Fortbildung

Große Auswirkungen eines kleinen Unterschieds

Gender-Medizin und geschlechtsspezifische Therapie

Bis heute werden geschlechtsspezifische Unterschiede zwischen Männern und Frauen in der Arzneimittelforschung – aber auch in der Therapie – nicht ausreichend berücksichtigt, beklagte Prof. Dr. Oliver Werz, Jena. So sei die typische Patientin mit chronischen Schmerzen eine 55 Jahre alte Frau. Das typische Studienobjekt zur Erforschung der Analgetikawirkung dagegen sei eine acht Wochen alte männliche Maus.
Oliver Werz Foto: DAZ/wes

Diese Einseitigkeit in der Arzneimittelforschung könne schwerwiegende Konsequenzen haben. So seien schon mehrere große Phase-III-Studien abgebrochen worden, weil beispielsweise bei der Dosisfindung das Geschlecht der Probanden nicht berücksichtigt wurde.

Die geschlechtsspezifische oder Gender-Medizin untersucht die biologischen (sex) und soziokulturellen (gender) Unterschiede zwischen den Geschlechtern und wie diese Erkrankungen beziehungsweise deren Therapie beeinflussen. Bei allen individuellen Ausprägungen unterscheiden sich Männer und Frauen deutlich in ihrem Phänotyp (z. B. Geschlechtsmerkmale), ihren kognitiven Eigenschaften (unterschiedliche Gehirnstruktur), hormonell, in der Lebenserwartung und in ihrer Genetik.


Schwere Erkrankungen, die bei einem Geschlecht deutlich gehäuft vorkommen.

Frauen
Männer
Osteoporose
Nierenkrebs
M. Alzheimer
M. Bechterew
Diabetes mellitus
chronische Hepatitis C
Asthma
Schizophrenie
Migräne
Gicht
Depression
kardiovaskuläre Erkrankungen
Reizdarmsyndrom
rheumatoide Arthritis
Autoimmunerkrankungen

Unterschiedliche Symptome

Auch die Häufigkeit und Schwere bestimmter Erkrankungen unterscheidet sich zwischen den Geschlechtern dramatisch (siehe Tabelle). So haben Frauen generell weniger Herzinfarkte oder Schlaganfälle als Männer. Erleiden sie aber ein solches kardiovaskuläres Ereignis, haben sie eine deutlich niedrigere Überlebenswahrscheinlichkeit als Männer. Das könnte auch mit einer unterschiedlichen Qualität der Symptomatik zu tun haben. So klagen Frauen, die einen Myokardinfarkt erleiden, meist über relativ unspezifische Symptome wie Übelkeit, eventuell mit Erbrechen, Atemnot, Nacken- und Halsschmerzen, Müdigkeit und Schwindel. Die allgemein als Herzinfarktsymptome bekannten Beschwerden wie ausstrahlende Schmerzen und Engegefühl auf der linken Brustseite kommen dagegen eher bei Männern vor. Diese unterschiedliche Symptomatik könnte ursächlich dafür sein, dass Frauen nach einem Myokardinfarkt im Schnitt 40 Minuten später in ein Krankenhaus eingeliefert werden als Männer – und dies wiederum könnte ein (Mit-)Grund für die höhere Sterblichkeit von Frauen nach Infarkt sein.

Unterschiede im Stoffwechsel

Viele für die Pharmakokinetik wichtige physiologische Vorgänge unterscheiden sich zwischen Männern und Frauen deutlich. Das beginnt bei der Resorption, der basale Magen-pH-Wert von Frauen liegt im Schnitt um den Wert 0,5 höher als bei Männern. Auch die Darmmotilität ist langsamer. Für die Verteilung besonders wichtig ist das im Schnitt niedrigere Gewicht von Frauen, wobei der relative Körperfettanteil meist höher liegt. Bei Frauen ist die Organdurchblutung höher, was zu schnellerem Wirkeintritt führen kann. Das Plasmavolumen ist geringer, durch den niedrigeren Gehalt an Plasmaproteinen ist die Plasmaeiweißbindung vieler Substanzen deutlich geringer als bei Männern. Auch der Metabolismus von Frauen unterscheidet sich von dem des Mannes. So werden die Cytochrom-P450-Enzyme CYP1A2, CYP2D6 und CYP2E1 von Männern, CYP3A4 dagegen von Frauen stärker exprimiert. In der Phase-II-Metabolisierung finden viele Reaktionen bei Frauen langsamer statt, da sie eine niedrigere Enzymaktivität aufweisen. Auch exprimieren Frauen durchschnittlich weniger P-Glykoprotein als Männer. Durch die niedrigere glomeruläre Filtrationsrate der Niere ist die renale Elimination bei Frauen niedriger als bei Männern. Deren stärkere tubuläre Rückresorption dagegen ist einer der Gründe, warum Männer viel häufiger unter Gicht leiden als Frauen.


