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Die Apotheke im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit
In seinem Aufsatz von 1935 über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit schrieb der Philosoph Walter Benjamin über den Beginn einer neuen Ära, deren Auswirkungen uns Kulturwissenschaftler bis heute beschäftigen. Benjamin ging es damals um die neue Qualität von Kunstwerken und um die Art und Weise, wie das Publikum Kunst in Zukunft rezipieren würde. Was früher an bestimmte Orte gebunden war, etwa an eine Konzerthalle oder eine Theaterbühne, konnte nun per Radio und später Fernsehen ins Zimmer geholt werden. Das technische Zeitalter brachte seine eigenen Kunstformen hervor. Filmkunst und Fotografie etwa waren von vorneherein darauf angelegt, reproduziert zu werden, und stellten gegenüber den anderen Kunstrichtungen etwas Neues und völlig Eigenständiges dar.
Also Fotografie statt Malerei? Kino statt Theater? Schallplatte statt Konzert? Die Idee des Originals, bis dahin sozusagen der Markenkern aller Kunst, schien sich aufzulösen. Zwar hatte es immer schon Abgüsse, Prägungen, Holzschnitte, Kupferstiche und Lithographien gegeben, aber das waren manuelle Reproduktionen gewesen und Kunstwerke auf ihre Art, die dem Original nichts anhaben konnten.
Im 20. Jahrhundert schien die seit ewigen Zeiten zelebrierte Aura des Originals vielen nicht mehr zeitgemäß. Die Moderne galt als Wegbereiter einer Kunst, die sich von ihrer "Fundierung auf das Ritual" befreit hatte, wie Benjamin schreibt. "Die Dinge sich räumlich und menschlich näherzubringen, ist ein genauso leidenschaftliches Element der gegenwärtigen Massen, wie es ihre Tendenz zur Überwindung des Einmaligen durch die Aufnahme von Reproduktion ist."
Das Internet gab es zu Benjamins Zeit noch nicht, aber Begriffe wie paste and copy, downloaden, scannen und posten hätten ihn in allem bestätigt. Und je virtueller unsere Kommunikationszusammenhänge werden, je weiter sich Kulturprodukte über geeignete Endgeräte herstellen, erfassen und über das Internet weiterverbreiten lassen, desto banger ertönt die Frage nach ihrer Zukunft.
Wie wirkt sich Virtualität auf die Kulturproduktion aus? Was haben wir noch im Griff, wenn alles, sobald es einmal im Netz gelandet ist, sich unserem Einfluss entzieht? Wozu sich als Autor Gedanken machen, wenn jeder frei darüber verfügen kann, sobald sie als Datensatz zur Verfügung stehen? Wozu ein Bild malen, wenn dessen Reproduktion nicht einmal mehr Sachverstand erfordert? Wozu noch professionelle Fotografen und Regisseure, wenn jeder seine Schnappschüsse und Kurzfilme ins Netz stellt? Wozu für viel Geld ein Musikalbum aufnehmen, wenn es für ein paar Cent heruntergeladen werden kann?
Aufgemischt von neuen Vertriebsformen und bizarren Geschäftsmodellen ist auch die Apothekenkultur von jenem allmählichen, aber umso radikaleren Wandel betroffen, der den Kunstbetrieb schon lange erfasst hat. Die inhabergeführte Apotheke ist das Original, alles andere die gekürzte Fassung, die billige Kopie: Apotheke light, Internetapotheke, Filialen in Supermärkten, Ketten, Pick-up-Stellen in Drogerien.
Verhindern kann man das Neue nur noch in Nordkorea. Was aber, wenn man da nicht hin will? Wie kann sich die inhabergeführte Apotheke auch weiterhin durchsetzen? Walter Benjamin sagt dazu: "Während das Echte der manuellen Reproduktion gegenüber, die von ihm in der Regel als Fälschung abgestempelt wird, seine volle Autorität bewahrt, ist das der technischen Reproduktion gegenüber nicht der Fall." Wenn Reproduktionen im Vergleich zum Original eigene Qualitäten aufwiesen und damit punkten könnten, nicht ortsgebunden zu sein, wären sie gegenüber dem Original im Vorteil.
Zum Glück hatte der Philosoph in vielem Unrecht. An dem festzuhalten, was den Markenkern der Kultur ausmacht, an ihrer Einzigartigkeit, am Unwiederholbaren unendlich langer Reihen kleiner Alltags-episoden: All das hat sich über die Zeit gerettet. Nie waren Originale und die Begegnung mit ihnen so hoch im Kurs wie im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Konzerte, Ausstellungen, ein billiardenschwerer Kunstmarkt, der Hunger nach persönlichen Begegnungen: Aura und Originalität sind so begehrt wie immer und – wenn man es auf die heutigen Massen hochrechnet – so begehrt wie noch nie.
"Das Hier und Jetzt des Originals", schreibt Benjamin, "macht den Begriff seiner Echtheit aus." Hierin liegt, so meine ich, eine Konstante, verbunden mit der ewigen Suche nach dem gewissen Etwas, das den Tag vom Alltag unterscheidet. Auch in Ihrer Apotheke, mit Ihnen und Ihrem Team. Sie sind das Original. Machen Sie etwas daraus.
Gerhard Schulze
Gerhard Schulze, geb. 1944, ist Professor für Soziologie an der Universität Bamberg. Seine Arbeiten untersuchen den kulturellen Wandel der Gegenwart.
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