Personalisierte Medizin

Advanced Therapies – Medizin der Zukunft

Arzneimittel für neuartige Therapien

Von Christine Kriete

Biotechnologisch bearbeitete Gewebeprodukte, Gentherapeutika und somatische Zelltherapeutika sind die Arzneimittel der Zukunft. Sie sind individuell auf den jeweiligen Patienten zugeschnitten und werden unter dem Begriff "Advanced Therapies Medicinal Products" (ATMP) zusammengefasst. Insbesondere Gentherapeutika haben das Interesse von Wissenschaft und Forschung auf sich gezogen, da sie erstmals die kausale Therapie von bisher unheilbaren Erbkrankheiten sowie einigen Krebserkrankungen ermöglichen.

Werden Krankheiten im Allgemeinen mit Arzneimitteln behandelt, die ihre Wirkung durch pharmakologische, immunologische oder metabolische Effekte entfalten, setzen die Advanced Therapies beim Genom der Patienten an oder stimulieren die Regeneration von Geweben oder ganzer Organe. Ihnen ist gemeinsam, dass sie nicht als industrielle Fertigprodukte in den Handel kommen, sondern individuell hergestellt werden.

Klassifizierung der ATMP

Die Arzneimittel der Advanced Therapies werden derzeit durch drei Klassen repräsentiert:

  • somatische Zelltherapeutika,
  • Gentherapeutika und
  • biologisch bearbeitete Gewebeprodukte.

Die Letzteren werden durch das Tissue Engineering hergestellt. Dabei werden ex vivo (in vitro) Zellverbände, komplexe Gewebe oder sogar Organe gezüchtet und anschließend transplantiert, um zerstörtes oder geschädigtes Gewebe zu ersetzen, z. B. bei degenerativen Erkrankungen oder schweren Verbrennungen.

Dagegen erfolgt bei der Applikation von somatischen Zelltherapeutika und Gentherapeutika ein Gentransfer, wobei zwei Strategien möglich sind: Im Falle des Ex-vivo-Verfahrens werden dem Patienten geschädigte Zellen entnommen und ihnen im Labor spezifische Gene oder Gensequenzen eingefügt. Die genetisch modifizierten Zellen werden anschließend in den Körper infundiert, wo sie regulierend auf den gestörten Zellzyklus einwirken und Dysfunktionen korrigieren oder vollständig beseitigen.

Im Falle des In-vivo-Verfahrens wird dem Patienten die therapeutische DNA oder RNA mithilfe geeigneter Vektoren, die den Transport zu den Zellkernen mit den defekten oder pathologisch veränderten Genen gewährleisten, direkt appliziert. Adenoviren oder Retroviren haben sich in der Vergangenheit als geeignete und sichere Vektoren erwiesen, doch birgt dies ein gewisses Risiko, weil Viren Immunreaktionen auslösen können und sich im Körper des Patienten unkontrolliert vermehren können. Deshalb versucht man seit einigen Jahren, nicht-virale Vektoren zu entwickeln.

Innovationsmotor NGFN

Ermöglicht wurde die Entwicklung der Advanced Therapies zum einen durch den rasanten Fortschritt der Molekularbiologie und Gentechnik, zum anderen durch das bessere Verständnis genetisch bedingter Erkrankungen und die Identifizierung genetischer Defekte mithilfe moderner Hochdurchsatz-Verfahren. Als "Innovationsmotor" ist das 2001 gegründete Nationale Genomforschungsnetzwerk (NGFN) hervorzuheben.

Erforscht werden u. a. die genetischen Komponenten oder Prädispositionen verschiedener Krankheiten wie Krebs, Allergien, Infektionen, Entzündungen und Herzinsuffizienz. Parallel dazu entwickelten sich die Pharmakogenetik, die interindividuelle Wirksamkeitsunterschiede von Arzneistoffen durch bestimmte genetische Variationen erklärt, und die Pharmakogenomik, die auf der Grundlage der Genotypisierung Arzneistoffe für bestimmte Populationen oder individuell für einzelne Patienten entwickelt.

Dadurch hat sich die klassische Vorstellung von uniformen Krankheitsbildern und Therapien grundlegend geändert. Als Konsequenz wurden die oben genannten ATMP entwickelt, von denen hier die somatischen Zelltherapeutika und Gentherapeutika (zusammen: Gentransfer-Arzneimittel) näher beleuchtet werden sollen.

Wirkungsprinzip von Gentransfer-Arzneimitteln

Während beim Tissue Engineering Gewebe oder Organe im Labor rekonstituiert und dann dem Patienten transplantiert werden, beeinflussen die Gentransfer-Arzneimittel direkt die Biosynthese in bestimmten Zellen. Teils werden defekte Gensequenzen oder Gene ersetzt, sodass das Gen wieder seine physiologischen Aufgaben ausüben kann. Teils werden bestimmte Gene ausgeschaltet, die mit der Entstehung und Progression von Krankheiten assoziiert sind. Damit sind nicht nur Erbkrankheiten, sondern auch Krebserkrankungen wie Brustkrebs, das Pankreaskarzinom oder akute lymphatische Leukämien Indikationen für Gentransfer-Arzneimittel.

