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Reportage
10 Jahre Apothekenketten in Norwegen
Bis zum Jahr 2001 waren norwegische Apotheken im Besitz von wissenschaftlich ausgebildeten Apothekern, die diese Apotheken auch leiteten. Mit Ausnahme der Krankenhausapotheken waren alle Apotheken kleine, private Unternehmen, deren Besitzer persönlich verantwortlich für den wirtschaftlichen Erfolg waren und mit ihrem gesamten Vermögen hafteten. Fremdbesitz von Apotheken war nicht erlaubt. Wenn, wie in Norwegen üblich, die Listen der besten Steuerzahler in den Zeitungen erschienen, waren die Apothekenbesitzer abseits der Großstädte in der Regel unter den Top Ten; die Zahlen nannten allerdings den Vorsteuergewinn der Unternehmen und nicht das Netto-Privateinkommen der Inhaber.
Liberalisierung des Apothekenmarkts
Von diesen Steuerlisten beeindruckt, reifte bei den norwegischen Politikern um die Jahrtausendwende der Wunsch, die Preise für OTC-Arzneimittel zu senken, die Apothekenöffnungszeiten zu verlängern, die Zahl der Apotheken in dem dünn besiedelten Staat zu mehren und zugunsten des Allgemeinwohls zu verhindern, dass die vermeintlich so reichen Apotheker noch reicher werden. Die Zauberformel der Politiker hieß dabei: Wettbewerb, mehr Wettbewerb und noch mehr Wettbewerb! Damit sollten alle genannten Ziele erreicht werden.
So kam es schließlich zur Verabschiedung des Gesetzes von 2001, das – außer Arzneimittelherstellern und Ärzten – jedermann die Möglichkeit eröffnete, eine Apotheke zu besitzen und zu betreiben, sofern er in ihr ausreichend pharmazeutisches Fachpersonal beschäftigte. In der Folge kam es zu einer raschen Ausbreitung von Apothekenketten, die bereits im September 2001, also gerade mal sechs Monate nach der Gesetzesnovelle, annähernd zwei Drittel des norwegischen Pharmaeinzelhandels kontrollierten.
Die norwegischen Apothekenketten sind stark mit dem Großhandel verflochten und gehören alle zu großen internationalen Konzernen (Tab. 1). Dies führte natürlich zu grundlegenden Umwälzungen im Apothekenwesen des Landes. Immer wieder diente Norwegen daher in den vergangenen Jahren vermeintlichen oder echten Gesundheitsexperten als eine Art Modellversuch für die Marktliberalisierung bei der Arzneimittelversorgung. Diverse Studien und Gutachten wurden erstellt und finanzmathematische Berechnungen angestellt, die Sicht des einzelnen Apothekers wurde dabei jedoch kaum beleuchtet.
Tab. 1: Eigentümer norwegischer Apothekenketten und Pharmagroßhandlungen | ||
Apothekenkette |
Großhandlung |
Eigentümer |
Alliance apotek/Boots apotek |
Alliance Healthcare |
Alliance Boots Ltd. (GB) |
Vitusapotek NMD |
Grossisthandel AS |
Celesio AG (D) |
Apotek 1 |
Apokjeden Distribusjon AS |
Tamro Oy (FIN)/Phoenix (D) |
In einem persönlichen Gespräch mit dem norwegischen Apotheker Bjarne Thune, der 1977 eine Apotheke in Askøy nahe der Stadt Bergen eröffnet und sich selbstständig gemacht hatte, berichtet nun erstmals ein betroffener Apotheker von seinen Erfahrungen, die er in sechs Jahren als Filialleiter einer großen Apothekenkette machte. Wobei er selbst gleich zu Beginn einräumt: "Bitte denken Sie daran, dass meine Erfahrungen sehr persönlicher Natur sind und keine neutrale Sicht auf die norwegische Pharmazie darstellen. Das Wohlbefinden meiner Kunden und Mitarbeiter sowie das Schicksal meiner Apotheke haben mich in all diesen Jahr zu sehr beschäftigt, als dass ich persönliche Gefühle komplett ausschließen könnte."
ApothekenstatistikHeute existieren in Norwegen 645 Apotheken; davon gehören 591 zu Ketten, 32 sind Krankenhausapotheken, und nur 22 sind völlig unabhängig. Etwa 15 Apothekenbesitzer haben ihre Offizin nie an eine Kette verkauft. Die übrigen unabhängigen Apotheken wurden nach dem Inkrafttreten des Gesetzes von 2001 gegründet. |
"… wenn wir als einzige übrig bleiben?"
