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Ein Blick hinter die Kulissen des Anzag-Mutterkonzerns

Alliance Boots: Ein Blick hinter die Kulissen des Anzag-Mutterkonzerns

NOTTINGHAM (jz). Ein großes Gelände mit weiten Wegen, vielen Gebäuden und noch mehr Mitarbeitern. Der Hauptfirmensitz des Pharmagroßhändlers "Alliance Boots" in Nottingham, zweieinhalb Autostunden nördlich von London, ist schon wegen seiner Ausmaße beeindruckend. Aber auch die heute existierenden unterschiedlichen Unternehmensfelder und die besondere Atmosphäre innerhalb des Unternehmens tragen zu diesem imposanten Eindruck bei. Die DAZ durfte sich auf dem Firmengelände ansehen, was hinter dem weltweit agierenden Großhandelsunternehmen, zu dem seit 2010 auch die deutsche Anzag gehört, steckt.
Rund 3000 Mitarbeiter arbeiten alleine im Verwaltungsgebäude von Alliance Boots in Nottingham. Es gibt keine einzelnen Büroräume, sondern offen gestaltete Großraumbüros.
Fotos: DAZ/jz

Über ein Areal mit rund 30 Gebäuden, in denen rund 7000 Mitarbeiter arbeiten, erstreckt sich in Nottingham das Alliance-Boots-Firmengelände. Es wird wegen seiner Größe auch "Boots City" oder "Alliance Boots site" genannt. Hier finden alle Unternehmensprozesse gebündelt statt: So forschen Mitarbeiter in einem Labor ("Technical Center") an neuen Produkten – insbesondere im Gesundheits- und Kosmetikbereich. Darüber hinaus gibt es auf dem Firmengelände ebenfalls Verwaltungsgebäude, Produktionsstätten und einen großen Vertriebskomplex.

Eindrucksvoll wirkt insbesondere das Verwaltungsgebäude. Dessen ursprünglicher Teil wurde irgendwann zu klein, stand aber wegen seiner eingebauten hohen Holztüren unter Denkmalschutz. Da er nicht abgerissen werden konnte, wurde kurzerhand angebaut. Das gesamte Gebäude hat heute eine Länge von 300 Metern und beherbergt rund 3000 Mitarbeiter. Anstelle von einzelnen Büroräumen arbeitet die Belegschaft hier in Großraumbüros, die sehr offen gestaltet sind: Nur durch vereinzelte 1,5 Meter hohe Raumteiler sind die jeweiligen Bereiche voneinander abgetrennt.

Motivation wird groß geschrieben An den Wänden findet man bei Alliance Boots motivierende Plakate wie dieses hier, die den richtigen Arbeitsschritt oder korrektes Verhalten beschreiben

Hier berichtet ein Firmenmitarbeiter, wie verbunden das Unternehmen mit Nottingham und wie groß im Gegenzug das Vertrauen der Bevölkerung in das Unternehmen ist. Hinter ihm hängt an der Wand ein Plakat aus dem Jahr 1940: Eine Frau reicht einem kranken Kind einen Löffel mit Medizin. Überschrieben ist die Situation mit dem Satz "In sickness & health you can rely on Boots – there’s a branch near you”. Der Grundgedanke, der hinter Alliance Boots steht, ist hier – genau wie in allen anderen Gebäuden – deutlich zu spüren: Einfach jeder sollte die Möglichkeit haben, sich gut zu fühlen. Das gilt natürlich auch für die Mitarbeiter des Unternehmens. Daher finden sich an den Wänden viele motivierende Plakate, die den richtigen Arbeitsschritt oder korrektes Verhalten beschreiben, das Team des Monats vorstellen oder neue Projekte ausloben. Tatsächlich wirkt es, als ginge man bei Alliance Boots besonders herzlich miteinander um – und das nicht nur, weil sich hier alle mit dem Vornamen ansprechen, wie in England üblich.

Eine kleine Busreise entfernt, aber noch immer auf dem Firmengelände, befindet sich die Produktionsstätte des Unternehmens, das "BCM". Hier werden über vier Etagen täglich ungefähr eine Million Produkte hergestellt – firmeneigene, aber auch andere Produktmarken (anteilig jeweils circa 50 Prozent). Auch dieses Gebäude ist wegen seiner besonderen Bauweise denkmalgeschützt: Es ist überwiegend verglast und dadurch besonders hell, um für so viel natürliches Licht wie möglich zu sorgen. Schon bei seinem Bau hatte man sich dabei etwas gedacht: Den Angestellten sollte das viele Licht das Arbeiten so angenehm wie möglich machen und gleichzeitig konnte viel Energie für die Beleuchtung eingespart werden.