Bei über der Hälfte aller Krebserkrankungen ist das Tumorsuppressor-Gen p53 mutiert; die Folge sind Störungen des Zellzyklus und der Apoptose, sodass das Tumorgewebe unkontrolliert wachsen kann. Eine Gentherapie solcher Krebserkrankungen könnte künftig die chirurgische Operation mit Chemo- oder Radiotherapie ergänzen.

Auch Krankheiten, die auf einem Mangel von körpereigenen Hormonen und Enzymen beruhen, könnten gentherapeutisch behandelt werden, indem die genetische Ursache für den Mangel beseitigt wird, d. h. das defekte Gen ersetzt wird.

Weitere mögliche Indikationsgebiete für Gentherapeutika sind schwerwiegende, bisher nur unzureichend behandelbare oder therapieresistente Infektionskrankheiten. Hierzu zählen Aids, Virus-Hepatitiden, Malaria und Infektionen mit multiresistenten Bakterien.

Passgenaue Gentherapeutika

Im Labor (in vitro) ist der Austausch von Genen in menschlichen Chromosomen bereits zur Routine geworden. Die gleichen Manipulationen in Versuchstieren und im Menschen (in vivo) vorzunehmen, ist die Herausforderung der aktuellen biomedizinischen Forschung. Es war einer der ersten Erfolge, durch gentherapeutisch veränderte Zellen die Neubildung von Blutgefäßen sowohl im Kaninchen als auch im Menschen zu stimulieren. Inzwischen sind bereits einige Gentransfer-Arzneimittel entwickelt worden. Seit dem Jahre 1990, als Patienten mit der erblich bedingten Immunschwäche ADA-SCID erstmals gentherapeutisch behandelt wurden, haben über 4000 Patienten Gentherapeutika erhalten.

In China wurde 2003 das erste Gentransfer-Arzneimittel (Gendicine™) für die Therapie des Plattenepithelkarzinoms an Kopf und Nacken, einer der häufigsten Krebsarten in der chinesischen Bevölkerung, zugelassen. Sein therapeutischer Effekt basiert auf dem Transfer des Tumorsuppressor-Gens p53 mithilfe eines Adenovirus in die Tumorzellen und der anschließenden Expression dieses Gens.

Gesetzliche Regelungen

In Deutschland sind durch das Embryonenschutzgesetz von 1990 Keimbahntherapien und Gentherapien von Embryonen und Föten verboten. Um bei den erlaubten Gentherapien die Unversehrtheit, Würde und Identität des Menschen zu schützen, hat die Bundesärztekammer 1989 die "Richtlinien zur Gentherapie beim Menschen" beschlossen und eine Kommission für Somatische Gentherapie (KSG) berufen, die die Ethikkommissionen bei der Begutachtung von Studienvorhaben mit Gentransfer-Arzneimitteln unterstützt. Die KSG war zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für Gentherapie an der Einrichtung des Deutschen Registers für somatische Gentransferstudien (DeReG) beim Universitätsklinikum in Freiburg beteiligt.

Der Europarat hat 1997 eine Biomedizinkonvention beschlossen, die am 1. Dezember 1999 in Kraft trat und seither kontinuierlich durch Zusatzprotokolle ergänzt wurde, um den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung abzubilden und den ethischen Herausforderungen gerecht zu werden: Sie betreffen das Verbot des Klonens von menschlichen Lebewesen (am 1. März 2001 in Kraft getreten), die Transplantation von menschlichen Organen und Geweben (1. Mai 2006) sowie die biomedizinische Forschung (1. September 2007).

Die Biomedizinkonvention baut auf den medizinisch-ethischen Grundsätzen der Deklaration von Helsinki auf. Sie beschränkt die Manipulation des menschlichen Genoms und damit die Indikationen von ATMP auf lebensbedrohliche, schwerwiegende oder unheilbare Erkrankungen. Weiterhin darf für die jeweilige Indikation keine zufriedenstellende Therapieoption zur Verfügung stehen, und ein Erfolg des ATMP muss wahrscheinlich sein.

Am 20. Dezember 2007 trat die europäische Verordnung 1394/2007/EU über Arzneimittel für neuartige Therapien (ATMP-Verordnung) in Kraft. Eine Konsequenz war, dass bei der europäischen Zulassungsbehörde (European Medicines Agency, EMA) das Committee for Advanced Therapies (CAT) eingerichtet wurde, das die Zulassung von ATMP beschleunigen soll. Unterstützt wird das CAT durch Arbeitsgruppen für

  • biologisch oder biotechnologisch hergestellte Arzneimittel (Biologics Working Party, BWP),
  • Arzneimittel, die lebende Zellen enthalten (Cell-based Products Working Party, CPWP), sowie
  • Gentherapeutika (Gene Therapy Working Party, GTWP).

