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Selbstmedikations-Markt wächst weltweit

Aber eher verhaltenes Wachstum in Europa

NIZZA (diz). Weltweit gesehen wuchs der OTC-Markt in den letzten vier Jahren schneller als der Markt der verschreibungspflichtigen Arzneimittel. Vor allem in Ländern wie Brasilien, Indien und in asiatischen Ländern legte der Verkauf von OTCs stark zu. In Europa, aber auch in Nordamerika und Japan stagniert dagegen das Wachstum auf dem Markt der Selbstmedikationsarzneimittel.
Bedeutender Markt Selbstmedikationsarzneimittel nehmen weltweit betrachtet an Wichtigkeit zu. In Europa, Nordamerika und Japan stagniert der Markt allerdings.
Foto: DAZ/Sket

Auf diese Entwicklung machten Pharmamanager und -berater auf der Jahrestagung der europäischen Arzneimittelhersteller (AESGP) in Nizza aufmerksam. Die sich derzeit stark entwickelnden Regionen wie Lateinamerika und Südostasien treiben das Wachstum des OTC-Markts weltweit. Mit einem Wert von über 100 Milliarden US-Dollar wächst der globale OTC-Markt derzeit schneller als der traditionelle Pharmamarkt und stellt die Hauptquelle für die Erweiterung von Geschäftsfeldern dar.

Das Wachstum im OTC-Markt wird aber auch getrieben von Erweiterungen und Ergänzungen von Produktmarken (line extensions) und von neuen Produkten mit zusätzlichem Nutzen.

OTC-Markt wächst im Osten

Auf dem europäischen Markt dagegen wächst der OTC-Markt eher verhalten. In erster Linie sieht man Wachstum in osteuropäischen Ländern (Polen, Russland, Bulgarien), während der OTC-Markt in Deutschland, aber auch in England, Spanien, Frankreich und Schweden kaum noch wächst. Bei den Indikationsgebieten stehen an erster Stelle Erkältungspräparate und Schmerzmittel. Zu den führenden Firmen zählen hier beispielsweise Novartis, Sanofi, Bayer, Johnson & Johnson, GSK, Reckitt Benckiser und Teva.

Um den Markt für OTC in Europa attraktiver zu machen, denkt die Industrie darüber nach, wie OTC-Arzneimittel leichter und einfacher zum Verbraucher gebracht werden können. So sollen beispielsweise Aktionen der Bürger unterstützt werden, die sich mit Gesundheitsvorsorge und gesunder Ernährung befassen. Da es immer schwieriger wird, neue Arzneimittel für die Selbstmedikation auf den Markt zu bringen, setzt die Industrie zusätzlich auf neue Produkte für Gesundheit und Wellness. Denn Switches, also Entlassungen von Arzneimitteln aus der Verschreibungspflicht und anschließende Vermarktung als OTC, bieten allein keine Garantie für einen Erfolg. Das Beispiel der Entlassung der Protonenpumpenhemmer aus der Verschreibungspflicht zeigt, dass solche Vorgänge nicht immer mit einem deutlichen Mehrumsatz einhergehen.

Der Markt in Zentral- und Ost-Europa wächst zwar, aber die Verbraucher zeigen sich nach wie vor kritisch, wenn sie Geld für OTC ausgeben. Hier kommt es für die Pharmahersteller darauf an, ihre Produkte und Marken gut zu positionieren. Dabei dürfte es besser sein, auf eine globale Marke zu setzen und sie auszubauen als eine neue regionale Marke zu schaffen.

Nach Auffassung von Chris Viehbacher, CEO von Sanofi, sollte die Pharmaindustrie noch mehr Wert auf Kundenorientierung legen. Kundenloyalität schaffe wiederum Markenloyalität. Er ist davon überzeugt, dass im Bereich Selbstmedikation noch Wachstumspotenzial steckt. Trotz Schwierigkeiten sieht er auch Möglichkeiten für Wachstum, wenn weitere Stoffe aus der Verschreibungspflicht entlassen werden und für den OTC-Markt genutzt werden können.

Social Media nutzen

Die Entwicklung im Social-Media-Bereich wird das Verbraucherverhalten verändern, wie Pharmaberater auf der AESGP-Tagung prognostizierten. Verbraucher wollen im Netz Kontakt mit den Firmen aufnehmen, ebenso mit Ärzten und anderen Personen im Gesundheitswesen, dies könne zu neuen Geschäftsmodellen führen. Schon heute suchen 34% der Menschen Gesundheitsinformationen, indem sie soziale Netzwerke durchsuchen. Ein Beispiel, wie Pharmahersteller sich an Soziale Netzwerke herantasten, ist die Facebook-Seite von Voltaren (www.facebook.com/VoltarenDeutschland), die derzeit über 25.000 Fans hat.

Pharmafirmen sollten verstärkt überlegen, wie sie Social-Media-Praktiken und Nutzungsverhalten der Verbraucher für sich nutzen können, wobei hier allerdings darauf zu achten ist, nicht mit gesetzlichen Anforderungen zu kollidieren und gegen ethisches Verhalten zu verstoßen. Richtig genutzt kann ein Unternehmen damit durchaus Vertrauen und Kundenbindung aufbauen.

