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Arzneimittel und Therapie
Botulinumtoxin befreit von neurogenen Beschwerden
Wenn von Botulinumtoxin die Rede ist, herrschen heute für gewöhnlich allerdings zwei Assoziationen vor: erstens die kosmetische Anwendung und zweitens "Botox" als vermeintliches Synonym. Beide sind nicht wirklich zutreffend und beruhen eher auf Vorurteilen. Das zeigen nicht zuletzt die aktuellen Indikationserweiterungen von Botox® zur Behandlung neurogen bedingter Harninkontinenz und der Migräne. Der kosmetische Einsatz der Botulinumtoxine sorgt zwar immer wieder für Aufsehen in den Klatschspalten der einschlägigen Magazine, sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass medizinische Indikationen – auch vom Umsatz der Präparate her gesehen – wesentlich mehr Gewicht haben. Und andererseits liegt zwar mit dem Präparat Botox® historisch das erste Botulinumtoxin mit Warenzeichen vor. Mit Dysport® und Xeomin® stehen aber seit einigen Jahren zwei weitere Botulinumtoxin-Zubereitungen zur Verfügung, die in medizinischer Hinsicht mindestens ebenbürtig sind. Ferner ist mit NeuroBloc® auch eine Botulinumtoxin-Zubereitung zugelassen, die im Unterschied zu allen anderen Präparaten Botulinumtoxin Typ B enthält.
Botulinumtoxin-ZubereitungenBotulinumtoxin-Zubereitungen für kosmetische Einsatzgebiete: Azzalure (Clostridium botulinum Toxin Typ A)
Bocouture® (Botulinumtoxin Typ A)
Vistabel® (Clostridium botulinum Toxin Typ A)
Botulinumtoxin-Zubereitungen mit medizinischen Indikationen: Botox® (Clostridium botulinum Toxin Typ A)
Dysport® (Clostridium botulinum Toxin Typ A)
Xeomin® (Clostridium botulinum Neurotoxin Typ A)
NeuroBloc® (Botulinumtoxin Typ B)
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Breites medizinisches Indikationsspektrum
Die wichtigsten Einsatzgebiete der Botulinumtoxin-Zubereitungen bestanden bislang im Blepharospasmus (krampfhafter Verschluss der Augenlider), in der zervikalen Dystonie (Torticollis spasmodicus, Schiefhals) sowie in diversen anderen Indikationen sowie Armspastik nach Schlaganfall. So zeigen bis zu 30% der Patienten nach Schlaganfall bereits im frühen Verlauf eine Spastizität leichter bis mittlerer Ausprägung. Bei schwereren Verläufen sind auch Muskel- und Bindegewebe beeinträchtigt, so dass eine Minderung des Muskeltonus die Beweglichkeit verbessern kann. Dies betrifft auch die passive Beweglichkeit, die bei der Pflege und Hygiene der Betroffenen von Bedeutung ist.
Wirkung bei chronischer Migräne
Für die Indikation chronische Migräne stehen nur sehr wenige medikamentöse Behandlungsoptionen zur Verfügung. Mit wenigen Ausnahmen wurden die bei episodischer Migräne wirksamen Prophylaktika für die Indikation chronische Migräne nicht untersucht. Als einzige Option zur vorbeugenden Behandlung der chronischen Migräne gilt Topiramat. Der Einsatz bei chronischer Migräne ist aber limitiert, da die Behandlung mit zentralnervösen Nebenwirkungen einhergeht. Daher wurde für diese Migränepatienten eine wirksame Behandlungsoption gesucht. Studien zeigten, dass die Behandlung mit Botulinumtoxin im Vergleich zu Placebo eine signifikante Verbesserung der Beschwerden zur Folge hatte. Dies gilt insbesondere für die Häufigkeit von Kopfschmerz- und Migränetagen pro Monat. Obwohl der therapeutische Gesamteffekt insgesamt nicht sehr ausgeprägt war, ist er mit dem von Topiramat in der vorbeugenden Behandlung der chronischen Migräne vergleichbar. Die Wirksamkeit von Botox® wurde bei wiederholter offener Anwendung mit einem Abstand von drei Monaten zwischen den einzelnen Zyklen nachhaltig aufrechterhalten und konnte reproduziert werden.
Wie wirkt das stärkste bekannte Gift therapeutisch?
