Schwerpunkt HIV und AIDS

HIV-Therapie – Wo stehen wir?

Frühzeitige Diagnose als Schlüssel einer optimalen Therapie

Von Norbert Brockmeyer

Vor 30 Jahren wurde erstmals in San Francisco über das Auftreten von tödlich verlaufenden Infektionserkrankungen bei jungen Männern, die Sex mit Männern hatten, berichtet. Dies war der Beginn der HIV-Epidemie. Schon drei Jahre später gelang es Françoise Sinoussi-Barré und Luc Montagnier das auslösende Virus – Humanes Immundefizienz-Virus (Virus, das bei Menschen zur Immunabwehrschwäche führt) – zu isolieren, hierfür erhielten sie 2008 den Nobelpreis. Mit dieser Erkenntnis, dass ein bis dahin unbekanntes Virus diese Erkrankungen, die im Vollbild AIDS genannt werden, auslöst, begann der Kampf, diese damals tödlich verlaufende Erkrankung zu behandeln und gleichzeitig – rückblickend betrachtet – auch eine außerordentliche grundlagenwissenschaftliche, klinische und sozialwissenschaftliche Epoche des Fortschritts.
Natürlicher Verlauf der HIV-Infektion Nach der HIV-Infektion nimmt über einen Zeitraum von mehreren Jahren die Zahl der CD4 -positiven Zellen kontinuierlich ab. Parallel dazu verändert sich das klinische Bild der HIV-Infektion: Nach zumeist mehrjähriger klinischer Latenz ist die nachfolgende Phase als AIDS related Komplex definiert. Kennzeichnend für dieses Stadium der Erkrankung sind konstitutionelle Symptome wie Fieber oder Diarrhöen, Herpes Zoster oder periphere Neuropathien. Das Stadium "AIDS” ist definiert durch das Auftreten bestimmter opportunistischer Erkrankungen wie z. B. Pneumocystis-carinii-Pneumonie, CMV-Retinitis oder das Wasting-Syndrom. Neben der Messung der CD4 -Zellzahl ist die HI-Viruslast ein weiterer Standardparameter bei der Untersuchung von HIV-Infizierten. Dieser Parameter ist mittlerweile unverzichtbar bei antiretroviraler Therapie und als prognostischer Marker.

Schauen wir auf den natürlichen Verlauf der HIV-Infektion, dann sehen wir, dass nach der Infektion eine stetige Zerstörung des Immunsystems durch die HI-Viren ausgelöst wird. In der Folge treten sogenannte opportunistische Infektionen auf, wie z. B. Lungenentzündung oder Tumore, die in der Konsequenz zum Tode führen.

Starben zu Beginn der HIV-Epidemie Patienten innerhalb von fünf bis zehn Jahren, so sind wir heute an einem Punkt, durch das uns mittlerweile zur Verfügung stehende große Arsenal an wirksamen Medikamenten über ganz individuelle Therapien für den einzelnen Patienten nachdenken zu können. Dies hat dazu geführt, dass die Lebenserwartung eines heute mit 20 Jahren Infizierten – nach mathematischen Berechnungen – bei ca. 70 Jahren liegt. Eine frühzeitige Diagnose ist jedoch der Schlüssel für eine optimale und wirkungsvolle Therapie.

Therapie der HIV-Infektion

Schon die ersten Therapieansätze Ende der 1980er-Jahre zielten darauf ab, bestimmte Entwicklungsschritte, die das Virus zur Vermehrung benötigt, zu hemmen. Als erstes Medikament kam 1986 Zidovudin zum Einsatz, es verhindert die zur Vermehrung des Virus notwendige Umwandlung der RNA des Virus in DNA und damit den Einbau von Virusgenom in die menschliche Erbsubstanz.

Im Laufe der nächsten zehn Jahre kamen Medikamente hinzu, die auch andere Angriffspunkte in der Virusvermehrung blockierten (siehe Infokasten "Aufbau und Lebenszyklus von HIV") und zudem einen ganz wesentlichen Schritt, nämlich die Protein zusam mensetzung des Virus, hemmen konnten. Schnell wurde in den 1990er-Jahren deutlich, dass durch eine Kombination mehrerer Medikamente die Wirksamkeit deutlich gesteigert werden konnte und das Virus nicht mehr so schnell gegen diese Kombinationstherapie resistent wurde, das heißt die Medikamente ihre Wirksamkeit nicht verloren.