Im Lager- und Vertriebsgebäude für den Einzelhandel, dem "Boots Stores Service Center" werden Waren angeliefert, umverpackt und wieder versendet. Hier lagern durchschnittlich 35.000 Paletten mit Waren, die einen Gesamtwert von rund 400 Millionen britischen Pfund (rund 495 Millionen Euro) haben. Welche Palette wo steht, weiß im Grunde nur der Computer. Rund um die Uhr sind hier Mitarbeiter an zahlreichen Arbeitsstationen mit dem Neuverpacken von Waren für die Endkunden beschäftigt. Auf Wunsch werden die Produkte auch von Hand mit einem Barcode versehen ("tagging"), um sie diebstahlsicher zu machen. Jeden Tag verlassen rund 60.000 neu verpackte Pakete in rund 1700 Touren das Warenhaus, um europaweit ausgeliefert zu werden.

Allrounder: Großhandel, Einzelhandel, Eigenproduktion

Einer der Hauptgeschäftszweige des Unternehmens ist der Pharmagroßhandel. In Zusammenarbeit mit anderen Firmen und Joint Ventures werden mehr als 170.000 Apotheken, Ärzte, Gesundheitszentren und Krankenhäuser aus über 370 Vertriebszentren in 21 Ländern mit Arzneimitteln und anderen medizinischen Produkten und Dienstleistungen versorgt. Firmeneigene Außendienstmitarbeiter bringen Pharmaprodukte für teilnehmende Hersteller in die Apotheken ("Skills in Healthcare"). Außerdem sollen Kooperationsdienstleistungen die unabhängige Apotheke unterstützen. So gibt es entsprechend der deutschen Anzag-Apothekenkooperation "vivesco" in anderen Ländern die Kooperationen "alphega" (Frankreich, Italien, Spanien, Großbritannien, Tschechien und Russland) und "Kring-apotheek" (Niederlande). Im Januar 2012 zählte Alliance Boots rund 5520 kooperierende Apotheken.

Im Einzelhandel, dem zweiten Unternehmensfeld konzentriert sich Alliance Boots auf den Vertrieb von Gesundheits- und Kosmetikprodukten. Das Unternehmen betreibt in elf Ländern 3300 Einzelhandelsgeschäfte ("Boots Stores"), von denen 3200 auch eine Apotheke beinhalten. Verkauft werden dort sowohl firmeneigene, aber auch andere Gesundheits- und Pflegeprodukte – wo eine Apotheke vorhanden ist, auch Arzneimittel. Darüber hinaus vertreibt Boots in rund 625 Optikergeschäften in Großbritannien – 185 von ihnen auf Franchise-Basis – firmeneigene Brillen und Kontaktlinsen ("Boots Opticians").

Im "BCM", der Produktionsstätte von Alliance Boots werden über vier Etagen täglich ungefähr eine Million Produkte hergestellt.

Zu den bekanntesten firmeneigenen Produkten gehören beispielsweise "Serum7", "No7", "Soltan" und "Botanics". Auch auf dem Generikamarkt hat das Unternehmen bereits Fuß gefasst: In fünf Ländern werden die von Alliance Boots produzierten Generika unter dem Markennamen "Almus" vertrieben. Nachdem Boots seine Generikalinie 2008 auch in Deutschland eingeführt hatte – Rabattpartner mehrerer Krankenkassen sollten die firmeneigenen Arzneimittel in den Apotheken positionieren – revidierte das Unternehmen drei Jahre später seine Entscheidung und nahm "Almus" wieder vom deutschen Markt. Hierzulande sind aus dem firmeneigenen Produktportfolio dagegen vier der derzeit 19 firmeneigenen Medizinprodukte (ein Blutdruckmessgerät, ein Digitalthermometer, ein Ohr- und Stirnthermometer und ein Schwangerschaftstest) auf dem Markt. Die Medizinproduktereihe "Alvita" wird in Deutschland in Zusammenarbeit mit dem Konsumgüterkonzern Procter &Gamble verkauft. Nach Angaben des Anzag-Sprechers Thomas Graf soll ab dem 1. Juli ein weiteres hinzukommen.


