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"Auf routinemäßigen Einsatz von HES-Präparaten verzichten!"

Hersteller von HES-Präparaten und das BfArM sehen trotz aller Diskussionen um die Studienlage ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis. Diese Einschätzung teilen Prof. Dr. Konrad Reinhart, Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin des Universitätsklinikums Jena, und seine Mitarbeiterin Dr. Christiane Hartog nicht. Im Gespräch mit der DAZ erklären sie, warum sie den routinemäßigen Einsatz von HES-Präparaten nicht befürworten. Neben der Frage der Evidenz ist dies auch eine Frage der Kosten.

Prof. Dr. Konrad ­Reinhart

DAZ: Frau Dr. Hartog, Herr Professor Reinhart, welche Risiken sehen Sie bei einer Volumenersatztherapie mit HES-Präparaten, wie unterscheiden sich diese Risiken bei Präparaten der 1., 2. und 3. Generation?

Reinhart: Risiken betreffen Störungen der Blutgerinnung und der Nierenfunktion und die Speicherung von HES mit der Folge von Pruritus und Organversagen. Bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion ist das Risiko für Nebenwirkungen insgesamt erhöht. Aufgrund der Langzeitwirkungen von HES korreliert das Risiko für Nebenwirkungen nicht mit der Tagesdosis, sondern mit der insgesamt verabreichten kumulativen Dosis. Für diese gibt es in Deutschland bisher keinerlei Einschränkungen. Die erlaubte maximale Tagesdosis für Voluven® liegt bei 50 ml/kg KG. Kumulative Dosen von 100-500 ml/kg KG wären demnach erlaubt. Die kumulativen Dosen der für die Zulassung vorgelegten Studien lagen jedoch lediglich um 30 ml/kg KG.

Klinische Studien mit ausreichender methodischer Qualität fehlen daher völlig, auch zum neuen HES 130 [1]. Methodische Qualität bedeutet, dass eine ausreichend hohe Patientenzahl eingeschlossen wird. Wie Tabelle 1 zu entnehmen ist, sind in Abhängigkeit von der Fragestellung und Population kontrollierte Studien mit mehreren Hunderten bzw. Tausenden von Patienten nötig. Bisherige Studien waren meist viel zu klein. Weiterhin ist der Vergleich mit Kontroll-Lösungen nötig, die diese Risiken nicht aufweisen, d. h. mit Kristalloiden oder Humanalbumin. Die meisten vorliegenden Studien haben HES mit anderen synthetischen Kolloiden, oft sogar anderen HES-Lösungen verglichen. Die Beobachtungsdauer sollte nicht, wie bisher meist üblich, nur 1 – 2 Tage, sondern erheblich längere Zeiträume wie z. B. 90-Tage betragen, um Langzeiteffekte zu erfassen.

Tab.1: Beispielhafte Kalkulation der benötigten Studienpopulation [aus 1]*

Klinisch relevantes Outcome
Inzidenz bei
Studienbeginn
Geschätztes
Ausmaß der
Veränderung
Benötigte Patientenzahl (in 2 Studien-Gruppen)*
Bemerkungen
Akutes Nierenversagen bei herz-chirurgischen Eingriffen
10%
5%
1000
Inzidenz nach Rioux et al.; Risikoreduktion ist hypothetisch.
28-Tage-Mortalität bei Intensivpatienten
15%
3%
7000
Kalkulation der Studiengröße (mit einer Power von 90%) entsprechend Finfer et al.
28-Tage-Mortalität bei Sepsis-Patienten
40%
10%
600
Kalkulation der Studiengröße entsprechend Brunkhorst et al.
Akutes Nierenversagen bei Sepsis-Patienten
50%
15%
120
Kalkulation der Studiengröße entsprechend Schortgen et al.
Zahl der Patienten, die allogene Blutprodukte benötigen
50%
10%
800
Inzidenz nach Carless et al. and Carless et al.;
Risikoreduktion ist hypothetisch.
Akutes Nierenversagen bei Intensivpatienten
70%
15%
350
Inzidenz nach Hoste et al.; Risikoreduktion ist hypothetisch.