So kam 1996 der Durchbruch mit einer Dreifachkombination dieser Medikamente und der Amerikaner David Ho prägte den Spruch "therapiere früh und hart" also mit allem, was zur Verfügung steht. In den folgenden Jahren ist dieser Therapieansatz mehrfach gewandelt worden. Heute können wir durch noch besser wirksame Medikamente mit weniger Nebenwirkungen sowie durch Reduzierung der täglich einzunehmenden Medikamentenzahl, von einer Hand voll – im Idealfall – auf eine Tablette pro Tag, die Therapie erleichtern, dadurch die Therapietreue der Patienten verbessern und somit entscheidend früh mit einer Therapie be ginnen.

Aufgrund der Vielzahl neuer Tabletten mit besserem Wirkungsprofil und geringeren Nebenwirkungsraten ist der Therapiebeginn wieder weit nach vorne gerückt, und es wird weiter diskutiert, ob man nicht noch früher, vielleicht sogar unmittelbar nach einer HIV-Infektion beginnen sollte zu therapieren. Mittlerweile haben wir sechs unterschiedliche Medikamentengruppen, die in der Lage sind, die virale Vermehrung – vom Eintritt in die menschliche Zelle (z. B. CD4-Lymphozyten) bis zur Ausschleusung aus der Zelle – zu hemmen. Weitere Medikamente, die noch andere Angriffspunkte haben, sind in Erprobung. All diese Bemühungen haben dazu geführt, dass die Sterblichkeit seit dem Beginn der hochaktiven antiretroviralen Therapie (HAART) deutlich gesunken ist. Dies zeigt sich auch in den Daten der Kompetenznetzkohorte HIV/AIDS: In dieser Datensammlung von 16.500 HIV-Infizierten sind fast 30% älter als 50 Jahre und 14% über 60 Jahre alt. Vor nur 15 Jahren starben noch jede Woche Patienten unserer Ambulanz an HIV/AIDS, jetzt sind wir so weit, dass nicht nur die Behandler der Patienten älter werden, sondern ihre Patienten mit ihnen, ein historischer Moment also nach den Jahren des fürchterlichen Sterbens.

So gilt für die entwickelten Länder, in denen eine HIV-Therapie nach neuestem Wissensstand möglich ist, dass

  • "AIDS" seinen tödlichen Schrecken verloren hat

  • die HIV-Infektion eine behandelbare chronische Erkrankung geworden ist.

Große Hoffnungen beruhen auf der Entwicklung therapeutischer Impfstoffe, mit deren Hilfe eine Kontrolle der Virusvermehrung ohne dauerhafte Medikamenteneinnahme möglich wäre. Eine Phase-II-Studie rekrutiert aktuell nicht vorbehandelte Patienten.

Andere, auch gentherapeutische, Ansätze zielen darauf ab, Abwehrfunktionen des Körpers (z. B. Tetherin, ABOBEC3G, TRIM5alpha), die durch das HI-Virus ausgeschaltet wurden, wieder zu aktivieren, um dadurch eine Elimination des HIV zu erzielen.

Die endgültige Heilung der HIV-Infektion (Eradikation) erscheint aufgrund des bisherigen Wissens in zwanzig Jahren durchaus realistisch. Aktuell jedoch denken wir bei HIV-Infizierten erst seit kurzer Zeit über Möglichkeiten der therapeutischen Heilung nach. Wichtig zu erwähnen ist, dass die im HIV-Bereich gewonnenen Erkenntnisse zur Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen auch hilfreich für andere Erkrankungen sind.

Wann der optimale Zeitpunkt zum Beginn einer antiretroviralen Therapie ist, wird weiterhin diskutiert. In den letzten Jahren weisen viele Untersuchungen auf eine starke Schädigung von Immunzellen der Schleimhäute (Mucosa-associated lymphatic tissue, MALT), speziell der Darmschleimhaut, hin. In der bisher postulierten, klinisch meist asymptomatischen Latenzphase, werden das Immunsystem und viele Organe durch die HIV-induzierten Entzündungsreaktionen geschädigt. Kohortendaten belegen, dass ein früherer Therapiebeginn als bisher empfohlen – also über 350 CD4-Lymphozyten/µl – nicht nur die Lebenserwartung steigert, sondern auch kostengünstiger als ein späterer Therapiebeginn ist. Einige Leitlinien, z. B. die der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sowie die Deutsch-Österreichischen Leitlinien, haben deshalb den Therapiebeginn auf unter 500 CD4-Lymphozyten/µl festgelegt. Durch die oben erwähnten neuen therapeutischen Ansätze wie Entry Inhibitoren und Integrase Inhibitoren (Verhinderung des Eintritts in die Zelle und den Zellkern) sowie durch neue Wirkstoffe mit anderem Resistenzprofil im Bereich der "alten" Substanzklassen (Reverse Transkriptase Inhibitoren und Proteaseinhibitoren) ist das Ziel, auch bei stark vortherapierten Patienten die HI-Viruslast unter die Nachweisgrenze zu senken, fast immer erreichbar.

