Zeta-Akademie

Ohne Gewalt die Welt verändern

Wie die friedliche Revolution zum Mauerfall führte

Christian Führer war von 1980 bis 2008 Gemeindepfarrer der Nikolaikirche in Leipzig. Sein Name steht für die Friedensgebete, die während der friedlichen Revolution in der DDR eine entscheidende Rolle spielten. In einer ergreifenden Zeitreise zeigte er den Zuhörern, welche Kraft die Friedensgebete in den letzten Jahren und Monaten der DDR entfalteten.
Christian Führer "Der zweite Teil der friedlichen Revolution steht noch aus: die robuste Regulierung der Weltfinanzmärkte."
Foto: DAZ/diz

Ausgehend von der Friedensdekade, die 1980 als gemeinsame Protestaktion der Evangelischen Jugendpfarrämter in Ost und West entstanden war, und sich gegen das Wettrüsten in Ost und West richtete ("Schwerter zu Pflugscharen"), lud Führer Anfang der 80er Jahres die Bevölkerung zu Friedensgebeten in die Nikolaikirche ein: Seit dem 20. September 1982 kamen die Menschen jeden Montag in der Kirche zusammen, obwohl die Staatsorgane der DDR immer wieder versuchten, diese Aktionen zu unterbinden oder zu stören. Führer ließ sich davon nicht abhalten, im Gegenteil: 1986 ließ er Schilder mit der Aufschrift "Nikolaikirche – offen für alle" anbringen. Damit öffnete sich die Leipziger Nikolaikirche bewusst für alle Rand- und Protestgruppen ohne Rücksicht auf ideologische oder religiöse Ansichten. Die Kirche wurde zum Symbol der Pluralität aller oppositionellen Gruppen in der DDR.

Führer gründete beispielsweise einen Gesprächskreis für Ausreisewillige. Er hielt einen Vortrag in der Kirche unter der Überschrift "Leben und bleiben in der DDR", zu dem über 600 Menschen in die Kirche kamen. Damit stand er im Fadenkreuz der Stasi-Observierung. Von DDR-Organen auf diesen Vortrag angesprochen betonte er, dass dieser Vortrag "Leben und bleiben in der DDR" hieß, nicht "Leben und leiden in der DDR".

Stiftung Friedliche Revolution


Weitere Infos über die Stiftung Friedliche Revolution finden Sie unter

www.stiftung-fr.de

Hier können Sie auch die Charta für Courage unterstützen, die als Grundlage die Wertemuster von 1989 hat. Die Charta soll Plattform für alle Bürgerinnen und Bürger sein, die sich für diese Ziele engagieren wollen.


Seit 1988 nahm die Zahl der Teilnehmer an den Friedensgebeten von Woche zu Woche zu, die DDR-Führung fühlte sich immer stärker provoziert und versuchte mit Störaktionen, diese Treffen zu unterbinden. Ab Frühjahr 1989 spitzte sich die Situation zu, Zufahrtsstraßen wurden kontrolliert, Verdächtige "zugeführt". Führer: "Seitdem haben die Genossen alles falsch gemacht, jede Polizeiaktion hatte zur Popularisierung der Friedensgebete beigetragen. "Als während der Leipziger Messe viele westliche Journalisten in Leipzig weilten, gelangten Bilder von den Friedensgebeten auch in die Tagesschau. "Und da alle DDR-Bürger Westfernsehen schauten", so Führer, "trugen auch diese Bilder zur Verbreitung der Friedensgebete bei und erhöhte die Teilnehmerzahlen." Selbst der Einsatz von brutaler Polizeigewalt am 7. Oktober 1989 konnte die Konterrevolution nicht stoppen.

Am 9. Oktober 1989 versuchte die Partei die Friedensgebete zu stoppen. Sie schickte etwa 1000 SED-Abgeordnete bereits am Nachmittag in die Nikolaikirche. Führer ließ sich davon nicht beirren. Die Genossen konnten erleben, dass hier in der Tat Friedensgebete stattfanden. Ihnen wurde klar, hier wird nicht aufgewiegelt, die Partei hatte sie belogen. Die Stadt war bevölkert von Angehörigen der Nationalen Volksarmee, Kampfgruppen der Arbeiterklasse, der Polizei und Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit. Ein gespenstisches Szenario baute sich auf. Dennoch, 70.000 Menschen waren zur Demonstration in die Innenstadt Leipzigs gekommen. Kurz vor Schluss des Friedensgebets wurden Aufrufe verlesen, die zur Gewaltlosigkeit aufriefen. Die Demonstration verlief ohne Gewaltanwendung. "Ein unglaublicher Vorgang, ein Wunder biblischen Ausmaßes, die DDR war nicht mehr so wie früher", so Führer. Die Gewaltlosigkeit der Demonstranten wirkte entwaffnend.

Die Wende war eingeleitet durch eine friedliche Revolution. Am 9. November wurde die Mauer geöffnet, nachdem zuvor Gorbatschow erklärt hatte, er mische sich nicht in die innere Angelegenheiten der DDR ein.

Die Friedensgebete gingen und gehen weiter. Führer setzte sich nach 1989 für Arbeitslose ein. Den Appell "Wir sind das Volk" meldete Führer als Marke an. Er gründete die "Stiftung Friedliche Revolution", die sich gegen Ungerechtigkeit und zu wenig Demokratie in Deutschland und weltweit einsetzt. Die Stiftung will zudem die Wertemuster der friedlichen Revolution von 1989, nämlich

  • "keine Gewalt"

  • "Schwerter zu Pflugscharen"

  • "Wir sind das Volk"

  • "Offen für alle"

in die heutige Zeit überführen.

Wie Führer betonte, stehe jetzt der zweite Teil der friedlichen Revolution noch aus., "der aber unter den erschwerten Bedingungen des Wohlstands stattfindet". Der Geist der Veränderung müsse weitertragen. Jetzt sei eine robuste Regulierung der Weltfinanzmärkte notwendig. Führer ist überzeugt: "Wir müssen anders wirtschaften und wachsen, wir müssen eine Wirtschaftsform der solidarischen Ökonomie entwickeln. Der Mensch und nicht der Profit muss an erster Stelle stehen." Man solle nicht denken, zur Marktwirtschaft gebe es keine Alternativen. Hätte man auch früher so gedacht, wäre die Menschheit auf der Stufe des Faustkeils stehen geblieben. Führer: "Es gibt zu allem eine Alternative, aber dies erfordert Geist, Kraft und Einsatz von Ressourcen." Auch den Leuten, die an den Friedensgebeten teilgenommen hatten, hatte man zugerufen, sie sollten sich nicht einbilden, damit etwas zu bewirken.

Buchtipp


Christian Führer

Und wir sind dabei gewesen.

Ullstein, Berlin 2008, Preis 19,90 Euro

ISBN 978-3-550-08746-2

Zu beziehen über www.buchoffizin.de


diz



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DAZ 2012, Nr. 26, S. 73

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