Wettbewerb in der GKV

Die Ausschreibungsfalle

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Wie Bürokratie unser Gesundheitssystem gefährdet – ein Meinungsbeitrag

Franz Stadler | Spätestens seit dem Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG), das am 1. April 2007 in Kraft trat, scheinen Ausschreibungen das Mittel der Wahl zu sein, um die vermeintliche Kostenexplosion im Gesundheitswesen einzudämmen. Besonders im generischen Bereich wurde auf diese Weise ein Wettbewerb in Gang gesetzt, der den Krankenkassen nach eigenen Angaben inzwischen Einsparungen in Milliardenhöhe verschafft. Aber ist der eingeschlagene Weg wirklich sinnvoll? Sind Ausschreibungen mit Solidarität und Menschlichkeit vereinbar? Sind am Ende die Patienten wieder die Verlierer?

Der Stand am 1. April 2012

Wertet man die ABDA-Datenbank aus, haben inzwischen 633 Wirkstoffe eingetragene Abgaberegeln. Diese sind unmittelbare Folgen der Rabattverträge, die wiederum aus den entsprechenden Ausschreibungen der Krankenkassen hervorgehen. Die Zahl der verzeichneten Kassen-IK-Nummern beläuft sich aktuell auf 348.

Da manche Kassen für einen Wirkstoff mit mehreren pharmazeutischen Unternehmern Verträge abgeschlossen haben, ergibt sich allein auf Wirkstoffbasis die Zahl von 34.453 Abgaberegeln. Zieht man jetzt noch die für die Apotheke maßgebliche Größe der Pharmazentralnummer (= PZN) heran, ergibt sich die fast unglaubliche Zahl von 1.592.078 Kombinationen, aus denen die abzugebende Packung gewählt werden muss. Tendenz stark steigend (Abb. 1). Hier sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass diese Auswertung weder den inzwischen ziemlich unübersichtlichen Hilfsmittelbereich noch die in jüngster Zeit hinzukommenden Versorgungsausschreibungen (Impfstoffe, Zytostatika etc.) berücksichtigt.


Abb. 1: Diagramm Kassenverträge Der steile Verlauf der Zahl der Kassenverträge bezogen auf Wirkstoffe (blaue Linie, Einheiten links) oder auf PZN (rote Linie, Einheiten rechts) zeigt deutlich die Dynamik des Ausschreibungsmarktes.

(Alle Daten beruhen auf der ABDA-Datenbank.)

Wie konnte es dazu kommen?

Die Motivationslagen der unmittelbar Beteiligten, der Krankenkassen als Ausschreibende und der Bieter als Leistungserbringer, sind nicht allzu schwer nachzuvollziehen:

Die Krankenkassen wollen, ohne eigene Gewinnerzielungsabsicht, im Interesse und im Auftrag ihrer Versicherten die beste Leistung zum günstigsten Preis einkaufen.

Um die Qualität der Leistung kümmert sich dabei meist der Gesetzgeber und schraubt die Anforderungen, wie jüngst in der neuen Apothekenbetriebsordnung geschehen, stetig nach oben. Den günstigsten Preis zu bekommen, ist schon wesentlich schwieriger. Abhängig von den gesetzlichen Möglichkeiten versuchten die Kassen in den letzten Jahren verschiedene Kostendämpfungsmaßnahmen. Festbeträge oder Zuzahlungen, erzielten zwar auch Einsparungen, aber deutlich langsamer und in geringerer Höhe als das neue Instrument der Ausschreibungen. Letzteres kann anhand des steilen Kurvenverlaufs in Abb. 1 allerdings nur hinlänglich vermutet werden. Denn die tatsächlich gezahlten Preise je Packung, also die eigentlichen Ausschreibungsergebnisse werden nicht bekanntgegeben. Erklärtes Ziel dieser Maßnahme ist es, den Wettbewerb in Gang zu halten und Absprachen zu verhindern. Das sonst immer wieder geforderte Transparenzgebot spielt hier keine Rolle. Gerechtfertigt wird diese Ungleichbehandlung dadurch, dass mit den Krankenkassen Körperschaften des öffentlichen Rechts und damit letztlich die Allgemeinheit profitieren.

Dass die Ausschreibungen diesen Erfolg haben und dass die kolportierten Einsparungspotenziale gehoben werden können, hängt nicht unwesentlich von den Bietern, den Leistungserbringern, ab. Offiziell sind sie überwiegend gegen Ausschreibungen, aber es gibt auch auf Bieterseite starke Argumente dafür.