Während sich die Wirksamkeit der zugelassenen Medikamente meist nur gering unterscheidet, werden die Anzahl der Tabletten, der Einnahmemodus (1 x oder 2 x täglich) und das Nebenwirkungsprofil bei der Vielzahl der heute zur Verfügung stehenden Medikamente immer wichtiger. Der Weg zur individuellen Therapie ist beschritten.

Welt-AIDS-Tag: Positiv zusammen leben. Aber sicher!


Unter diesem Motto wirbt in diesem Jahr die Kampagne zum Welt-AIDS-Tag am 1. Dezember für mehr Toleranz und Respekt. Im Mittelpunkt stehen HIV-positive Menschen, die offen über ihre Erfahrungen mit der HIV-Infektion berichten. Mit Fragen wie "HIV-positiv und Mutter sein?" oder "HIV-positiv und arbeiten?" stellen sie sich auf Plakaten sowie in einem Kino- und TV-Spot mutig der Öffentlichkeit. Ziel dieser europaweit einzigartigen nationalen gemeinsamen Kampagne des Bundesministeriums für Gesundheit, der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, der Deutschen AIDS-Hilfe und der Deutschen AIDS-Stiftung ist es, Stigmatisierung und Diskriminierung abzubauen und HIV/AIDS innerhalb unserer Gesellschaft zum Thema zu machen.

Weitere Informationen unter www.welt-aids-tag.de

Prävention einer Infektion mit HI-Viren

In Deutschland werden die niedrigsten Neudiagnosen weltweit festgestellt, dies ist sicherlich der Erfolg unseres zivilgesellschaftlichen Aufklärungsansatzes und die hervorragende Arbeit der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung und all derer, die in diesem Bereich tätig sind. Trotzdem erreichen wir einige Menschen nicht früh genug, sodass wir unter den jährlichen Neudiagnosen ca. 30% Spätdiagnosen feststellen, hier haben wir also noch Arbeit zu leisten.

Für das Jahr 2011 wurden 2700 HIV-Erstdiagnosen gemeldet. Der Hauptinfektionsweg ist weiterhin gleichgeschlechtlicher Sex unter Männern. Der Anteil der Frauen bei den HIV-Erstdiagnosen betrug 15%.

Trotz besserer Behandelbarkeit bleibt die Prävention das wichtigste Mittel zur Bekämpfung der weltweiten Epidemie. Aufklärungskampagnen zeigten in einigen Ländern große Wirkung. Allerdings muss noch stärker als bisher die Aufklärung für HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen (STI) durchgeführt werden, weil Letztere das Risiko für eine HIV-Übertragung bis zu einer Zehnerpotenz zu steigern vermögen und auch vice versa. Dieser Kreislauf muss durchbrochen werden, deshalb ist insbesondere auch auf z. B. asymptomatische Gonokokken- und Chlamydieninfektionen, die im Rachen- und Analbereich auftreten, aber auch auf Herpes- und Humane Papillomvirusinfektionen (Warzen-Viren), zu achten. Die konsequente Vorsorge und Therapie von sexuell übertragbaren Infektionen (STI) muss ein weltweites Ziel und wesentliche Aufgabe sein.

AIDS in Deutschland


  • geschätzte Zahl der Menschen, die Ende 2011 mit HIV/AIDS leben: 73.000;
    Männer: ~ 59.000; Frauen: ~ 14.000; Kinder: ~ 200

  • geschätzte Zahl der HIV-Neuinfektionen in Deutschland im Jahr 2011: ~ 2700; Männer: ~ 2300; Frauen: ~ 400

  • geschätzte Zahl von Personen mit nicht-diagnostizierter HIV Erkrankung ~ 14.000

  • geschätzte Zahl der Todesfälle bei HIV-Infizierten im Jahr 2011: ~ 500

  • geschätzte Zahl der HIV-Infizierten unter antiretroviraler Therapie Ende 2011:
    ~ 52.000

  • geschätzte Gesamtzahl der HIV-Infizierten seit Beginn der Epidemie: ~ 100.000

  • geschätzte Gesamtzahl der Todesfälle bei HIV-Infizierten seit Beginn der Epidemie:
    ~ 27.000

Die Eckdaten zur Abschätzung der Zahl der HIV-Neuinfektionen, HIV-Erstdiagnosen bei fortgeschrittenem Immundefekt und Todesfälle bei HIV-Infizierten sowie der Zahl der in Deutschland lebenden Menschen mit HIV werden durch das RKI in jedem Jahr neu auf der Grundlage aller zur Verfügung stehenden Daten und Informationen zusammengestellt und stellen keine automatische Fortschreibung früher publizierter Daten dar.