* zweiseitiger Test, alpha Fehler 5%, Power 80% – sofern nicht anders angegeben


Da solche Studien fehlen, lässt sich derzeit nicht sagen, ob sich Präparate der 1., 2. oder 3. HES-Generation bezüglich ihrer Risiken unterscheiden. Einige bisherige Analysen lassen annehmen, dass dies möglicherweise nicht der Fall ist , so z. B. bezüglich des Blutverlustes nach HES 450/0.7 und HES 200/0.5 in der Kardiochirurgie [2] oder bezüglich der Nierenfunktionseinschränkung bei intensivmedizinischen Patienten [3]. Weiterhin fehlen Daten, die belegen, dass HES in irgendeiner Indikation zu einer Verbesserung der klinischen Outcomes beiträgt. In größeren, teilweise Multicenterstudien wurde gezeigt, dass die Anwendung von HES keinen Vorteil bringt bei Patienten mit schwerer Sepsis [4], bei Schlaganfall [5, 6], bei Kindern mit Dengue-Schock Syndrom [7], bei schwangerschaftsbedingtem Bluthochdruck [8], beim postoperativen Erbrechen [9] oder beim sensorineuralen Hörverlust [10].

Die Einschätzung, dass die Sicherheit bzw. die klinische Überlegenheit von HES-Lösungen unzureichend belegt ist, wird weltweit auch von anderen Autoren geteilt, darunter auch von Autoren der Cochrane Collaboration [11 – 14].


Dr. Christiane Hartog

DAZ: Sie kritisieren die Zulassung der HES-Präparate auf Basis der Altzulassungen, das BfArM verteidigt dieses Verfahren, da es nur von einem geringen Innovationsgrad der moderneren HES-Produkte ausgeht und umfangreiche klinische Erfahrungen vorliegen würden. Wie bewerten Sie die vorhandenen klinischen Studien und welche Forderungen haben Sie?

Hartog: Die Erst-Zulassung von HES und anderen synthetischen Kolloiden erfolgte in den 1960er Jahren oder früher anhand von damals geltenden Kriterien, die den heutigen Sicherheitsstandards nicht mehr entsprechen. Es ist nicht davon auszugehen, dass HES 450/0,7 (Hetastärke, die erste damals zugelassene HES-Lösung) unter Anwendung der heute für die Zulassung von neuen Substanzgruppen bzw. Arzneimitteln geltenden Kriterien überhaupt noch zugelassen werden würde, da es nie eine "pivotal study" zu dieser Substanz gegeben hat. Das Gleiche gilt im Übrigen auch für andere synthetische Kolloide wie Gelatine oder Dextran. Gelatine wurde z. B. in den 70iger Jahren in den USA wegen Blutungskomplikationen vom Markt genommen. Dem BfArM ist beizupflichten, dass der Innovationsgrad der moderneren HES-Produkte gering ist. Umfangreiche klinische Erfahrungen liegen zwar vor, jedoch nicht in Form von kontrollierten Studien mit ausreichender methodischer Qualität, die einen Vergleich der Sicherheit und Effektivität mit Kristalloiden oder Humanalbumin erlauben würden.

Bis Studien mit ausreichender Qualität zur Sicherheit und Effektivität von HES-Lösungen vorliegen, sollte auf ihren Einsatz verzichtet werden. Derzeit laufen solcher Studien in Australien und Skandinavien ("CHEST” – clinicaltrials.gov NCT00935168; "6S” – clinicaltrials.gov NCT00962156).


DAZ: Das BfArM sieht in den möglicherweise gefälschten HES-Studien durch Professor Boldt kein zulassungsrelevantes Problem, da Boldt nicht an Zulassungsstudien beteiligt gewesen sein soll. Teilen Sie diese Einschätzung?

