Interpharm 2012

Die Hälfte aller Krebserkrankungen ist vermeidbar

Was nutzen Krebs-Vorbeugung und Früherkennung?

Trotz verbesserter Aufklärung, staatlich geförderter Früherkennung und einem funktionierenden Gesundheitssystem sterben in Deutschland jährlich immer noch 210.000 Menschen an einer Krebserkrankung. Bis zum Jahr 2050 gehen Epidemiologen davon aus, dass es bis zu 30% mehr Krebserkrankungen geben wird. Der Frage, ob die bisherigen Vorsorgeuntersuchungen nicht ausreichen oder worin ihr Nutzen trotz steigender Fallzahlen liegt, stellte Prof. Dr. Alexander Katalinic vom Lehrstuhl für Klinische Epidemiologie der Universität Lübeck.
Prof. Dr. Alexander Katalinic: Wir kennen die wesentlichen Ursachen von Krebs und wissen eigentlich alles, doch wir handeln wissentlich nicht entsprechend. Foto: DAZ/Darren Jacklin

Drei Formen der Prävention von Krebserkrankungen werden epidemiologisch unterschieden: Die Primärprävention meint die Vorbeugung einer Erkrankung durch Vermeiden der Risikofaktoren, sie umfasst eine individuelle Verhaltens- und eine gesellschaftlich auferlegte Verhältnisprävention. In der Sekundärprävention geht es um die Früherkennung einer Krankheit in einem möglichst heilbaren Stadium. Die Tertiärprävention befasst sich mit der Verhinderung eines Rückfalls nach einer bereits überwundenen Krebserkrankung.

"Wir wissen alles, handeln aber wissentlich nicht danach!"

Rauchen verursacht Lungenkrebs, Übergewicht führt zu gastrointestinalen Tumoren, und Bräunung durch Solarienbänke kann bei Jugendlichen Hautkrebs auslösen – eigentlich sind Ursache und Wirkung klar, die Vorbeugung dieser Krebserkrankungen wäre einfach. Doch meist reicht die individuelle Verhaltensprävention nicht aus, eine von der Gesellschaft erzwungene Verhältnisprävention ist unerlässlich: Seit 2010 stehen Solarienbesuche für Jugendliche unter Bußgeldstrafen, und Nichtraucherschutzgesetze sorgen für Rauchfreiheit in Diskotheken. Dass Vorbeugung insgesamt jedoch durchaus erfolgreich sein kann, zeigt sich in der rückläufigen Entwicklung von Magenkrebserkrankungen: Die medikamentöse Behandlung von Helicobacter-pylori-Infektionen und die Nutzung von Kühlschränken mit Beginn der 70er Jahre (und dem damit verminderten Verzehr von Gepökeltem) führte zu weniger Erkrankungsfällen. Die Forscher gehen davon aus, dass durch ausgewogene Ernährung, mehr Sport, weniger Konsum von Alkohol und Zigaretten auch die Zahl der anderen Krebserkrankungen auf die Hälfte reduziert werden könnten! Doch die Vorbeugung hat auch ihre Grenzen. Die Hälfte aller Krebserkrankungen entsteht aufgrund nicht geklärter Ursache oder aufgrund von Risikofaktoren, die nicht abgestellt werden können, wie z. B. hohes Alter oder genetische Faktoren.

"Rettung durch Frühdiagnose" kontra "Risiko Vorsorge"

Die Früherkennung von Krankheiten, die sekundäre Prävention, zielt darauf ab, Krankheiten festzustellen, bevor sie sich symptomatisch bemerkbar machen. Im Idealfall befinden sie sich noch in einem heilbaren Stadium, wodurch bessere Behandlungsmöglichkeiten bestehen. Die wichtige Bedeutung der Brustkrebs, Prostata- und Darmkrebsvorsorgeuntersuchungen wird daran deutlich, dass sie zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenkasse zählen. Tatsächlich verringern diese Vorsorgeuntersuchungen auch die Sterblichkeit: Epidemiologen gehen davon aus, dass das Mammografie-Screening die Mortalität bei Brustkrebs in den nächsten 20 Jahren um 20 bis 30% verringern kann.

Problematisch wird es jedoch, wenn Ärzte und Patienten die Möglichkeiten der Früherkennung überschätzen. Die in den 70er Jahren geschürten Hoffnungen, durch Früherkennung beispielsweise eine Krebserkrankung beherrschen zu können, wurden mehr und mehr durch die Angst vor falsch-positiven Befunden, Übertherapie und Schäden durch die Untersuchungen verdrängt. Der "Spiegel" titelte 1974 noch "Krebs-Rettung durch Frühdiagnose", im Jahr 2009 wurde daraus "Risiko Vorsorge – Mediziner zweifeln am Nutzen von Gesundheits-Checks".

Die Einschätzung, die Früherkennung nutze in jedem Fall, stellte sich als ebenso falsch heraus, wie die Vorstellung, dass die Vorsorge die Sterblichkeit an sich senken könnte. In einem Zeitraum von 20 Jahren werden von 1000 Frauen nach einem Mammografie-Screening dennoch 15 Frauen an Brustkrebs versterben, ohne Screening wären es 20 Frauen. Die Frühdiagnostik kann den Tod nur bei fünf Frauen verhindern, dies liegt jedoch weit unter den Erwartungen der Bevölkerung.

Die Früherkennung kann auch schaden: Beispielsweise werden in der Brustkrebsdiagnostik in 20 Jahren rund 30% der Frauen mindestens einmal einen falsch positiven Befund erhalten – mit der Gefahr, eine Therapie zu erhalten, die nicht nötig wäre. Auch ein negatives Mammografiescreening-Ergebnis bietet nur eine 99,7-prozentige Sicherheit, dass kein Brustkrebs vorliegt – keine 100-prozentige Sicherheit. Das Screening erhöht die Wahrscheinlichkeit, nicht an Brustkrebs erkrankt zu sein, um lediglich 0,5%.

Die Gefahr einer Übertherapie, einer Verlängerung der Krankheitszeit – jedoch nicht der Lebenszeit – und die Durchführung nutzloser Screenings, die Tumore aufspüren, die entweder gutartig sind oder zeitlebens nie vom Patienten bemerkt worden wären, besteht bei jeder Vorsorgeuntersuchung. Daher sollte der Nutzen der Vorsorgeuntersuchung den möglichen Schaden überwiegen. Die Deutsche Krebshilfe plädiert dafür, sich über die Erkrankung und die Vorsorgeuntersuchung zu informieren, dann nachzudenken und sich nach dieser Bedenkzeit für oder gegen die Untersuchung zu entscheiden.

Fazit: "Informieren, nachdenken, entscheiden"

Durch Vorbeugungsmaßnahmen wie gesunde Ernährung, Verzicht auf Alkohol und Zigaretten könnten 50% der Krebserkrankungen verhindert werden.

Der Nutzen einer Krebsvorsorgeuntersuchung muss gegenüber dem eventuell eintretenden Schaden überwiegen. Die Verantwortung, sich zu informieren, über Nutzen und Risiken der Untersuchung nachzudenken und die Entscheidung zu treffen, liegt individuell beim Patienten.

Um eine objektive Entscheidung treffen zu können, sind Ärzte und Patienten auf evidenzbasierte Informationen angewiesen. Nur bei einem erwiesenen Nutzen können Vorsorgeuntersuchungen die Sterblichkeit senken.


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DAZ 2012, Nr. 12, S. 56

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