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Geriatrie
FORTA – Arzneimittelklassifikationssystem für ältere Patienten
FallberichtEine 76-jährige Patientin mit bekannter arterieller Hypertonie wird von ihrem Hausarzt mit einem Diuretikum sowie Digoxin behandelt. Die Patientin hat über Jahrzehnte eine konstante Dosis dieser beiden Medikamente eingenommen. Jetzt klagt sie über zunehmende Beschwerden wie Übelkeit und Appetitlosigkeit, Schwindel und Hirnleistungsschwäche. Daraufhin verordnet ihr der Hausarzt zusätzlich Metoclopramid und Piracetam. Es tritt aber keine wesentliche Besserung der Beschwerden ein ... ... bis die Patientin eines Tages schlagartig gesund wird, denn ihr Hausarzt ist gestorben (und hat ihr keine Medikamente mehr verordnet). Frage: Hätte hier „Noncompliance“ nicht schon eher geholfen? |
Polypharmazie und Fehlverordnungen bei Älteren
Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung („Überalterung“) in den Industrieländern rücken Probleme wie Multimorbidität und Polypharmazie (meist definiert als Einnahme von mindestens fünf Arzneimitteln) immer mehr in den Vordergrund. Einen Erklärungsansatz für die Polypharmazie könnte die strenge Leitlinien-Adhärenz der Ärzte bieten. Die von den Medizinischen Fachgesellschaften erstellten Leitlinien existieren, um Ärzten „eine Handlungswegweisung durch den Dschungel der medizinischen Möglichkeiten an die Hand zu geben“ [18], aber in der Praxis werden solche Leitlinien fast abgöttisch angewandt. Jede Leitlinie empfiehlt circa drei Arzneimittel; nach einer Studie von van den Akker et al. [16] haben über 80 Jahre alte Patienten durchschnittlich mehr als drei Diagnosen, die dann „leitliniengerecht“ zur Verordnung von (mehr als) 3 × 3 ≈ 10 Arzneimitteln pro Patient führen. Dies entspricht leider der Realität: im Durchschnitt nehmen über 65-Jährige mehr als 5 Medikamente ein [11], in Pflegeheimen liegt der Schnitt bei 6,3 Medikamenten [1]. Krankenhauseinweisungen oder sogar Todesfälle können die Folge sein: für ältere Patienten gibt es nämlich (fast) keine medizinischen Leitlinien! Viele Pharmakotherapien sind gar nicht für dieses Patientenkollektiv in klinischen Studien untersucht [5, 18]. Das ist neben unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) sowie Interaktionen oder Fehlverordnungen ein wichtiger Grund für die suboptimale Qualität der Pharmakotherapie bei Älteren.
Bewusstsein für die Besonderheiten des Alters
Die Geriatrie ist ein verhältnismäßig junges Fach, das „jüngste der großen klinischen Disziplinen“ [14]. Ignatz Leo Nascher, ein Amerikaner österreichischer Herkunft, kreierte 1914 die Bezeichnung „Geriatrie“, ein halbes Jahrhundert später wurde durch die Bemühungen der englischen Ärztin Marjory Warren das Fachgebiet Geriatrie ins Leben gerufen [6]. In den letzten 50 Jahren hat sich dieses Gebiet stark entwickelt, die Forschung bedarf allerdings noch intensiverer Aufmerksamkeit.
Das heißt unter anderem, dass das allgemeine Bewusstsein für die Besonderheiten in der Pharmakotherapie älterer Patienten noch geschärft werden muss, indem z. B. reduzierte Funktionalität, Veränderungen in der Pharmakokinetik bzw. Pharmakodynamik sowie unerwartete Arzneimittelwirkungen und Interaktionen berücksichtigt werden [4]. Das streng Leitlinien-dominierte „Lehrbuchwissen“ wird also nicht ausreichen, sondern es werden auch zunehmend die „intuitiven Komponenten, gespeist aus Wissen, Integrationswillen und kreativen Elementen“ [18] gefordert.
Beers-Liste
Für das Problem der Polypharmazie wurden schon früh Ansätze zur Verbesserung erarbeitet, so z. B. Negativlisten, die potenziell inadäquate Medikamente (PIM) für ältere Patienten identifizieren. Nach den Beers Criteria (USA) [3] werden Medikamente in drei Klassen eingeteilt: in Arzneimittel, die
bei älteren Patienten gemieden werden sollten,
potenziell inadäquat sind bei älteren Patienten mit bestimmten Erkrankungen und Syndromen oder
bei älteren Patienten nur mit großer Vorsicht angewendet werden sollten.