Reinhart: Formaljuristisch gesehen hat die Behörde völlig recht. Prof. Boldt hat lediglich mit zahllosen Beiträgen und Vorträgen weltweit wesentlich zur Verbreitung von HES beigetragen. Er hat vor allem die bislang nicht bewiesenen, angeblichen positiven Zusatzeffekte von HES verbreitet und zur Verharmlosung der HES-assoziierten Nebenwirkungen beigetragen. Die jenseits des Volumeneffekts unterstellten, anti-inflammatorischen oder die Mikrozirkulation verbessernden Effekte beruhen zum großen Teil auf Studien von Prof. Boldt, auf denen inzwischen ein schwerer Schatten liegt. Daneben ist die klinische Relevanz solcher Effekte, falls es sie gäbe, nie nachgewiesen. Das Problem der Zulassung von HES liegt nicht in möglicherweise gefälschten Studien, sondern darin, dass die Erstzulassung bereits die erforderlichen Nachweise für Sicherheit und klinisch relevante Effektivität vermissen ließ.


DAZ: Welche Form der Volumenersatztherapie halten Sie bei welchen Indikationen für vertretbar?

Reinhart: Auf dem Boden der derzeitigen Datenlage sollten vorwiegend Kristalloide zum Einsatz kommen. Für Kristalloide sprechen auch die im Vergleich zu synthetischen Kolloiden und Albumin deutlich geringeren Kosten (s. Tab. 2) Ob balancierte, d. h. kochsalzreduzierte Lösungen gegenüber physiologischer Kochsalzlösung einen klinisch relevanten Vorteil besitzen, ist derzeit unzureichend durch adäquate klinische Studien belegt. Weltweit ist physiologische Kochsalzlösung nach wie vor das am häufigsten eingesetzte Kristalloid.

Tab. 2: Krankenhauskosten für gebräuchliche Plasmaersatzlösungen (500 ml).

Die Daten können in anderen Krankenhäusern unterschiedlich sein und dienen nur zur Orientierung [PD Dr. Michael Hartmann, Krankenhausapotheke, Universitätsklinikum Jena].

Lösung
Preis
(brutto)
0,9% Natriumchlorid-Lösung
0,70 €
Ringerlactat
0,80 €
6% HES 130/0,4
6,00 €
6% Gelatinelösung
3,50 €
5% Albumin
26,00 €


Da mit dem Einsatz von Kolloiden das zu verabreichende Volumen nicht, wie in vielen Lehrbüchern verbreitet, im Verhältnis 1:4, sondern im Mittel lediglich im Verhältnis 1:1,5 reduziert wird, relativiert sich ein zentrales Argument gegen den Einsatz von Kristalloiden, dessen klinische Relevanz ohnehin nie belegt wurde [15]. In den großen klinischen Studien bei Intensivpatienten konnte selbst die vermutete schnellere hämodynamische Stabilisierung durch Kolloide nicht bestätigt werden.

Synthetische Kolloide sollten wegen der fehlenden Überlegenheit und einem im Vergleich zu Kristalloiden und Humanalbumin deutlich erhöhten Risikoprofil nicht verwendet werden.

Für Albumin sind Indikationen bei schwerer Hypalbuminämie, spontan bakterieller Peritonitis, und möglicherweise bei schwerer Sepsis gegeben [16]; dies ist derzeit jedoch noch Gegenstand laufender Untersuchungen.

Albumin sollte ebenso wie synthetische Kolloide nicht bei Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma verwendet werden [17,18].


DAZ: Frau Dr. Hartog, Herr Professor Reinhart, wir danken Ihnen für das Gespräch!


Prof. Dr. med Konrad Reinhart, Dr. med. Christiane Hartog, Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Universitätsklinikum Jena, Erlanger Allee 101, 07747 Jena


Interview: Dr. Doris Uhl, Stuttgart


Literatur

[1] Hartog CS, Kohl M, Reinhart K. A systematic review of 3rd generation hydroxyethyl starch (HES 130/0.4) in resuscitation: Safety not adequately addressed. Anesth Analg 2011; in press.