Quelle: HIV/AIDS in Deutschland – Eckdaten der Schätzung. Epidemiologische Kurzinformation des Robert Koch-Instituts, Stand: Ende 2011.

HIV-Therapie als Vorsorgemaßnahme

In den letzten Jahren haben Untersuchungen gezeigt, dass durch die HIV-Therapie nicht nur eine fast normale Lebenserwartung erreicht werden kann, bei recht guter Lebensqualität, sondern, dass zusätzlich die Infektiosität in großem Umfang gesenkt wird. Dies haben die Schweizer Kollegen 2008 in einem Statement in der Schweizerischen Ärztezeitung dargelegt, in dem sie beschreiben, dass unter der Einhaltung zusätzlicher wichtiger Kriterien unter einer wirksamen Therapie, bei der über mindestens sechs Monate kein HI-Virus im Blut nachweisbar ist, die Patienten ärztlich gut kontrolliert sind und keine weiteren sexuell übertragbaren Infektionen bestehen, ein mit einem Kondom zu vergleichender Schutz beim Geschlechtsverkehr in einer festen Partnerschaft besteht. Diese Methode ist insbesondere für Paare mit Kinderwunsch, bei denen der Mann HIV-infiziert ist, eine große Erleichterung, Kinder zu bekommen.

Dieser zusätzliche positive Effekt hat neben unseren Aufklärungskampagnen vielleicht dazu geführt, dass die Neudiagnosezahlen in diesem Jahr etwas geringer ausgefallen sind, und dies gilt für Deutschland wie auch weltweit mit geschätzten 2,7 Millionen HIV-Neudiagnosen. Allerdings ist im Hinblick gerade auch auf andere sexuell übertragbare Infektionen das Kondom die ganz entscheidende Maßnahme zur Verringerung von Infektionsrisiken.

Bei einer fraglich möglichen HIV-Infektion nach Sexualkontakten, nach Verletzungen mit infizierten Spritzbestecken (Drogengebraucher), nach sonstigen Kontakten mit Blut- oder Körperflüssigkeiten von HIV-Infizierten sollte so schnell wie möglich (innerhalb von zwei bis drei Stunden) ein erfahrener HIV-Behandler (Praxen, Ambulanzen) zur Klärung eines Behandlungsbedarfes und zur eventuellen Durchführung einer Behandlung aufgesucht werden.

Fazit

Trotz oder gerade aufgrund der deutlich gestiegenen Lebenserwartung gibt es neue Herausforderungen bei der Behandlung von HIV-Patienten. Kardiovaskuläre Erkrankungen und Nicht-AIDS definierende Tumore gewinnen zunehmend an Bedeutung. Das Management von Risikofaktoren gehört genauso zur modernen HIV-Therapie wie der mögliche Einsatz von neuen antiretroviralen Substanzen im Rahmen einer maßgeschneiderten Therapie.

Aufklärungskampagnen müssen zusätzlich den Zusammenhang zwischen HIV und anderen sexuell übertragbaren Infektionen berücksichtigen. Zur Therapie sollten erfahrene Behandler hinzugezogen werden. Medizinisch haben wir sehr viel erreicht, jedoch müssen wir alle gemeinsam daran arbeiten, die Stigmatisierung von HIV-infizierten Menschen zu überwinden, denn sie schadet dem einzelnen Infizierten, verhindert einen offenen Umgang mit dieser Erkrankung und ist damit ein Hindernis, alle HIV-Infizierten frühzeitig zu erreichen.


Anschrift des Verfassers

Prof. Dr. N. H. Brockmeyer, Direktor Forschung und Lehre, Leiter Hauttumorzentrum Ruhr-Universität, Leiter Zentrum für Sexuelle Gesundheit, Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie der Ruhr-Universität Bochum, Präsident der Deutschen STI-Gesellschaft, Sprecher KompNet HIV/AIDS

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.