Dabei geht es um Umsatz und Marktdurchdringung. Firmen, deren Marktpräsenz vorher gering war, erhalten – sollten sie den Zuschlag einer Ausschreibung bekommen – zwangsweise Zugang zum Markt. Dieses Ziel lässt manch einen Bieter die wirtschaftliche Vernunft vernachlässigen und unrealistisch niedrige Angebote abgeben. Dumping ist zwar verboten, aber nicht solange es noch andere Gewinne zu verrechnen gibt. Selbst das zeitweise geltende Gebot der Auskömmlichkeit wurde jüngst wieder fallen gelassen. Großkonzerne tun sich in dieser Hinsicht relativ leicht, verfügen sie doch über genügend Kompensationsmöglichkeiten. Bereits die Festbetragsregelung führte zu immer höheren Preisen bei neuen, patentgeschützten Wirkstoffen. Außerdem kann man als Pharmahersteller bei seinen sonstigen Kunden (Großhändlern, Apotheken etc.) Rabatte und Skonti kürzen.

Nicht zuletzt gibt es eine Überversorgung des Arzneimittelmarktes in Deutschland und es gibt kapitalstarke Investoren (z. B. Teva, Privat Equity Kapitalgeber im onkologischen Bereich), die kleine und größere Durststrecken überstehen können.

Deren unausgesprochenes Ziel ist Marktkonsolidierung. Marktkonsolidierung bedeutet Oligopolbildung, bedeutet eine Umkehrung der Marktmacht (einer großen Nachfrage stehen nur noch wenige Anbieter gegenüber) und bedeutet wieder steigende Preise.

Folgen

Es gibt eine Reihe mittelbar Betroffener einer Ausschreibung, deren Motivationslage weniger eindeutig ist.

Kleine, lokal agierende, wenig finanzstarke Bieter: Sie versuchen verzweifelt, im Markt zu bleiben, ihre Mitarbeiter zu halten und das erworbene Know how weiterhin nützen zu können. Ihre Auswege sind Bietergemeinschaften und Kooperationen. Ihr vorrangiges Ziel ist Zeitgewinn. Ihre Hoffnungen sind, die Marktkonsolidierung zu überleben oder einen Erkenntnisgewinn bei den Agierenden abwarten zu können.

Die Apotheke vor Ort: Sie hat die undankbare Aufgabe, die Flut an Abgaberegeln umzusetzen ohne ihre Kunden zu verprellen und ohne an deren Fallstricken zu verzweifeln. Der bürokratische und organisatorische Mehraufwand in den Apotheken ist kaum zu beziffern und wird bisher nicht vergütet.

Der Patient: Für ihn wurde Manches unpraktischer und undurchschaubarer. Er musste sich an ständig wechselnde Packungen gewöhnen, resignierte vor den verwirrenden Regeln der Arzneimittelabgabe und sein Vertrauen in das System ist stark erschüttert. Und zu guter Letzt stiegen seine Krankenkassenbeiträge weiter (Abb. 2).


Abb. 2: Entwicklung der Kassenbeiträge Bis 1989 Jahresdurchschnitt aller Beitragssätze; ab 1990 jeweils durchschnittlicher Beitragssatz am 1. Januar; seit dem 1. Juli 2005 ist ein von den GKV-Mitgliedern (Arbeitnehmer und Rentner) allein zu bezahlender Sonderbeitrag von 0,9 Prozent in dem ausgewiesenen Wert enthalten. Seit 2009 gilt ein für alle GKV-Mitglieder einheitlicher Beitragssatz. Zur Jahresmitte 2009 wurde der Beitragssatz durch zusätzliche Mittel im Rahmen des Konjunkturpaketes nach unten geschleust.

Alle Angaben wurden der Homepage der AOK entnommen.

Kommentar

Unbestritten werden durch Ausschreibungen große Einsparpotenziale gehoben. Fakt ist aber, dass die Höhe der erzielbaren Einsparungen alle Bedenken und Einwände hat verschwinden lassen.