Mehr Selbstbehandlung, weniger Arztkosten

Potenzial für die Selbstmedikation und für den OTC-Markt könnte zudem darin liegen, wenn Regierungsverantwortliche sich verstärkt bewusst werden, dass mehr Selbstmedikation auch die Kosten für Arztbesuche reduzieren kann. Dies könnte dazu beitragen, die Ausgaben der Krankenkassen zu reduzieren. Eine US-amerikanische Studie zeigte, dass jeder Dollar, der für OTC ausgegeben wird, etwa sechs bis sieben Dollar im Gesundheitssystem spart. Eine Studie aus Deutschland machte zudem deutlich: Gehen die Bürger bei Befindlichkeitsstörungen nicht gleich zum Arzt und behandeln sich stattdessen mit Selbstmedikationsarzneimitteln, so gewinnt der Arzt dadurch im Durchschnitt zwei Stunden Zeit pro Tag, die ihm für die Behandlung von Patienten mit ernsten Krankheiten zur Verfügung stehen.

Wenn Krankenkassen wieder OTC bezahlen

Für Krankenkassen könnte es eine Möglichkeit sein, Kosten einzusparen, indem sie ihren Versicherten anbieten, in einem gewissen Umfang Arzneimittel für die Selbstmedikation zu bezahlen. In Deutschland will der Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH) den Krankenkassen das Modell des Selbstmedikations-Budgets schmackhaft machen. Der Hintergrund: Seit 2004 kommen Krankenkassen nicht mehr für nicht-verschreibungspflichtige Arzneimittel (OTC) auf. Der Markt der Selbstmedikationsarzneimittel erlitt dadurch Einbußen und verzeichnet derzeit keine großen Zuwächse. Mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz dürfen Krankenkassen seit Anfang dieses Jahres verstärkt miteinander in Wettbewerb treten und ihren Versicherten Zusatzangebote unterbreiten. Der BAH entwickelte daher ein Modell, das den Kassen die Möglichkeit geben soll, in gewissem Umfang Selbstmedikationsarzneimittel zu erstatten. Der Versicherte erhält von seiner Kasse ein Selbstmedikations-Budget (z. B. 100 Euro im Jahr), das er für OTC-Arzneimittel nutzen kann. Die Krankenkasse hat dadurch verschiedene Vorteile, z. B. Bindung der Versicherten, weniger Ausgaben für Arztbesuche. Ein erster Pilotversuch mit einer Krankenkasse ist derzeit in Vorbereitung und soll in der zweiten Jahreshälfte starten. Derzeit bietet bereits die Techniker Krankenkasse ihren Versicherten an, die Kosten für pflanzliche, homöopathische und anthroposophische Arzneimittel bis zu 100 Euro im Jahr zu erstatten.

Auch andere Länder wollen Selbstmedikation stärken

Ein Blick in die europäischen Länder macht deutlich, dass die Regierungen prinzipiell großes Interesse daran haben, die Selbstmedikation zu stärken. England beispielsweise will seine Bürgerinnen und Bürger befähigen, aktiv Selbstmedikation zu betreiben. Kenntnisse werden bereits in der Schule vermittelt, es werden Selbstmedikationswochen veranstaltet, die auf Möglichkeiten der Selbstbehandlung aufmerksam machen, es gibt eLearning-Kurse im Internet, Internetseiten zur Selbstbehandlung und Angebote in den sozialen Netzwerken.

Italien hat hier dagegen noch Nachholbedarf. Wie ein Vertreter Italiens anmerkte, ist die Selbstmedikation in seinem Land etwas unterentwickelt, vor allem im Süden. Verschiedene Aktionen mit Anzeigenkampagnen, Apps für Verbraucher, Aufklärung über die Schulen sollen hier das Vertrauen der Bürger in die Selbstbehandlung stärken. Einerseits soll die Rolle der Apotheker in der Selbstmedikation herausgestellt werden, auf der anderen Seite öffnete der italienische Staat den Vertrieb einiger OTC-Präparate für Kanäle außerhalb der Apotheke (Parapharmazie und Supermärkte).

In China: Self-Care Day

Ein Blick nach Asien zeigt: Auch dort erkennt man den Wert für das Gesundheitswesen, wenn sich die Bürgerinnen und Bürger bewusst mit der Selbstbehandlung befassen. Ein chinesischer Vertreter des Weltverbandes der Selbstmedikationsindustrie (WSMI) berichtete über den ersten "International Self-Care Day", den der WSMI im vergangenen Jahr am 24. Juli ausrief. Ziel ist es auch hier, das Bewusstsein für die Selbstbehandlung und Selbstmedikation in der chinesischen Bevölkerung zu heben. Das Datum des 24. 7. wurde bewusst gewählt, es symbolisiert den Wert der Selbstmedikation, den man 24 Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche erfährt. Der "Self-Care Day" erzielte große Aufmerksamkeit und wird daher in diesem Jahr erneut in Shanghai veranstaltet. Das Thema in diesem Jahr: "Self-Care: Treat Yourself!". Selbstbehandlung und Selbstmedikation führen zu einer Win-win-Situation für alle Beteiligten, so brachte er es auf den Punkt: sie verbessern die Gesundheit der Bürger, helfen Kosten im Gesundheitswesen zu sparen, bringen Effizienz ins Zeitbudget der Gesundheitsberufe und stärken die Selbstmedikationsindustrie.



DAZ 2012, Nr. 24, S. 24

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