungserscheinungen auch in Formen leichter kognitiver Beeinträchtigungen (mild cognitive impairment, MCI) übergehen. Beim MCI vergessen die Betroffenen Informationen, an die sie sich vorher leicht erinnert haben, etwa Verabredungen, Telefongespräche oder für sie interessante Ereignisse wie Termine von Bundesligaspielen. Die Bewältigung des Alltags ist in der Regel nicht eingeschränkt. Patienten mit MCI haben ein erhöhtes Risiko, in den nächsten Jahren an einer Demenz zu erkranken [11]. Wenn neu entstandene kognitive Störungen länger als ein halbes Jahr bestehen und die Aktivitäten des täglichen Lebens beeinträchtigen, stellen Altersmediziner die Diagnose Demenz. Am häufigsten sind daran neurodegenerative Erkrankungen wie die Alzheimer-Krankheit oder Demenz bei M. Parkinson beteiligt, gefolgt von vaskulären Demenzen [17].
Gedächtnisstörungen oder dementive Symptome können aber auch durch eine ganze Reihe anderer Faktoren ausgelöst werden, wie endokrine Störungen, Elektrolytverschiebungen oder Erkrankungen mit Raumforderungen im Gehirn. Auch Medikamente können Gedächtnisstörungen auslösen oder verstärken. Dazu gehören etwa Psychopharmaka und Arzneimittel mit zentralnervösen Nebenwirkungen sowie Antihypertonika [19].
Klagen Senioren in der Apotheke über Gedächtnisschwäche oder Vergesslichkeit, sollte also dringend ein Arztbesuch zur genauen Abklärung empfohlen werden. In einigen Städten gibt es auch "Gedächtnisambulanzen" mit spezialisierten Ärzten.
Mit welchen Maßnahmen sich der geistige Abbau aufhalten lässt, ist unter Fachleuten umstritten. Eine neuere Übersichtsarbeit hat modifizierbare Risikofaktoren der Demenz untersucht. So hat sich in epidemiologischen Studien gezeigt, dass vermehrte körperliche Aktivität, Trainingsprogramme zur Erhöhung der kognitiven Reserve und ein moderater Alkoholkonsum das Risiko verringern, während Übergewichtige und Raucher ein erhöhtes Risiko haben. Auch wird eine Assoziation zwischen Demenz und den Erkrankungen Hypertonie, Diabetes, Schlaganfall und Hypercholesterinämie berichtet. Auch Depressionen können zur Entwicklung einer Demenz beitragen [13, 20].
Interventionsstudien zur Prävention der Demenz sind dagegen bisher enttäuschend verlaufen. Ein Nutzen von Vitamin E, B-Vitaminen oder Ginseng ist bisher nicht eindeutig nachgewiesen [1, 20]. Auch die Datenlage zu Ginkgo-Extrakten ist widersprüchlich. So haben große randomisierte placebokontrollierte Studien keinen Nutzen zur Demenzprävention gezeigt [2, 3, 14]. Die Ergebnisse der GuidAge-Studie, die die Wirksamkeit eines standardisierten Ginkgo-Extraktes an Patienten mit beginnenden Gedächtnisstörungen untersuchte, sind noch nicht vollständig publiziert.
Symptom: Akute Verwirrtheit
Mit fortschreitendem Lebensalter steigt das Risiko, einen akuten Verwirrtheitszustand (Delir) zu erleiden, stark an. Unter Delirien versteht man Verwirrtheitszustände, die durch mehrere Symptome gekennzeichnet sind. Die Anzeichen treten in der Regel gleichzeitig auf [14]:
- Störung der Aufmerksamkeit und des Bewusstseins,
- globales kognitives Defizit,
- Störungen der Psychomotorik,
- dementsprechend sowohl hyperaktive als auch hypoaktive klinische Erscheinungsbilder,
- Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus,
- emotionale (affektive) Störungen.