Bei der neuesten Überarbeitung der Beers-Liste wirkte die American Geriatrics Society [7] mit. Diese überarbeitete Fassung nennt auch besser verträgliche Alternativen für generell im Alter zu vermeidende Arzneimittel und berücksichtigt die Arzneimittel-Krankheiten-Interaktionen (drug-disease interactions).
Priscus-Liste
2010 wurde die Priscus-Liste [10] als deutsche Negativliste in Analogie zur amerikanischen Beers-Liste veröffentlicht. Diese Negativliste soll wie die Beers-Liste als Hilfsmittel dienen,
die für ältere Patienten ungeeigneten Arzneimittel zu vermeiden,
die Dosierung der Arzneistoffe zu kontrollieren sowie
Polypharmazie und Arzneimittelinteraktionen zu reduzieren.
Ein besonderer Vorzug ist ihre gute Praktikabilität. Die Diagnose-unabhängige Auflistung der Arzneimittel erscheint als Schwachpunkt [15], und es sind noch Ungereimtheiten erkennbar, z. B. ist Diclofenac nicht als PIM gelistet (hier wäre Metamizol eine bessere Alternative).
STOPP/START Criteria
Die STOPP/START Criteria (Irland) sind nach Krankheiten gegliedert. Sie umfassen eine Negativliste (64 STOPP Criteria; PIM), die auch die Arzneimittel-Krankheiten-Interaktionen berücksichtigt, und eine Liste mit 22 START Criteria, die nach möglicherweise fehlenden Medikationen (PEO, potential errors of omission) fragt [2, 9, 16]. Kritisch ist bei diesem System anzumerken, dass weder ein direktes Arzneimittel-Labelling noch eine graduelle Wertung möglich ist. Zudem erlauben die Kriterien keine vergleichende Wertung über die Indikationen hinweg; relative Indikationen im Hinblick auf die Polypharmazie werden nicht berücksichtigt.
FORTA-Klassifikationssystem
Sowohl die Beers- als auch die Priscus-Liste berücksichtigen die negativen Aspekte der Polypharmazie im hohen Alter (Übertherapie). Es kann aber auch notwendig sein, evidenzerprobte und positiv bewertete Medikamente bei entsprechender Indikation häufiger einzusetzen (Untertherapie) [17].
Ähnlich wie das STOPP/START-System erfasst das FORTA-Klassifikationssystem beide Enden des Spektrums und enthält somit sowohl eine Negativ- als auch eine Positivbewertung von Arzneimitteln (FORTA = Fit fOR The Aged). Allerdings bewertet es Arzneimittel und Arzneimittelgruppen differenziert; dies erlaubt eine Gesamtbeurteilung der Arzneimitteltherapie über Indikationsgrenzen hinweg und ermöglicht eine Relativierung der Indikationsstringenz, z. B. nach der Anzahl aller verordneten Arzneimittel. Je nach Indikation kann ein Arzneimittel verschiedene Bewertungen bekommen.
Die folgende Einteilung mit den Kategorien A bis D wird zur raschen Orientierung in der täglichen Praxis vorgeschlagen, soll aber kein Ersatz für individuelle Therapieentscheidungen sein.
Kategorie A
Hierzu gehören Arzneimittel, die schon an älteren Patienten in größeren klinischen Studien geprüft sind und eindeutig positive Nutzen-Risiko-Bewertungen erhalten haben.
Beispiele: ACE-Hemmer oder langwirksame Dihydropyridin-Calciumantagonisten bei arterieller Hypertonie; ACE-Hemmer und Betablocker bei Herzinsuffizienz.
Kategorie B
In diese Gruppe gehören Arzneimittel, deren Wirksamkeit und Sicherheit bei älteren Patienten zwar nachgewiesen, aber mit Einschränkungen belegt sind.
Beispiele: Diuretika (wegen Nebenwirkungen und Complianceproblemen) oder Betablocker (wegen kardialer Erregungsbildungs- und Erregungsleitungsstörungen, geringer Endpunktwirksamkeit und metabolischen Effekten) bei arterieller Hypertonie.
Kategorie C
Hierzu gehören Substanzen, bei denen eine ungünstige Nutzen-Risiko-Relation für ältere Patienten vorliegt. Diese sollten als erste weggelassen werden, wenn viele (> 3 oder 4) Arzneimittel gleichzeitig gegeben werden.