Unterschiede in der Leukotrienbildung


Bis zur Pubertät erkranken Knaben häufiger an Asthma als Mädchen. Mit der Geschlechtsreife nimmt die Zahl asthmakranker Männer stark ab, wogegen die Zahl der Patientinnen stabil bleibt, was dazu führt, dass im Erwachsenenalter deutlich mehr Frauen als Männer an Asthma leiden. Einer der Trigger für Asthma (und andere entzündliche Erkrankungen) sind Leukotriene, proinflammatorische, bronchokonstriktive und die Schleimsekretion in den Lungen fördernde Arachidonsäurederivate, die von den weißen Blutkörperchen (Leukozyten) gebildet werden.

Interessanterweise ist das Blut von Frauen in vitro zu einer viel höheren Leukotriensynthese in der Lage als männliches Blut. Diese höhere Syntheseleistung sinkt aber stark, wenn dem weiblichen Blut Testosteron zugefügt wird. Auf die – sowieso niedrige – Leukotriensynthese männlichen Blutes hat die Testosterongabe keinen Effekt, genauso wie die Zugabe weiblicher Sexualhormone. Auch in vivo konnten diese Unterschiede gezeigt werden: Weibliche Ratten bildeten in einem Entzündungsmodell (Carrageenin-induzierte Pleuritis) viel mehr Leukotriene als männliche Tiere. Werz stellte die Hypothese auf, dass Leukotriene bei der Pathophysiologie entzündlicher Erkrankungen des Mannes eine nur untergeordnete Rolle spielen könnten. Dies würde einige enttäuschende Studien mit Leukotrien-Inhibitoren, die nur an männlichen Tieren durchgeführt wurden, erklären.

Laut Werz konnte gezeigt werden, dass es bei der Wirkung von Inhibitoren der 5-Lipoxygenase (5-LO), einem Schlüsselenzym der Leukotriensynthese, keine geschlechtsspezifischen Unterschiede gab. Inhibitoren des 5-LO-Hilfsenzyms FLAP dagegen sind sowohl in menschlichem Vollblut als auch in Tiermodellen bei weiblichen Probandinnen deutlich wirksamer als bei männlichen.

Pharmakodynamische Unterschiede

Die zahlreichen Unterschiede in der Pharmakodynamik, die zwischen den Geschlechtern herrschen, sind bisher weitgehend nicht verstanden. Neuroleptika, Morphin, Cyclosporin A und viele antiretrovirale Wirkstoffe wirken bei Frauen stärker, ACE-Hemmer und ASS zur Thrombozytenaggregationshemmung sind dagegen beim Mann wirksamer.

Als Ursachen für diese Unterschiede werden die Genetik (X- und Y-Chromosom), Einfluss der Sexualhormone aber auch soziokulturelle Einflüsse wie die Ernährung, die Bereitschaft zum Arzt zu gehen oder Unterschiede im Lebenswandel diskutiert.

Bis heute sind Frauen in vielen klinischen Studien unterrepräsentiert, bis 1993 waren sie von der Teilnahme generell ausgeschlossen. Aber selbst wenn Frauen an den Studien teilnehmen, werden die Ergebnisse meist nicht geschlechtsspezifisch ausgewertet. Dadurch werden viele Arzneimittel für Frauen inadäquat dosiert. Das dürfte nicht unwesentlich dazu beitragen, dass Frauen häufiger als Männer an unerwünschten Arzneimittelwirkungen leiden.


wes



DAZ 2012, Nr. 24, S. 62

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