Ältere Menschen sind dafür besonders gefährdet, insbesondere dann, wenn noch weitere Risikofaktoren hinzukommen. Ein Beispiel: Die Einnahme von Arzneimitteln mit anticholinergen Nebenwirkungen erhöht bei älteren Patienten das Risiko für ein akutes Delir. Kommt dann noch ein Flüssigkeitsverlust beispielsweise durch starkes Schwitzen im Sommer hinzu, steigt die Gefahr noch weiter an.
Verwirrtheit als Nebenwirkung
Von einigen Arzneimitteln oder Arzneimittelklassen sind akute Verwirrtheitszustände als unerwünschte Arzneimittelwirkung bekannt. Besonders Arzneistoffe mit anticholinergen Eigenschaften haben ein hohes Risikopotenzial, bei älteren Menschen ein Delir auszulösen. Aber auch andere Arzneistoffe können an der Entstehung eines Delirs beteiligt sein (siehe Kasten) [8].
Verwirrt durch ArzneimittelBei älteren Menschen häufig eingesetzte Arzneimittel, die akute Verwirrtheitszustände auslösen können (nach [8, 14])
|
Einige Formen von akuten Delirien verlaufen so spektakulär, dass man den betroffenen Patienten in der Apotheke kaum begegnet, weil sie zügig ärztlich behandelt werden. Andererseits gibt es aber auch unauffällige Verlaufsformen, die häufig falsch interpretiert werden. Altersmediziner gehen davon aus, dass etwa zwei Drittel aller Delirien nicht als solche erkannt werden [14]. Hier gilt es, in der Apotheke ganz besonders wachsam zu sein, etwa wenn Arzneimittel verordnet sind, die ein besonders hohes Risiko für entsprechende Nebenwirkungen haben.
In fast allen Fällen werden akute Delirien durch Schlafstörungen eingeleitet. Gleichzeitig können OTC-Präparate zur Schlafförderung, die Antihistaminika wie Doxylamin enthalten, aufgrund der anticholinergen Nebenwirkungen auch selbst Delirien auslösen. Deshalb ist bei älteren Patienten, die rezeptfreie Schlafmittel verlangen, besondere Aufmerksamkeit geboten [7, 8].
Weitere Ursachen für akute Verwirrtheit
Neben den Arzneimitteln können auch viele nicht stoffliche Triggerfaktoren ein Delir auslösen. Das wichtigste Risiko ist das fortgeschrittene Lebensalter selbst. Menschen mit Demenz sind zusätzlich zu ihren kognitiven Einschränkungen auch für das Auftreten von akuten Delirien gefährdet. Aber auch Infekte können sich als akute Verwirrtheitszustände zeigen. Störungen im Elektrolyt- und Wasserhaushalt können ebenfalls akute Bewusstseinstrübungen hervorrufen. Der Flüssigkeitshaushalt von Menschen im fortgeschrittenen Lebensalter ist viel störanfälliger als in jüngeren Jahren, besonders bei sehr schlanken und untergewichtigen Personen. Im Alter nimmt der Wasseranteil am Körpergewicht ständig ab, der Fettanteil steigt hingegen an. Oft beobachten wir, dass bei älteren Menschen auch das Durstgefühl abnimmt. Verbindliche Trinkpläne sind dann ausgesprochen hilfreich. Bei pflegebedürftigen Patienten kommen oft noch Schluckstörungen erschwerend hinzu. Im Laufe des Lebens verschiebt sich außerdem die hormonelle Regulation des Wasser- und Natriumhaushaltes [14].
Die Exsikkose ist im fortgeschrittenen Lebensalter die häufigste Störung des Wasser- und Elektrolythaushaltes. Dieses Krankheitsbild entsteht durch unzureichende Flüssigkeitszufuhr oder durch übermäßige Flüssigkeitsverluste. Häufige Ursachen sind Störungen im Magen-Darm-Trakt wie Erbrechen und Durchfall. Aber auch über die Haut können nennenswerte Flüssigkeitsverluste auftreten. Starkes Schwitzen im Sommer kann bei älteren Patienten einen deutlich erhöhten Flüssigkeitsbedarf nach sich ziehen. Bei durch Fieber bedingtem Schwitzen müssen pro Grad Temperaturanstieg 500 ml Flüssigkeit zusätzlich getrunken werden [14]. Bei Bedarf können in der Selbstmedikation auch Pulver zur Herstellung von oralen Rehydratationslösungen angeboten werden.