[2] Wilkes MM, et al.: Albumin versus hydroxyethyl starch in cardiopulmonary bypass surgery: a meta-analysis. Ann Thorac Surg 2001;72(2):527 – 33.

[3] Schortgen F, et al.: The risk associated with hyperoncotic colloids in patients with shock. Intensive Care Med 2008;34(12):2157 – 68.

[4] Brunkhorst FM, et al.: Intensive insulin therapy and pentastarch resuscitation in severe sepsis. N Engl J Med 2008;358(2):125 – 39.

[5] Aichner FT, et al.:Hypervolemic hemodilution in acute ischemic stroke: the Multicenter Austrian Hemodilution Stroke Trial (MAHST). Stroke 1998;29(4):743 – 9.

[6] Rudolf J: Hydroxyethyl starch for hypervolemic hemodilution in patients with acute ischemic stroke: a randomized, placebo-controlled phase II safety study. Cerebrovasc Dis 2002;14(1):33 – 41.

[7] Wills BA, et al: Comparison of three fluid solutions for resuscitation in dengue shock syndrome. N Engl J Med 2005;353(9):877 – 89.

[8] Ganzevoort W, et al.: A randomised controlled trial comparing two temporising management strategies, one with and one without plasma volume expansion, for severe and early onset pre-eclampsia. BJOG 2005;112(10):1358 – 68.

[9] Haentjens LL, et al.: Does infusion of colloid influence the occurrence of postoperative nausea and vomiting after elective surgery in women? Anesth Analg 2009;108(6): 1788 – 93.

[10] Klemm E, et al.: Hemodilution therapy with hydroxyethyl starch solution (130/0.4) in unilateral idiopathic sudden sensorineural hearing loss: a dose-finding, double-blind, placebo-controlled, international multicenter trial with 210 patients. Otol Neurotol 2007;28(2):157 – 70.

[11] Groeneveld AB, Navickis RJ, Wilkes MM: Update on the Comparative Safety of Colloids: A Systematic Review of Clinical Studies. Ann Surg 2011.

[12] Zarychanski R, Turgeon AF, Fergusson DA, Cook DJ, Hebert P, Bagshaw SM, et al.: Renal outcomes and mortality following hydroxyethyl starch resuscitation of critically ill patients: systematic review and meta-analysis of randomized trials. Open Med 2009;3(4):E196-209.

[13] Dart AB, Mutter TC, Ruth CA, Taback SP: Hydroxyethyl starch (HES) versus other fluid therapies: effects on kidney function. Cochrane Database Syst Rev 2010(1):CD007594.

[14] Wiedermann CJ, Dunzendorfer S, Gaioni LU, Zaraca F, Joannidis M: Hyperoncotic colloids and acute kidney injury: a meta-analysis of randomized trials. Crit Care 2010;14(5):R191.

[15] Hartog CS, Bauer M, Reinhart K: Efficacy and safety of colloid resuscitation in the critically ill. Anesth Analg 2011, in press.

[16] Finfer S, McEvoy S, Bellomo R, Liu B, McArthur C, Myburgh J, et al.: Impact of albumin compared to saline or organ function and mortality of patients with severe sepsis Intensive Care Med 2010:in press.

[17] Finfer S, Bellomo R, Boyce N, French J, Myburgh J, Norton R: A comparison of albumin and saline for fluid resuscitation in the intensive care unit. N Engl J Med 2004;350(22):2247 – 56.

[18] Myburgh J, Cooper DJ, Finfer S, Bellomo R, Norton R, Bishop N, et al.: Saline or albumin for fluid resuscitation in patients with traumatic brain injury. N Engl J Med 2007;357(9):874 – 84.



DAZ 2011, Nr. 5, S. 63

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