Jesse Boot, Sohn des Firmengründers John Boot, machte das Unternehmen richtig bekannt.

Vom kleinen Boots store zum globalen Unternehmen

Alles begann im Jahr 1849: Der Landarbeiter John Boot legte den Grundstein für den heutigen Konzern, als er den ersten Boots store in Nottingham eröffnete. Dort verkaufte er von seiner Mutter hergestellte pflanzliche Heilmittel. Sein Sohn, Jesse Boot, der nach dem frühen Tod seines Vaters das Geschäft gemeinsam mit seiner Mutter Mary weiterführte, machte das Unternehmen allerdings erst richtig bekannt. Seine Motivation war, dass jeder – alt und jung, reich und arm, gesund und krank – sich gut und schön fühlen sollte. In dem Bewusstsein, dass die meisten seiner Kunden sich Heilmittel nicht leisten konnten, kaufte er fortan so viele Waren in der Masse, dass er die hergestellten Produkte zu erschwinglichen Preisen verkaufen konnte ("Chemists to the Nation").

Das Geschäft wurde immer populärer und um dem Image eines Billigwarenladens entgegenzuwirken, stellte Jesse Boot einen ausgebildeten Pharmazeuten ein, der Arzneimittel herstellte und abgab. Dieser Schritt verhalf dem Unternehmen zu mehr Prestige und Jesse Boot eröffnete weitere Geschäfte mit integrierten Apotheken. Auch seine Frau Florence Rowe, Tochter eines Buchhändlers, beeinflusste die Ausrichtung des Unternehmens: Bemüht um eine familiäre Atmosphäre im Unternehmen wurden Ausflüge organisiert, Weiterbildungsstätten und sportliche Anlagen für die Belegschaft errichtet.

Nachdem das Unternehmen über viele Jahre in Familienbesitz blieb und expandierte, fusioniertedie Drogeriekette im Jahr 2006 mit dem Unternehmen Alliance UniChem – einem Pharmagroßhandel, der 1938 von einer Gruppe unabhängiger Apotheker gegründet worden war – , um Einzelhandel und Großhandel in einem Unternehmen ("Alliance Boots") zu vereinigen. Im darauf folgenden Jahr übernahm Stefano Pessina, ehemals Hauptaktionär von Alliance UniChem, das Unternehmen gemeinsam mit dem Finanzinvestor KKR. Er führt heute die Alliance Boots Geschäfte in enger Zusammenarbeit mit Ornella Barra, die selbst Apothekerin und im Unternehmen für den Bereich Pharmagroßhandel verantwortlich ist.

Ein "Boots store" wurde im Hauptverwaltungsgebäude exemplarisch nachgebaut.

Auch in Deutschland expandierte der Großhändler: Seit Oktober 2009 hält Alliance Boots die Mehrheitsanteile des deutschen Pharmagroßhändlers megapharm und im Dezember 2010 erwarb das Unternehmen rund 82 Prozent des deutschen traditionsreichen Pharmagroßhändlers Anzag (Andreae-Noris Zahn AG). Bei megapharm freut man sich über den "starken Investor". Und auch für die Anzag ist die Mehrheitsübernahme ein "klarer Vorteil". Sie führe zu einem Zugewinn an Know-how und eröffne neue Möglichkeiten der internationalen Vernetzung und Zusammenarbeit, erklärte der Vorstandsvorsitzende Dr. Thomas Trümper. Das sei ganz im Sinne der Anzag, die sich für die inhabergeführte selbstständige Apotheke stark mache.

Dass sich Alliance Boots in den vergangenen Jahren an die Spitze der europäischen Pharmahandels- und Apothekenkonzerne gearbeitet hat, reicht dem Chef des Unternehmens jedoch noch nicht. Stefano Pessina plant nun, das Unternehmen zum weltweiten Marktführer zu machen. "Ich denke über eine Fusion oder eine Partnerschaft mit einem Global Player nach", sagte er im Rahmen der Bilanzpressekonferenz am 16. Mai in London. Konkrete Gespräche führe man bereits, so der Firmenchef, "aber man muss auch einen finden, der übernommen werden will". Namen wollte er nicht nennen, teilte aber mit, insbesondere im Bereich Distribution und Apotheken zu suchen.



DAZ 2012, Nr. 22, S. 30

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