Einige Anzeichen für einen Flüssigkeitsmangel können auch in der Selbstmedikation erkannt oder erfragt werden. Sie zu kennen ist wichtig, um abschätzen zu können, wann ein älterer Patient einer ärztlichen Behandlung bedarf. Eine trockene Zunge, trockene Mundschleimhäute, Sprechschwierigkeiten mit einer tonlosen heiser wirkenden Stimme [14] können auch in Beratungsgesprächen in der Apotheke erkannt und als Hinweise auf einen möglicherweise bereits bestehenden Flüssigkeitsmangel gewertet werden. Kommen zu Durchfall, Erbrechen oder Fieber noch weitere Faktoren hinzu, die einen Flüssigkeitsverlust begünstigen wie sommerliche Temperaturen, reduziertes Körpergewicht oder ein schlechter Allgemeinzustand, sind oftmals die Grenzen der Selbstmedikation erreicht.
Wichtig ist es auch, dass Pflegende für das Phänomen Delir sensibilisiert werden. Wenn pflegende Angehörige etwa berichten: "Die Oma ist heute ein bisschen stärker verwirrt als sonst", sollte der Apotheker aufmerksam nachfragen.
Abgrenzung von Verwirrtheit und Demenz
In der Apothekenpraxis kann es für die Beratung wichtig sein, ob akute Verwirrtheitszustände vorliegen, oder ob es sich um chronische Verläufe handelt. Akute Delirien können bei dementen Patienten noch zusätzlich zu einer bestehenden Demenz auftreten. Diese plötzlich auftretende neue Erkrankung wird vom Umfeld häufig nicht als solche wahrgenommen, sondern eher als Verschlechterung eines bestehenden Zustandes gewertet. Bei einem Verdacht auf einen solchen Fall sollte immer zu einer ärztlichen Abklärung geraten werden. Tabelle 2 liefert einige Anhaltspunkte zur Abgrenzung von akuter und chronischer Verwirrtheit.
Tab. 2: Anhaltspunkte zur Unterscheidung von akuten und chronischen Verwirrtheitszuständen (modifiziert und erweitert nach [19]) | ||
Delir |
Demenz |
|
Beginn und Dauer |
akut eintretende Bewusstseinstrübung, dauert wenige Stunden bis Tage |
schleichender Beginn, dauert Jahre |
Prognose |
Rückbildung möglich |
progredienter, chronischer Verlauf |
Aufmerksamkeit |
stets gestört, fahrig |
anfangs unbeeinträchtigt, schleichende Abnahme im Verlauf der Erkrankung |
Gedankliche Leistungen |
spontan eingeschränkt mit Reduktion des abstrakten Denkvermögens und des Kurzzeitgedächtnisses |
schleichende Abnahme im Verlauf der Erkrankung |
Orientierung |
stets gestört |
unterschiedlich gestört, schleichende Verschlechterung |
Tagesverlauf |
fluktuierendes, schwankendes Zustandsbild, zeitweise symptomfrei, meist nächtliche Verschlechterung |
weitgehend konstantes Zustandsbild, Schwankungen sind aber möglich |
Tag-Nacht-Rhythmus |
immer gestört: Wachheit in der Nacht, Schläfrigkeit am Tag |
fragmentierter Schlaf |
Aktivität |
hyperaktiv oder apathisch |
"kramen", umherwandern, bei Anwesenheit weiterer Personen "vor sich hin dämmern" |
Halluzinationen |
häufig |
selten |
Symptom: Müdigkeit und Leistungsschwäche
Nachlassende Leistungsfähigkeit ist ein Phänomen, das häufig mit dem Alterungsprozess in Zusammenhang gebracht wird. Für einen typischen geriatrischen Patienten haben Altersmediziner in diesem Zusammenhang den Begriff "Frailty-Syndrom" geprägt. Der englische Begriff "Frailty" bedeutet "Gebrechlichkeit" und beschreibt häufige Symptome bei älteren Patienten: Gewichtsabnahme, Erschöpfung, Schwäche, verminderte Gehgeschwindigkeit und verringerte körperliche Aktivität [17]. Die meisten Senioren wünschen sich aber, bis ins hohe Alter fit und leistungsfähig zu bleiben. Um dieses Ziel zu erreichen, unternehmen ältere Menschen oft große Anstrengungen. Die öffentliche Apotheke ist dafür oftmals ihr erster Ansprechpartner. Nachlassende Leistungsfähigkeit ist auch ein wichtiges Beratungsthema der Selbstmedikation, etwa wenn geriatrische Patienten Tonika oder Stärkungsmittel verlangen.