Schon bald nachdem das Gesetz zur Aufhebung des Fremd- und Mehrbesitzverbots verabschiedet war, erhielt Bjarne Thune – wie viele seiner Kollegen – zahlreiche Anrufe und Besuche von Vertretern der neu gegründeten Apothekenketten, die ihm schmeichelten und sich mit immer höheren Ablöseangeboten überboten. Sorgenvoll beobachtete er, wie viele seiner Kollegen nach und nach diesen Angeboten erlagen und ihre Apotheken verkauften. Thune sah sich zunehmend als Einzelkämpfer einer immer größer werdenden Übermacht von Kettenfilialen gegenüber und machte sich ernsthaft Sorgen um den Fortbestand seiner beruflichen Existenz. Hinzu kam die stetig wachsende Angst seiner Mitarbeiter, die immer häufiger fragten: "Was ist, wenn wir am Ende als einzige selbstständige Apotheke übrig bleiben?"
"Angebot hörte sich nicht schlecht an"
Schweren Herzens entschied sich Apotheker Thune daher, seine Unabhängigkeit aufzugeben und an die Kette zu verkaufen, die aus seiner Sicht die erträglichste Zukunftsperspektive bot: Keiner seiner Mitarbeiter sollte entlassen werden, die einzelnen Apotheken der Kette sollten nicht zwingend das gleiche Erscheinungsbild haben und Raum für Individualität lassen. Der Kettenbetreiber schien sich den ethischen Regeln der Pharmazie ebenfalls verpflichtet zu fühlen und wollte eigenen Aussagen zufolge gute Pharmazie betreiben anstatt Verkaufsförderung um jeden Preis. Zudem bot er einen guten Preis und bat Thune, die Apotheke als Filialleiter weiterzuführen, sodass er seinem geliebten Beruf weiter nachgehen und seiner treuen Kundschaft weiterhin mit Rat und Tat zur Verfügung stehen konnte.
Zwar war sich Thune durchaus bewusst, dass die Verwaltungsaufgaben eines Apothekenleiters in einer Kette größer sein würden als im selbstständigen Betrieb. Summa summarum hörte sich das Angebot des Kettenbetreibers in seinen Ohren aber gar nicht so schlecht an.
"Seien Sie kreativ!"
Kurz nachdem Bjarne Thune seine Apotheke verkauft hatte, folgte eine weitere grundlegende Veränderung, die die norwegischen Apotheken ins Mark traf: Die Behörden erlaubten den Verkauf von OTC-Arzneimitteln in Lebensmittelgeschäften und Tankstellen. Dies hatte zur Folge, dass der OTC-Umsatz in Thunes Apotheke binnen weniger Monate um 15 bis 20% einbrach. Zudem wurde es den Großhändlern gestattet, Pflegeheime und ähnliche Einrichtungen unter Umgehung der Apotheken direkt zu beliefern. Die führte zu einem weiteren Umsatzverlust von 2 Millionen Norwegischen Kronen (rund 250.000 Euro) jährlich. Die lapidare Antwort der Politiker auf die Proteste der Apothekerschaft lautete: "Seien Sie kreativ! Halten Sie Ausschau nach neuen, rentablen Produkten, die Sie in der Apotheke anbieten können!"
"Ich schämte mich für meine Apotheke!"
Und in der Tat dauerte es nicht lange, bis sich das Erscheinungsbild von Thunes Apotheke in Askøy grundlegend verändert hatte. Es wurde Platz geschaffen für mal mehr, mal weniger seriöse pflanzliche Zubereitungen, neue Kosmetikprodukte in allen möglichen Farben mit fragwürdigen Wirksamkeitsversprechen, Sonnenbrillen und gewöhnliche Brillen, Sportbekleidung, sowie alle möglichen Sportgeräte wie Springseile und Bälle. "Ich schämte mich für meine Apotheke" sagt Bjarne Thune, wenn er an diese Zeit zurückdenkt. Die damalige Situation in der Offizin schildert er folgendermaßen:
"Die ehedem schöne und geordnete Offizin war zu einem totalen Durcheinander verkommen. Die Kunden mussten sich im Zickzack-Lauf durch die vielen Aufsteller, Schütten und neuen Regale schlängeln. Mit Rollstuhl oder Kinderwagen war an ein Vordringen zum HV-Tisch gar nicht mehr zu denken. Nur einige wenige Glückliche fanden in diesem unübersichtlichen Chaos noch das, was sie suchten; stattdessen fanden sie viele andere Dinge. Darüber hinaus bot das Durcheinander viele Möglichkeiten für jene Leute, die nicht für ihre Ware bezahlen wollten, bei einer relativ geringen Wahrscheinlichkeit erwischt zu werden."