Auf Kante genähte Vergabesysteme sind labil. Entsprechend hart und unmenschlich sind die Umgangsformen in diesen Systemen. Die bisher gemachten Erfahrungen lehren, dass nur bei extrem niedrigen Geboten mit einem Zuschlag zu rechnen ist. Auf Seite der Leistungserbringer existiert dadurch eine wirkliche Zukunftsperspektive nur für die großen, kapitalstarken, transnationalen Konzerne, die über genügend Kompensationsmöglichkeiten verfügen und letztlich unersetzlich sind. Nur sie können mittel- und langfristig eine Marktkonsolidierung überstehen. Unrealistisch niedrige Preise werden nur sehr langsam wieder steigen und kleineren Betrieben droht bis dahin permanent die Insolvenz. Bereits kleinste Unregelmäßigkeiten können bei dünner Kapitaldecke schnell zum finanziellen Kollaps der Bieter führen.

Ob aber die Politik oder die ausschreibenden Krankenkassen rechtzeitig erkennen, dass ihr Handeln nur eine Umverteilung des Marktes bewirkt, über eine gnadenlose Zuspitzung des finanziellen Spielraums jeden Rest eines solidarischen Gedankens vertreibt und die Bieter zu komplizierten und aberwitzigen Ausweichmechanismen treibt, sei dahingestellt. Das aktuelle Gerangel um ihre Milliarden-Rückstellungen sollte den Krankenkassen zudem Anlass genug sein, sich auf ihren eigentlichen Auftrag, die Organisation der bestmöglichen Gesundheitsversorgung ihrer Mitglieder, zu besinnen.

Für die Apotheken lässt sich aus diesen Zahlen deutlich der organisatorische Mehraufwand erahnen, den das bürokratische Monster der Ausschreibungen für sie bedeutet. Bedenkt man schließlich dass hier Hilfsmittelverträge und Versorgungsausschreibungen fehlen, so muss man sich bei einer Beibehaltung dieser Praxis den Forderungen nach einer zusätzlichen Vergütung dieser Aufwendungen anschließen. Diese würde jedoch nicht das grundsätzliche Problem lösen.

Und dann haben wir da noch den Patienten, um den sich eigentlich alles dreht. Das System der Ausschreibungen bescherte ihm bisher eine Verschlechterung der Versorgung und trotzdem steigende Beiträge. Das Argument, ohne diese Maßnahmen wären die Ausgaben und damit seine Beiträge noch weiter gestiegen, beruhigt ihn nicht wirklich. Er möchte ein funktionierendes System, das ihm eine möglichst gute Versorgung bietet.

Seine vertrauten, persönlichen Ansprechpartner (Arzt und Apotheker vor Ort) werden im weiteren Verlauf durch immer größere Ketten, Klinikverbünde, Medizinische Versorgungszentren und andere überregional agierende Konstrukte ersetzt und auch nach der abgeschlossenen Marktkonsolidierung wird für ihn höchstwahrscheinlich nichts billiger werden.

Dieser Patient wird auf jeden Fall Verlierer der Ausschreibungen sein: Er muss sich weiter der resultierenden, deutlich unpersönlicheren Strukturen bedienen. Er muss höhere Beiträge zahlen. Weil er krank ist, ist er eben ein gezwungener und kein freier Marktteilnehmer.

Ein Ausschreibungssystem, das allein auf finanziellen Wettbewerb setzt, ist ein unwürdiges Nullsummenspiel, das zulasten Dritter geht. Es stellt nicht den Patienten in den Mittelpunkt, sondern betrachtet ihn als notwendiges Übel im bürokratisch gesteuerten Verteilungskampf um Marktmacht und Umsatzzahlen. Krankenkassen, die das nicht erkennen, sollten vom Gesetzgeber durch ein entsprechendes Ausschreibungsverbot wieder in ihre Schranken verwiesen werden. Leider werden Alternativvorschläge, die das Gesamtsystem und nicht nur Partikularinteressen im Blick haben, bisher kaum diskutiert. Aus humanitärer Sicht steht aber fest: Ausschreibungen gehören nicht in ein solidarisches, menschliches Gesundheitssystem!


Dr. Franz Stadler, Erding,
E-Mail: Dr.Stadler@Sempt-Apotheke.de



Danksagung
Mein Dank gilt allen, die mich bei der Erstellung dieser Arbeit unterstützt haben. Hervorheben möchte ich Herrn Stefan Müller, der für mich den Dschungel der Datenbanken gelichtet hat.



DAZ 2012, Nr. 20, S. 71

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