Abgesehen von der häufig fraglichen Wirksamkeit dieser Produkte sollte in der Selbstmedikationsberatung nicht vergessen werden, dass neben dem Alterungsprozess selbst auch eine Vielzahl von körperlichen und seelischen Erkrankungen sowie Lebensstilfaktoren zu Müdigkeit und Leistungsschwäche führen können (siehe Textkasten).
Müdigkeit und LeistungsschwächeMögliche Ursachen für Müdigkeit und Leistungsschwäche bei Senioren (Auswahl, nach [9]) Somatische Erkrankungen
Psychische Erkrankungen
Sonstige Ursachen
|
Die Übersicht macht deutlich, dass bei den Symptomen Müdigkeit und Leistungsschwäche die Grenzen der Selbstmedikation schnell erreicht sind. Wichtig ist der Hinweis an die Patienten, die Ursache ärztlich abklären zu lassen. Auch bei bereits bekannten Grunderkrankungen können neu auftretende Symptome ein Zeichen für eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes sein.
Müdigkeit, Abgeschlagenheit und Benommenheit können aber auch als Nebenwirkungen von Arzneimitteln auftreten. Viele Medikamente, die ältere Patienten häufig einnehmen, kommen in Betracht. Dazu gehören Antiemetika, (trizyklische) Antidepressiva, Antihistaminika, Sedativa und Hypnotika sowie Neuroleptika, Antihypertonika, Parkinsonmittel oder Opioide [7, 9].
Nicht-medikamentöse Zusatzhinweise haben ihren festen Platz in der Selbstmedikationsberatung von Müdigkeit und Leistungsschwäche. Regelmäßig sollten auch Rentnerinnen und Rentner darauf aufmerksam gemacht werden, dass sie ein Ungleichgewicht zwischen Anstrengung und Erholung möglichst vermeiden sollten. Ruhe, Entspannung und ausreichend Schlaf sind gerade im Alter wichtig. Körperliche Bewegung oder Sport vorrangig im Freien, soziale Beziehungen und dosierte Arbeit können sich ebenfalls förderlich auf die Beseitigung von Müdigkeit und Leistungsschwäche auswirken. Eine gesunde Lebensführung begünstigt körperliche Fitness bis in hohe Alter. Eine übermäßige Coffeinzufuhr kommt außerdem als Auslöser für Schlafstörungen in Betracht. In der Beratung sollte deshalb darauf hingewiesen werden, wie die Einnahme coffeinhaltiger Arzneimittel und Getränke am späten Nachmittag sich auf den Schlaf auswirken können.
Malnutrition als Ursache von Leistungsschwäche im Alter
Kognitive Leistungsminderung, Müdigkeit und Leistungsschwäche können auch Hinweise auf eine unzureichende und fehlerhafte Ernährung sein. Als Mangelernährung im engeren Sinne bezeichnet man eine energetisch ausreichende aber einseitige Ernährung mit unzureichendem Gehalt an Eiweiß, Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen [14].