"Informationsaustausch blieb auf der Strecke"
Die länger und länger werdenden Öffnungszeiten bei gleicher Mitarbeiterzahl führten laut Thune dazu, "dass die wöchentlichen Besprechungen nicht mehr regelmäßig durchgeführt werden konnten und der Informationsaustausch unter den Mitarbeitern auf der Strecke blieb". Auch die Außendienstmitarbeiter der Arzneimittelhersteller konnten kaum mehr empfangen werden. Darüber hinaus gefährdete der Wegfall einer gemeinsamen Mittagspause der Angestellten das soziale Miteinander und führte immer häufiger zu innerbetrieblichen Problemen, die in früheren Zeiten relativ einfach in persönlichen Gesprächen ausgeräumt werden konnten.
"Die Aktionäre brauchen Zahlen"
Die Verwaltung der Kette kreierte immer mehr und immer umfangreichere Formulare, die die Filialleiter auszufüllen hatten. "Ich hatte zahllose Berichte abzugeben", sagt Thune, "Berichte von denen ich mir nicht vorstellen konnte, dass sie für irgendjemanden hätten interessant sein können, aber ich bin kein Experte!" An jedem Monatsersten mussten die Kennzahlen des Vormonats spätestens bis um 15.30 Uhr per Fax oder E-Mail an die Zentrale übermittelt worden sein. "Wenn der Bericht einmal nicht rechtzeitig fertig war", berichtet Thune, "erhielt ich sofort einen Anruf der Zentrale. Man sagte mir, ich würde das ganze System behindern, die Aktionäre bräuchten die Zahlen unbedingt, und es gäbe nichts, was wichtiger sein könnte!"
Wer diese Aktionäre letztlich waren, war laut Thune selbst für die Angestellten weitgehend intransparent. Durch den ständigen Kauf und Verkauf von Unternehmensanteilen wussten immer nur einige wenige Personen, wer wirklich gerade Eigentümer der Kette war.
"Ich wurde zur Geisel des Budgets"
Jedes Jahr im Herbst erhielt Thune als Apothekenleiter die Budgetvorgaben für das folgende Jahr. In der Regel ein sehr optimistisch kalkuliertes Zahlenwerk, das allenfalls durch noch optimistischere Zahlen geändert werden durfte. Sobald Thune das Budget unterschrieben hatte, war es "sein Budget", für das er allein verantwortlich war: Mit der Unterschrift wurde er, wie er es selbst nannte, zur "Geisel des Budgets. "Um die gewünschten Vorgaben zu erreichen, sollte ich einmal mehr nach kreativen Lösungen suchen oder eben jemanden entlassen …", resümiert Thune seinen jährlichen Kampf mit dem Budget.
Der Verwaltungsapparat und die Chefetage des Unternehmens schienen hingegen kontinuierlich zu wachsen. "Wir konnten uns gar nicht mehr alle Namen der Führungskräfte merken, die uns in der internen Mitarbeiterzeitschrift immer wieder präsentiert wurden", beschreibt Thune den schnellen Personalaufbau in der Administration. "Wir begannen zu fragen, wie viele zusätzliche Mitarbeiter in der Verwaltung von einer einzelnen Apotheke mitfinanziert werden müssten, aber wir bekamen keine Antwort. Doch auch so sahen wir, was passierte: In den Apotheken wurde immer mehr Personal abgebaut, um einen immer größer werdenden Verwaltungsapparat zu finanzieren", konstatiert Thune verbittert.
"… von Wirtschaftsexperten überrollt"
Viele Mitarbeiter der Verwaltung nutzten die Apothekenketten offenbar nur als Karrieresprungbrett, um sich mit ihren beeindruckenden Titeln auf andere, lukrativere Arbeitsplätze zu bewerben. Die meisten hatten das Unternehmen schon längst wieder verlassen, bevor ihre "revolutionären" Ideen zur Effizienzsteigerung und Kundenpsychologie sowie ihre Marketingmaßnahmen evaluiert werden konnten. "Die Apotheker waren schon lange in der Unterzahl und überrollt von einem Heer von Wirtschafts-, Vertriebs-, Marketing-, Rationalisierungs- und Computerexperten, die alle glaubten, mehr von Pharmazie zu verstehen als die dafür ausgebildeten Fachkräfte", schildert Thune die Situation.
Die Eröffnung vieler neuer Filialen in dünn besiedelten Gebieten, zu der die Apothekenketten gesetzlich verpflichtet wurden, führte – trotz niedrigerer Mitarbeiterzahl pro Betrieb – zu einem Mangel an pharmazeutischem Fachpersonal. Norwegen musste daher mehr und mehr Fachkräfte aus anderen skandinavischen Ländern sowie aus Polen und dem Baltikum anwerben. Trotz intensiven Sprachtrainings kam es dadurch häufig zu Verständigungsschwierigkeiten mit der norwegischen Kundschaft.