In kaum einem anderen Bereich wird die Weisheit des Paracelsus, dass allein die Dosis entscheidet, ob ein Gift ein Gift ist, so deutlich wie bei der therapeutischen Anwendung von Botulinumtoxin in der Neurologie. Botulinumtoxin ist bekanntlich das stärkste Gift. Bereits die Aufnahme von wenigen µg ist für den Menschen tödlich. Es sind verschiedene Typen von Botulinumneurotoxinen (BoNT) bekannt, Typ A, B, C, D, E, F und G. Die hochmolekularen Proteine werden von Clostridium botulinum unter anaeroben Bedingungen produziert und unterscheiden sich immunologisch und in ihrer klinischen Wirkung. Der als Lebensmittelvergiftung gefürchtete Botulismus kann nach Genuss vergifteter Dosennahrung und Wurst aus Hausschlachtungen auftreten. Das Toxin hemmt irreversibel die Acetylcholinausschüttung aus den präsynaptischen Vesikeln, was eine Unterbrechung der Impulsübertragung vom Nerven auf den Muskel zur Folge hat. Somit kommt es zu Lähmungen der quergestreiften wie der glatten Muskulatur. Klinisch manifest wird das Krankheitsbild in einem Versagen lebenswichtiger Organfunktionen bis hin zum Atemstillstand und zum akuten Herzversagen.
Botulinumtoxin-Zubereitungen werden heute im medizinischen Alltag standardmäßig zur symptomatischen Therapie von Dystonien eingesetzt, um gezielt den Tonus des speziell anvisierten Muskelgewebes herabzusetzen. Das Wirkprinzip besteht dabei ebenso wie bei der ungewollten Vergiftung durch das native Toxin in einer Hemmung der Acetylcholinfreisetzung an den präsynaptischen Membranen auf cholinergen Neuronen. Die Dosierung im Nanogrammbereich und die exakte lokale Applikation sollen dabei ausschließlich das Zielgewebe betreffen und benachbarte Regionen soweit wie möglich verschonen. Systemische Wirkungen sind allein schon durch die geringen Dosierungen ausgeschlossen.
Hinsichtlich ihrer initialen Wirksamkeit unterscheiden sich die verfügbaren Botulinumtoxin-Präparate nicht wesentlich voneinander. Qualitätsunterschiede gibt es aber hinsichtlich ihrer Immunogenität und damit auch hinsichtlich ihrer langfristigen Anwendbarkeit. Natives Botulinumtoxin ist ein komplexes Gemisch verschiedener Proteine. Es enthält das Botulinum-Neurotoxin und weitere bakterielle Proteine, auch Komplex- oder Hüllproteine genannt. Diese Bestandteile sind in Botox® und Dysport® enthalten, die aus Kulturen von Clostridium botulinum gewonnen und in mehreren Schritten aufgereinigt wurden. Während aber allein das Neurotoxin für die therapeutischen Wirkungen verantwortlich zu sein scheint, können auch gegen die Komplexproteine neutralisierende Antikörper gebildet werden. Dies war der Ausgangspunkt für die Überlegung, ein speziell gereinigtes Botulinumtoxin-Präparat zu entwickeln, wie es Xeomin® darstellt. Immunologisch verhalten sich die Komplexproteine wie ein Adjuvans, befördern die Immunantwort gegen das Toxin als Fremdeiweiß und können auf diese Weise zu einem Verlust der therapeutisch angestrebten Wirksamkeit des reinen Neurotoxins beitragen. Auch für Xeomin®, der einzigen Formulierung von Botulinum Neurotoxin Typ A (BoTN-A), die von Komplexproteinen gereinigt ist, liegen positive Erfahrungen und klinische Daten vor. Aus immunologischer Sicht weist Xeomin® Vorteile auf, die insbesondere bei Langzeitanwendung von Bedeutung sein können. Strittig war allerdings die Frage, ob die Komplexproteine zur Stabilität des Neurotoxins beitragen und ob sie seine Diffusionseigenschaften tangieren. Ersteres ginge mit einer Wirkeinbuße einher, letzteres mit einem Mehr an unerwünschten Wirkungen. Neuere Untersuchungen zeigten, dass die Komplexproteine nur für die Stabilität des nativen Neurotoxins in der Magen-Darm-Passage von Bedeutung sind, nicht aber im Zielgewebe nach intramuskulärer Applikation. Die Diffusionseigenschaften können schon deshalb nicht tangiert werden, da der Botulinumtoxin-Komplex in den herkömmlichen Zubereitungen nach Auflösung mit Kochsalzlösung, also noch vor Applikation, in seine Bestandteile zerfällt.
