DAZ aktuell

Lob des Dschungels

Gerhard Schulze

Vor Kurzem war ich zwei Wochen auf Mahé, der Hauptinsel der Seychellen. Traumhaft, und das nicht nur für Touristen. Auch den Einheimischen scheint es gut zu gehen. Sie machen einen durchweg entspannten, freundlichen und wunderbar zurückhaltenden Eindruck, wohnen auf einem hübschen Stück Erde und verfügen über das höchste Pro-Kopf-Einkommen Afrikas. Es gibt eine allgemeine Schulpflicht, kostenlose Gesundheitsversorgung, Heizkosten entfallen. Dank konsequenter Naturschutzpolitik, gezielter Verknappung des touristischen Angebots und Subventionen aus aller Welt pflegt man hier den Ast, auf dem alle sitzen: die Schönheit der Natur und die paradiesischen Strände. Es gibt einen flächendeckend intakten Tropenwald und eine Fülle von Früchten, einsame Wanderwege, einen gepflegten öffentlichen Raum und von abgasarmen Autos befahrene kleine Straßen. Der freie Markt hätte das so nicht hinbekommen.

Nur zwei öffentliche Apotheken habe ich auf den Seychellen entdecken können. Die eine liegt am Rande Victorias, der wohl gemächlichsten Landeshauptstadt der Welt. Die andere ist nicht weit vom zentralen Marktplatz entfernt, aber nur eine Art Bude im Inneren eines Supermarkts, deren Handverkaufstisch gleichzeitig eine Barriere zum Publikum darstellt. Wenigstens ist der winzige Verkaufsraum nicht auch noch durch eine Glasscheibe vom Rest der Welt abgetrennt, wie das bei uns Vorschrift wäre. Es soll noch irgendwo eine dritte Apotheke geben, aber die führt ein solches Schattendasein, dass ich sie nicht finden konnte.

72.000 Menschen leben auf Mahé, die Männer werden im Durchschnitt 69, die Frauen 78 Jahre alt. Es gibt aber nur zwei, vielleicht auch drei Apotheken. Wie kann das funktionieren? Es fallen einige schwerwiegende Erkrankungen weg, Malaria zum Beispiel. Rheumatische Beschwerden, grippale Infekte, Vitaminmangel und rissige Haut dürften selten sein. Und weil alle so entspannt sind, gibt es weniger stressbedingte Erkrankungen und Depressionen. Wer dennoch etwas hat, der geht in eine der drei staatlichen Kliniken und lässt sich dort kostenlos versorgen. In jeder Klinik gibt es eine Krankenhausapotheke mit dem entsprechenden Fachpersonal.

Ein mögliches und politisch korrektes Fazit an dieser Stelle: Mehr Staat! Weniger Markt! Weg mit dem freien Wettbewerb, dann geht es allen gut! Viele sehen das so, auch bei uns in Deutschland.

Aber die Seychellen und wir – kann man das überhaupt vergleichen? Hier der paradiesische Inselstaat, dort das hochkomplexe Industrieland, in dem es sich auch bei Schnee und Eis ganz gut leben lässt? Was auf den Seychellen Sinn macht, kann man nicht auf Deutschland übertragen, und umgekehrt. Eine Gemeinsamkeit gibt es allerdings, die unsere vielen Apotheken und die wenigen dort in einem anderen Licht erscheinen lässt. Sie scheint abwegig, weil sie Äpfel mit Birnen vergleicht, aber genau das ist die Pointe: Wie Pflanzenwelten einen biologischen Evolutionspfad hinter sich haben, so Gesundheitssysteme einen kulturellen.

Die Seychellen sind eine Granitformation aus der Zeit der Kontinentalplattenverschiebung. In Jahrmillionen verirrten sich auf dem nackten Fels zuerst Sand und ein paar Samen, dann Pioniergewächse, schließlich Humus. Jedes Blatt, jeder Ast, jede Frucht trug zur Bildung einer dünnen Schicht fruchtbaren Bodens bei, der die Seychellen zu dem macht, was sie heute sind. Wer hier hirnlos rodet, beseitigt die Lebensgrundlagen, und nur der nackte Granitfelsen bleibt übrig.

Unser Gesundheitssystem wird oft mit einem Dschungel verglichen. Den wirklichen Dschungel betrachten wir als Kostbarkeit, unser Gesundheitssystem dagegen als Problemfall. Wir leben in einem Dschungel aus Produkten und Dienstleistungen, vieles davon scheint sinnlos. Wozu eine Flut wirkstoffgleicher, nur anders verpackter Arzneimittel? Wozu Fachmessen und Pharmaziekongresse? Wozu die inhabergeführte Apotheke? Endlich sollte mal alles aufgeräumt und vereinheitlicht werden!

Aber was wäre dann? Versuchen wir doch einmal eine ganz andere Betrachtungsweise. Unsere Ökonomie und mit ihr eine hochproduktive, aber empfindliche Arbeitswelt ist wie ein Biotop aus zahllosen kleinen Lernschritten hervorgegangen, und sie ist lebensfähig. Die Weisheit des Kahlschlags kann damit nicht konkurrieren. Sie hat schon immer dazu geführt, dass nur noch der nackte Granit übrigblieb. Unser System wird nie perfekt sein und seine Evolution muss weitergehen, aber in seiner Gesamtheit ist jenes feingliedrige Geflecht wechselseitiger Abhängigkeit der Ast, auf dem wir alle sitzen.


Gerhard Schulze


Gerhard Schulze, geb. 1944, ist Professor für Soziologie an der Universität Bamberg. Seine Arbeiten untersuchen den kulturellen Wandel der Gegenwart.



DAZ 2012, Nr. 19, S. 22

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.