Aus Kammern und Verbänden

Macht Armut süchtig?

Das Schwerpunktthema "Sucht und Armut" des 6. Nordrhein-westfälischen Suchtkooperationstages, der am 12. Oktober in Münster stattfand, lockte knapp 200 Teilnehmer an. Prof. Dr. Dieter Henkel, Institut für Suchtforschung der Fachhochschule Frankfurt am Main, führte in das Thema ein.
Foto: AKWL/Sokolowski
Gemeinsam gegen die Sucht (von links): Dr. Hans-Jürgen Hallmann (Landeskoordinie­rungsstelle Suchtvorbeugung), Ministerialdirigentin Dr. Dorothea Prütting, Prof. Dr. Dieter Henkel, Wolfgang Rometsch und Anke Follmann (Ärztekammer Westfalen-Lippe).

Henkel zeigte in seinem Vortrag verschiedene Zusammenhänge von Alkohol-, Nicotin-, Cannabis- und Glücksspielsucht mit Armut auf. Die Herstellung von Branntwein im industriellen Maßstab ab etwa 1820 löste unter Arbeitern eine Suchtwelle aus. Als Ursache für die Suchtanfälligkeit galten die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen, und es wurden soziale Reformen zur Verminderung des sogenannten Milieu-Alkoholismus gefordert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts und in der Zeit des Nationalsozialismus wurde Sucht als erblich und als Bedrohung der Rassenhygiene eingestuft. Daraus folgten für Betroffene z. B. Eheverbot oder Zwangssterilisation.

Ende der 1960er Jahre trat auf einmal ein neues Phänomen auf, der Wohlstandsalkoholismus. Hier wurden als Ursachen mentale Verelendung und Verweichlichung der Reichen diskutiert.

Suchtverhalten sehr differenziert

Aktuelle Studien, so Henkel weiter, ergeben keine einheitlichen Korrelationen von Sucht und Armut. Der Tabakkonsum z. B. ist in schwächeren sozialen Schichten höher, und Kinder und Jugendliche aus diesem Umfeld greifen früher und regelmäßiger zur Zigarette mit all den damit verbundenen gesundheitlichen Risiken und Folgen. Beim Alkohol hingegen kann Armut sogar schützend sein. Zwar ist der Anteil alkoholabhängiger Eltern (meist Väter) unter sozial Schwachen höher, andererseits gibt es aber in keiner anderen Bevölkerungsgruppe einen so hohen Anteil an völlig alkoholabstinent lebenden Menschen. Wer arm ist, lebt meistens sozial isoliert und hat weniger gesellschaftliche Gelegenheiten, Alkohol zu konsumieren. Außerdem ist Alkoholkonsum – nicht aber Rauchen – hinderlich, wenn man einen stressigen Alltag mit Behördengängen und vielem mehr organisieren muss.

Der regelmäßige Konsum von Cannabis, so Henkel, sei vor allem bei arbeitslosen Jugendlichen zu beobachten. Ein niedriger sozialer Status, der frühe Tod eines Elternteils, mangelndes Selbstwertgefühl, psychische Probleme sowie eine schwierige finanzielle Situation gelten als Risikofaktoren für den Cannabiskonsum Jugendlicher. Interessanterweise ist auch bei den Glücksspielsüchtigen der Anteil sozial Schwacher deutlich erhöht. Der Spieler spielt, um dem Alltag zu entfliehen; die Hoffnung, den großen Coup zu landen, ist nicht das Hauptmotiv.

Damit sich Sucht und Armut nicht gegenseitig steigern, forderte Henkel eine Verringerung des sozialen Gradienten und zielgruppengerechte Hilfsangebote für Arme. Denn derzeit nutzen relativ wenig Arme die Vorsorge- oder Selbsthilfegruppenangebote.

Angebote für Betroffene

Nach dem Hauptvortrag fanden insgesamt 18 Workshops zu speziellen Therapieangeboten und aktuellen Aspekten rund um das Thema Sucht statt. Prävention der Bulimie ist das Ziel der Ausstellung "Klang meines Körpers", die die Musiktherapeutin Stephanie Lahusen vom Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln entwickelt hat. Schulen oder andere Jugendeinrichtungen können sie in Zusammenarbeit mit speziell geschulten regionalen Ansprechpartnern anfordern.

Werner Terhaar und Marlies Böwing aus der LWL-Klinik in Lengerich sprachen über die "Elternkompetenz" süchtiger Eltern. Zwar gelten drogenabhängige Eltern als Risikofaktor für die Entwicklung von Kindern, aber die Alternative, nämlich eine Heim- oder Pflegefamilienunterbringung, gilt gleichfalls als Risikofaktor. Hier heißt es, die Elternschaftsfähigkeit genauso vorurteilslos zu überprüfen wie bei Eltern ohne Drogenproblem.

Personen ohne Hoffnung und Perspektive, wieder ein selbstständiges Leben ohne Unterstützung führen zu können, sind für ihre Betreuer eine große Herausforderung. Dies arbeiteten Isabelle Stammen und Roland Heise von der sozialtherapeutischen Einrichtung "Die Torburg" in Bornheim heraus. Während die Betroffenen die finanzielle Armut häufig als besonders entscheidend herausstellen, sehen die Betreuer häufig die Beziehungsarmut als besonders gravierend an.

Die Apothekerkammern Nordrhein und Westfalen-Lippe, vertreten durch Dr. Sylvia Prinz und Dr. Constanze Schäfer, diskutierten mit den Teilnehmern über die Risiken und Chancen des Neuroenhancement aus pharmakologischer und gesellschaftlicher Perspektive.

Alle müssen an einem Strang ziehen

In ihren Grußworten forderten Ministerialdirigentin Dr. Dorothea Prütting (Landesgesundheitsministerium), Wolfgang Rometsch (Leiter der Koordinierungsstelle Sucht des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe) und Ralph Seiler (Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege), mehr für arme Menschen – immerhin 15 Prozent der Bevölkerung – zu tun hinsichtlich Bildung, sozialer Hilfe und gesellschaftlicher Integration. Zwar werden Suchtkranke seit der Umsetzung des Landesprogramms gegen Sucht besser versorgt, doch müssen die zielgruppengerechte Prävention und frühe Hilfe für arme Menschen noch stärker entwickelt werden.

Der Suchtkooperationstag findet seit zehn Jahren regelmäßig im Zwei-Jahres-Rhythmus statt und dient dem interdisziplinären Austausch zwischen den verschiedenen Akteuren im Suchthilfesystem. Zu den Organisatoren zählen auch die Ärzte- und Apothekerkammern Nordrhein und Westfalen-Lippe.


Dr. Constanze Schäfer MHA

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