Keine Kühlkette für gereinigtes Botulinumtoxin
Das native Neurotoxin selbst, also ohne Komplexproteine, liegt darüber hinaus zum Teil in inaktiver Form vor. Etwa ein Drittel der natürlichen Substanz wirkt somit potenziell als Antigen, ohne therapeutisch nutzbar zu sein, so die weitere Rationale für die Entwicklung einer hochgereinigten Botulinumtoxin-Zubereitung. Befreit von immunologisch wirksamen, aber therapeutisch nutzlosen Bestandteilen, kann insgesamt die Wirkstoffmenge auf ein Zehntel der Ausgangssubstanz reduziert werden. Dies ist mit dem speziellen Verfahren zur Herstellung von Xeomin® gelungen. Auch klinische Untersuchungen haben gezeigt, dass Komplexproteine weder die Stabilität des Neurotoxins steigern, noch die Diffusionseigenschaften im Gewebe beeinflussen. Im Gegenteil ergaben sich noch zusätzliche Vorteile: das gereinigte, komplexproteinfreie BoTN-A-Präparat ist länger und ohne Kühlung bei Raumtemperatur bis zu vier Jahre haltbar, während die herkömmlichen Präparate bei einer Temperatur von zwei bis acht Grad Celsius gelagert werden müssen und nur zwei (Dysport®) bis drei (Botox®) Jahre haltbar sind.
Interview
Medizinische Indikationen der Botulinumtoxin-Zubereitung
Mit den aktuellen Zulassungserweiterungen für Botox ®hat sich gezeigt, dass die medizinischen Indikationen der Botulinumtoxin-Zubereitungen weiter auf dem Vormarsch sind. Über das Potenzial von Botulinumtoxin sprachen wir anlässlich der DGN-Tagung 2011 in Wiesbaden mit Prof. Dr. Wolfgang Jost, Wiesbaden, Gründungsmitglied des Arbeitskreises Botulinumtoxin der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN)
DAZ: Welche Indikationen sind mittlerweile abgedeckt?
Jost: Botulinumtoxin Typ A kann schon seit einigen Jahren mit den drei Standardpräparaten Botox®, Dysport® und Xeomin® erfolgreich bei Blepharospasmus, Torticollis spasmodicus (Schiefhals), Spastik nach Schlaganfall und weiteren Indikationen eingesetzt werden. Die Indikationserweiterungen für Botox® zur Behandlung der Migräne und der neurogenen Harninkontinenz stellen nun einen weiteren Meilenstein in den Behandlungsoptionen neurologischer Störungen dar.
DAZ: Worin unterscheiden sich Botulinumtoxin-Zubereitungen der Typen A und B?
Jost: In Deutschland werden heute bevorzugt Präparate eingesetzt, die Botulinumtoxin Typ A enthalten. Die Gefahr, dass sich hier neutralisierende Antikörper bilden und den erwünschten therapeutischen Effekt untergraben, ist wesentlich geringer als beim Einsatz von Botulinumtoxin Typ B, das mehr Komplexproteine enthält.
DAZ: Bedeutet dies, dass hochgereinigte Präparate wie Xeomin® bevorzugt werden sollten?
Jost: Der Ansatz, Botulinumtoxin von Komplexproteinen zu befreien, erscheint aus immunologischer Hinsicht durchaus interessant. Ob sich eine langfristige Therapiesicherheit, wie sie die Daten von Hefter et al. nahelegen, auch in der Praxis bewahrheiten, ist aber noch abzuwarten. Die ermutigenden Ergebnisse konnten bislang noch nicht von anderen Arbeitsgruppen bestätigt werden.
DAZ: Welche weiteren Indikationen erhoffen Sie sich noch in der nächsten Zukunft?
Jost: Das ist eine schwierige Frage. Zuerst hoffen wir, dass bestehende Zulassungen erweitert werden. Beispielsweise jegliche fokale Spastik und auch fokale Dystonien. Außerdem wird die Zulassung für die idiopathische Detrusorhyperaktivität kommen. Daneben sind noch weitere Indikationen wie Hypersalivation (vermehrter Speichelfluss) anzustreben. Weitere therapeutischen Optionen sind derzeit nicht absehbar. An den jetzigen Erfolg hätte vor 20 Jahren wahrscheinlich niemand geglaubt.
DAZ: Herr Professor Jost, vielen Dank für dieses Gespräch!
Medizinjournalist Martin Wiehl
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