Bei der Beratung älterer Patienten in der Apotheke muss deshalb auch immer daran gedacht werden, ob Ernährungsfaktoren der Auslöser für Müdigkeit und Leistungsschwäche sein können. Bedauerlicherweise können mangelernährte ältere Menschen in der Apotheke häufiger beobachtet werden. Verantwortlich für diese Situation ist oftmals der physiologische Alterungsprozess selbst. Mit steigendem Alter lassen die Speichelsekretion und der Geschmackssinn nach, so dass ältere Menschen oft keinen Appetit mehr haben. Schlecht sitzende Zahnprothesen und Kaustörungen, aber auch schlecht sanierte oder fehlende Zähne sowie Entzündungen der Mundschleimhaut führen dazu, dass ältere Menschen die Lust am Essen verlieren. Einige verschreibungspflichtige Medikamente können Appetitmangel oder Mundtrockenheit als oft sehr unangenehm empfundene Nebenwirkungen aufweisen. Zu diesen Medikamenten zählen Antibiotika, Psychopharmaka und auch einige Antihypertensiva [14]. Aber auch psychosoziale Faktoren können an dem Phänomen Malnutrition beteiligt sein. Häufig sind ältere Menschen betroffen, die alleine im Haushalt leben und sich selbst versorgen.
Eine kurzzeitig auftretende Mangelernährung kann Gegenstand der Selbstmedikationsberatung sein. Das gilt insbesondere dann, wenn sie als Folge schwerer Erkrankungen in der Rekonvaleszenz auftritt. Aber auch Erkrankungen mit erhöhtem Grundumsatz machen oft eine Nahrungsergänzung erforderlich. Die Substitution von Mikronährstoffen kann unter diesen Bedingungen notwendig sein. Auch der Einsatz einer hochkalorischen Spezialnahrung kann für kurze Zeit erwogen werden. In der Beratung muss in jedem Einzelfall entschieden werden, ob durch eine Selbstmedikation Abhilfe geschaffen werden kann. Oftmals ist aber bei mangelernährten älteren Menschen eine weitergehende psychosoziale Unterstützung nötig.
Literaturtipp
"Medizin des Alterns und des alten Menschen" ist gemäß der Approbationsordnung für Ärzte ein Unterrichtsfach im Medizinstudium. Dieses Buch folgt der thematischen Gliederung des Rahmencurriculums, das die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie den medizinischen Fakultäten empfohlen hat. Zwölf erfahrene Ärzte, ein Zahnarzt, ein Apotheker und ein Diplom-Physiotherapeut vermitteln fundiert und gut verständlich die relevanten Themen. Von A wie Antidementiva bis Z wie Zahnersatz werden die Inhalte anschaulich und umfassend dargestellt.
Dieses Buch richtet sich in erster Linie an Medizinstudenten, es nützt jedoch allen, die beruflich mit der Therapie alter Menschen befasst sind.
Gerald F. Kolb und Andreas Leischker (Herausgeber)
Medizin des alternden MenschenLehrbuch zum Gegenstandskatalog der neuen ÄApprO
XXII, 354 Seiten, 60 s/w Abbildungen, 21 farbige Abbildungen, 83 Tabellen, 3 Seiten Farbtafeln. Geb. 36,– Euro.
Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2009
ISBN 3-978-8047-2415-0
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Fazit
Die Beratung älterer Menschen in der Selbstmedikation stellt für Apothekerinnen und Apotheker eine zunehmend größere Herausforderung dar. Aufgrund der Veränderungen, die der demografische Wandel mit sich bringt, wird die Zahl der Beratungsgespräche mit Selbstmedikationswunsch stetig ansteigen. Die Entscheidung, ob Patienten und Patienten im fortgeschrittenen Lebensalter ihre geschilderten Symptome noch in eigener Verantwortung selbst therapieren können, wird zunehmend schwieriger. Deshalb sollten sich Apothekerinnen und Apotheker rechtzeitig auf diese neuen Herausforderungen einstellen. Die Ausweitung der fachlichen Kompetenz und der Kommunikationsfähigkeit der öffentlichen Apotheke sind die Basis für eine erfolgreiche Beratung und langfristige Betreuung dankbarer geriatrischer Kunden.
Literatur
Autorinnen
Elisabeth Thesing-Bleck
Hander Weg 25 B, 52072 Aachen
Dr. Iris Hinneburg
Wegscheiderstr. 12, 06110 Halle (Saale)
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