Vorsitzender des CAT ist Dr. Christian Schneider vom Paul-Ehrlich-Institut (PEI), der an der Erstellung europäischer Leitlinien und Empfehlungen zur Durchführung klinischer Studien mit Gentransfer-Arzneimitteln beteiligt war.

Aufgrund der ATMP-Verordnung wurde der § 4b "Sondervorschriften für Arzneimittel für neuartige Therapien" in das Arzneimittelgesetz (AMG) eingefügt; er ist am 23. Juli 2009 durch die 15. AMG-Novelle rechtskräftig geworden.

Beratung durch das PEI

In Deutschland ist das Paul-Ehrlich-Institut die für ATMP zuständige Arzneimittelbehörde. Wegen dieses neuen Aufgabengebietes wurde es von "Bundesamt für Sera und Impfstoffe" in "Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel" umbenannt.

Um Start-up-Unternehmen und universitäre Forschungsgruppen, die sich primär der Entwicklung von ATMP verschrieben haben, bei rechtlichen und wissenschaftlichen Fragestellungen zu beraten, wurde am PEI ein Innovationsbüro etabliert. Den Firmen wird empfohlen, sich bereits in der präklinischen Entwicklungsphase und bei Klassifizierungsfragen der ATMP an die Experten dieses Büros zu wenden. Dies gilt insbesondere dann, wenn in der präklinischen Phase kein Tiermodell für die toxikologische Prüfung zur Verfügung steht, was bei ATMP die Regel ist.

Klinische Prüfung und Zulassung von ATMP

Nach Schätzungen des DeReG wurden bis zum August 2009 weltweit über 1500 klinische Studien mit Gentransfer-Arzneimitteln durchgeführt. Bis zum Mai 1999 hatten das Recombinant Advisory Committee (RAC) und die Food and Drug Administration (FDA) in den Vereinigten Staaten bereits 277 klinische Studien mit Gentherapeutika genehmigt. Von 1995 bis 2005 wurden in Deutschland 77 Genehmigungsanträge für solche Studien gestellt.

In Europa erfolgt die Zulassung von ATMP im zentralen Verfahren, das bereits für biotechnologisch hergestellte Arzneimittel vorgeschrieben ist. Zulassungsbehörde ist die EMA, wo das CAT die Zulassungsanträge im Einvernehmen mit dem Komitee für Arzneimittel (Committee for Human Medicinal Products, CHMP) prüft und beurteilt. Ein Blick in den "Monthly Report" des CAT vom 20. Dezember 2010 verrät, dass von den bisher vier eingereichten Anträgen auf zentrale Zulassung eines ATMP (2009: 3, 2010:1) lediglich ein Antrag positiv bewertet wurde. Zwei Anträge wurden während des Verfahrens zurückgezogen, und das Konzept eines ATMP erwies sich als mangelhaft und nicht zulassungskonform.

Internet


Nationales Genomforschungsnetzwerk: www.ngfn.de

Deutsches Register für somatische Gentransferstudien: www.dereg.de

Ausblick

Seit der ersten Gentherapie im Jahr 1990 haben die biomedizinische und pharmakogenomische Forschung große Fortschritte gemacht. Die kausale Therapie von lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erbkrankheiten, Infektionen und einigen Krebsarten ist nicht länger eine utopische Vorstellung, sondern in einigen Bereichen bereits zur Realität geworden.

Sollten sich die ATMP langfristig als sicher und effizient erweisen, könnten sie auch für weniger bedrohliche Krankheiten wie allergische Reaktionen und Stoffwechselerkrankungen entwickelt werden. Bei diesen Indikationen könnten sie möglicherweise sogar die Therapiekosten senken. Wie schnell die Entwicklung neuer ATMP voranschreitet, hängt natürlich auch davon ab, in welchem Maße Pharmaunternehmen in diesem Bereich investieren und wie sehr der Staat entsprechende Forschungen finanziell unterstützt.

Insgesamt dürfte in den nächsten Jahren die individuelle Behandlung von Patient zunehmend an Bedeutung gewinnen. Denn für das Jahr 2013, so die Prognose des Verbands der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa), wird die Zulassung von zahlreichen neuartigen Medikamenten gegen verschiedene Krebserkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Infektionskrankheiten erwartet.

Die europäischen Regelungen zur Gentherapie stellen sicher, dass dabei die Würde und genetische Identität des Menschen geachtet werden. Es wäre wünschenswert, dass diese Regelungen weltweit harmonisiert werden.


Autorin
Dr. Christine Kriete, Konrad-Adenauer-Str. 20, 72072 Tübingen


Dieser Beitrag entstand als Projektarbeit im Rahmen der Weiterbildung zur Fachapothekerin für Öffentliches Gesundheitswesen (Weiterbildungsstätte: Regierungspräsidium Tübingen).

Zum Weiterlesen


Regenerative Medizin – Gewebegesetz und neuartige Therapien zur Regeneration

DAZ 2010, Nr. 45, S. 57



DAZ 2011, Nr. 5, S. 66

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