Beispiele: Amiodaron bei Vorhofflimmern, Spironolacton bei arterieller Hypertonie (Hyperkaliämiegefahr), generell viele Psychopharmaka.
Die Arzneimittel der Kategorie C sind nur in Einzelfällen nach sorgfältiger Abwägung mit guter Begründung einzusetzen, und vor allem ist der Therapieerfolg (z. B. eindeutige Besserung einer Depression) engmaschig zu kontrollieren.
Kategorie D
In diese Gruppe gehören Substanzen, die bei älteren Patienten fast immer vermieden werden sollten; diese sind meistens auch in der Beers-Liste oder anderen Negativlisten zu finden.
Beispiele: Benzodiazepine, Promethazin, Clonidin.
Wichtig: Für Arzneimittel der Kategorie D gibt es immer altersverträgliche Alternativen; auch daher ist ihr Einsatz nicht sinnvoll.
FORTA-Liste
Die nach den oben beschriebenen Kriterien erstellte FORTA-Liste [19] umfasst die am häufigsten chronisch verwendeten Medikamente nach den häufigsten Indikationsgruppen in der Geriatrie. Erste Ergebnisse im Rahmen einer unkontrollierten Pilotstudie zeigten, dass das FORTA-Klassifikationssystem geeignet ist, im klinischen Alltag zu einer rationalen Arzneimitteltherapie älterer Patienten zu kommen [8]. Hierbei nahm die Gesamtzahl der Medikamente ab, vor allem aber nahm die Qualität der Therapie zu. Bei der Entlassung der Patienten aus der Klinik wurden signifikant mehr Substanzen der Kategorien A und B, signifikant weniger der Kategorie D verabreicht.
FORTA scheint ein geeignetes Instrument zu sein, um Übertherapien und Untertherapien genauer zu erfassen und damit eine Optimierung der Pharmakotherapie im klinischen Alltag zu erzielen.
Ausblick: fit for the future
In der Gerontopharmakologie gibt es nicht nur die Problematik der Multimedikation und Übertherapie, sondern auch die der Untertherapie. Der bislang nicht eindeutig führbare Nachweis einer Endpunktwirksamkeit reiner Negativlisten [13] scheint zu untermauern, dass es nicht nur um die Begrenzung der Übertherapie gehen kann. Andererseits muss sich die Geriatrie immer mehr von der streng Leitlinien-geführten Pharmakotherapie distanzieren, da es kaum Evidenz-basierte Leitlinien für diese Altersgruppe gibt. Es müssen also Handlungsanweisungen gegeben werden, die die strikt erforderliche Individualisierung der Therapie (und Diagnostik!) im Alter unter den widrigen Bedingungen der 5-Minutenmedizin unterstützen. Die verfügbaren PIM-Listen, Kriterien und Klassifikationssysteme, vor allem aber die Systeme zur Positivbewertung von Arzneimitteln (STOPP, FORTA) rücken daher immer mehr in den Fokus des Interesses. Ihre Weiterentwicklung, Validierung und Implementierung sind essenziell für die qualitative Verbesserung der Arzneimitteltherapie im Alter und bieten ausgiebige Chancen für die praktische Anwendung.
Hoffnungsvoll stimmt der Umstand, dass die Deutsche Forschungsgemeinschaft kürzlich beschlossen hat, einen Forschungsantrag zur Delphi-Entwicklung (Konsensusprozess) von FORTA zu unterstützen – wohl das erste von der DFG geförderte Projekt im Bereich Geriatrie in Deutschland [20]. Ein Anfang ist gemacht, vieles bleibt zu tun.
RückblickIm eingangs zitierten Fallbericht hat die unterlassene Dosisanpassung des Digoxins gemäß der altersabhängig abnehmenden Nierenfunktion zur Vergiftung der Patientin und das Absetzen, da es überhaupt nicht indiziert war, zur Rettung der Patientin geführt; sie hat den Wettlauf „Wer stirbt zuerst – der Arzt oder der Patient?“ gewonnen. Bei kritischen Medikamenten (hier: enge therapeutische Breite des Digoxins) ist die an sich unerwünschte Noncompliance für den Patienten manchmal am besten; in der idealen Welt wäre natürlich eine andere Lösung möglich … |
Literatur
Korrespondierender Autor
Prof. Dr. med. Martin Wehling, Institut für Exp. und Klin. Pharmakologie und Toxikologie, Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg, Maybachstr. 14, 68169 Mannheim, E-Mail: martin.wehling@medma.uni-heidelberg.de
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