"Suchen Sie sich einen Platz im Mittelfeld!"
Jeden zweiten Monat besuchten Pseudo-Customer die Apotheken, um sie zu testen. Dazu gehörten nicht nur die Beratungsqualität zu typischen Themen wie Allergie, Erkältung oder Schmerzen, sondern auch Sauberkeit und Ordnung in der Apotheke, die Höflichkeit des Personals und die Diskretion im Umgang mit unangenehmen Fragen. Die Auswertung des Tests erhielt die Apotheke eine Woche später in Form einer Rangliste auf der die Ergebnisse aller Filialen einsehbar waren. Thunes Apotheke war dabei unter den Besten! "Nicht nur einmal, bei jeder Auswertung waren wir unter den Top 5", freut sich Thune noch heute. "Ich war so stolz auf meine Mitarbeiter. Diese Ergebnisse taten uns und unserem Selbstwertgefühl wirklich gut, und wir feierten sie regelmäßig mit sündhaft kalorienreichen Torten!"
Aber die Kettenbetreiber wollten gar nicht, dass Thune und seine Mitarbeiter sich durch herausragende Service- und Beratungsleistungen hervortun. "Suchen Sie sich lieber einen Platz im Mittelfeld und bleiben Sie dort!", bekam Thune laut eigener Aussage aus der Zentrale als Reaktion auf seine regelmäßigen Spitzenplätze zu hören. Man kann sich die Frustration des engagierten Apothekenleiters lebhaft vorstellen. "In diesem Moment", so berichtet er, "hatte ich nur noch den Wunsch, davonzufliegen und den ganzen Mist hinter mir zu lassen!"
"Trotz erlesenen Essens ein fader Geschmack"
Einmal im Jahr, im Juni, wurden alle Mitarbeiter der gesamten Kette für ein Wochenende in das größte und teuerste Hotel Oslos eingeladen. Die Teilnehmer wurden bewirtet und von prominenten Entertainern unterhalten, außerdem wurden an die Apotheken Auszeichnungen in verschiedenen Kategorien vergeben. Dazu gehörten beispielsweise die Kategorien "Umsatz pro Mitarbeiter", "Umsatz pro Kunde", "Generikaumsatz" … oder mit anderen Worten: Umsatz, Umsatz, Umsatz!
"Trotz des erlesenen Essens hatte ich einen faden Geschmack im Mund. Irgendwie stellte sich mir immer wieder die Frage, wie es zusammenpasst, dass einerseits immer weniger Mitarbeiter in meiner Apotheke stehen und andererseits so viel Geld für eine übertriebene Party hinausgeworfen wird", schildert Thune seine Eindrücke der Veranstaltung. Seine Frustration stieg von Jahr zu Jahr, und schließlich entschied er sich, wie er selbst sagt, zu einem "nicht gerade mutigen Schritt": Er kündigte und ging – etwas vorzeitig – in den Ruhestand.
"Lebewohl!"
Nach 30 Jahren Apothekenleitung – davon sechs Jahre als "Geisel des Budgets" – sagte Thune der Pharmazie und seinen Kollegen, mit denen er teilweise über mehrere Jahrzehnte zusammengearbeitet hatte, Lebewohl. Er wusste, dass er diese loyalen Mitarbeiter vermissen würde, ebenso wie viele seiner Kunden, nicht aber das Kettensystem und seine überbordende Administration! Er war froh, das Leben mit der Apothekenkette hinter sich zu lassen, wie so viele seiner frustrierten Kollegen.
Doch was geschah mit seinen ehemaligen Mitarbeitern? Als er die Apotheke an die Kette verkaufte, hatte er 18 Mitarbeiter; als er sie 2008 verließ, immerhin noch 16. Danach sank das Personal innerhalb nur eines Jahres auf gerade einmal zwölf Mitarbeiter. Zwei Personen verließen die Apotheke, kurz nachdem Thune gekündigt hatte, und fanden problemlos Anstellungen in anderen Apotheken. Sie wurden ebensowenig ersetzt wie eine Kollegin, die innerhalb der Kette versetzt wurde, und eine Mitarbeiterin, die – nach achtjähriger Betriebszugehörigkeit – entlassen wurde; die Letztere fand ebenfalls unmittelbar darauf eine neue Anstellung bei einer anderen Apothekenkette.
Wie hat sich diese "Rationalisierung" auf den Apothekenbetrieb und die Betreuung der Patienten ausgewirkt? Bjarne Thune ist der Frage nicht weiter nachgegangen, aber er kann sich die Antwort denken.
Bericht
Dr. Andreas Ziegler, Großhabersdorf, andreas.ziegler@zience.de
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