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Ernährung aktuell
Kooperation mit den Unsichtbaren
Die Oberfläche des Magen-Darm-Trakts ist die größte Körperoberfläche mit direkter Verbindung zur Außenwelt. Um sie vor der Flut des täglich an ihr vorbeiströmenden antigenen Materials zu schützen, hat der Darm eine besondere Bedeutung im Immunsystem und verfügt über eine schützende mikrobielle Flora. Sie besteht aus 100 Billionen von Mikroorganismen, die wichtige Aufgaben erfüllen: So konkurrieren sie im Darm mit pathogenen Keimen aus der Umwelt um Bindungsstellen an der Darmwand und verhindern deren Andocken. Die Adhäsion der Mikroorganismen an den Darm-Mucus und an die darunter liegenden Darm-Epithelzellen führt zudem zu einer direkten Interaktion mit den Zellen des darmassoziierten Immunsystems (GALT).
Die Wechselwirkungen sind komplex und bisher nur im Ansatz verstanden. Bekannt ist z. B., dass spezialisierte Zellen nach einer Antigen-Aufnahme die Reifung und Aktivierung von B- und T-Lymphozyten in den Peyerschen Plaques des Darms anstoßen können. Die Immunzellen verteilen sich über die Lymphbahnen im Körper und werden teilweise in den Darm hinein abgegeben. Dass eine im GALT ausgelöste Immunantwort dabei nicht auf den Darm beschränkt bleiben muss, zeigt das System der IgA-Antikörper. Deren Wirkung auf Schleimhäute (mukosale Oberflächen) reicht bis in den Bronchial- und Urogentialtrakt sowie zu den Brust- und Speicheldrüsen.
Neues von der Darmflora
Zusammengesetzt ist die Darmflora aus Darm-Bakterien höchst unterschiedlicher Natur. Man schätzte früher etwa 400 verschiedene Mikroorganismen, mittlerweile ist diese Zahl auf gute 1000 heraufgeschnellt. Neue Untersuchungen zeigen, dass in dieser Bakterienmenge 3,3 Millionen Gene vertreten sind, also 150 Mal mehr als im menschlichen Genom. Aber nicht alle Bakterien sind gleichberechtigt. Etwa 99 Prozent der Gesamtmasse entfallen auf 30 bis 40 unterschiedliche Spezies. Wie sich die Darmflora zusammensetzt, ist nicht im gesamten Verlauf des Verdauungskanales gleich. So sind der Magen und der Zwölffingerdarm (Duodenum) überwiegend mit den säure- und sauerstoff-toleranten Arten der Gattungen Lactobacillus und Streptococcus dünn besiedelt. Im Leerdarm (Jejunum) und im Krummdarm (Ileum) nehmen Konzentration und Vielfalt der Mikroorganismen stetig zu – um im Dickdarm die höchsten Werte zu erreichen. Strikte Anaerobier wie Bacteroides, Bifidobacterium und Eubacterium sowie fakultative Anaerobier wie Lactobacillus ssp., Streptococcus ssp., Enterobacteriaceae und Hefen dominieren dabei.
Was leisten Probiotika?
Das Konzept der Probiotika hat seinen Ursprung in den Arbeiten des russischen Immunologen Ilja Iljitsch Metschnikow. Der Träger des Medizin-Nobelpreises führte schon Anfang des 20. Jahrhunderts die hohe Lebenserwartung bestimmter Volksgruppen im Kaukasus und in Bulgarien auf die traditionell verzehrten angesäuerten und vergorenen Milchprodukte zurück. Heute gilt als belegt, dass die aus lebensfähigen Mikroorganismen wie Milchsäurebakterien bestehenden Probiotika über komplexe Regelkreise die Gesundheit positiv beeinflussen können.
Besonders gut untersucht ist der positive Effekt von probiotischen Stämmen wie Lactobacillus rhamnosus GG und Bifidobacterium lactis BB-12 zur Prävention und zur Behandlung der akuten, Rotavirus-induzierten Diarrhö bei Kindern. Wissenschaftlich belegt ist zudem die Wirkung von Probiotika in der Therapie der Colitis ulcerosa und der Pouchitis sowie dem Antibiotika-assoziierten Durchfall. In einigen neueren Untersuchungen finden sich darüber hinaus Hinweise darauf, dass bestimmte Probiotika die Beschwerden bei Lactoseintoleranz mildern. Und placebokontrollierte Studien zeigen, dass Helicobacter pylori-Infektionen durch die ergänzende Aufnahme mit Lactobacillus reuteri unterdrückt werden können.
Einige Humanstudien deuten mittlerweile auch auf den günstigen Einfluss von Probiotika auf die Abwehrkräfte hin. So konnte in einer Studie mit schwedischen Arbeitern gezeigt werden, dass die Einnahme von L. reuteri protectis über 80 Tage die Zahl der Krankschreibungen wegen Erkältungen und Magen-Darm-Erkrankungen gegenüber der Einnahme eines Placebos signifikant reduzierte. In einer anderen Untersuchung wurden mit der Kombination aus B. longum, L. gasseri und B. bifidum über jeweils drei Monate die Krankheitsdauer von Erkältungskrankheiten verkürzt und die Symptome vermindert. Klinisch konnte zudem gezeigt werden, dass sich durch verschiedene Probiotika die Besiedlung des Nasenraums mit pathogenen Bakterien und die Rückfallhäufigkeit bei chronischen Nasennebenhöhlen-Entzündungen verringern lässt. Außerdem hat eine Arbeit an der Bundesforschungsanstalt Kiel ergeben, dass bei 479 gesunden Erwachsenen, die ein bifidobakterien- und laktobazillenhaltiges probiotisches Präparat erhielten, in zwei Winterperioden die Schwere und Dauer von Erkältungen im Vergleich zu einer Placebogruppe signifikant reduziert war. In der Verum-Gruppe verkürzte sich die durchschnittliche Erkrankungszeit immerhin um zwei Tage.
Befunde aus Finnland weisen darauf hin, dass probiotische Mikroorganismen jedoch nicht in jedem Fall stimulierend auf das Immunsystem wirken, sondern bei Allergikern oder Kindern mit atopischer Dermatitis (AD) eher immunmodulierende Einflüsse haben. So klagten neurodermitische Kinder, die eine hypoallergene Nahrung zusammen mit Probiotika erhielten, über signifikant weniger Beschwerden als atopische Kinder, die die gleiche hypoallergene Kost ohne Probiotika erhielten. In anderen Arbeiten mit AD-Patienten verbesserte sich nach achtwöchiger Einnahme von L. paracasei, L. acidophilus und B. lactis das Hautbild.
Ein Blick in die Zukunft
Aktuelle Forschungsberichte geben einen immer genaueren Einblick in die menschliche Darmflora und lassen erahnen, welche Wirkungen Probiotika über die bereits beschriebenen hinaus haben könnten. So konnte beispielsweise gezeigt werden, dass die Darmflora bei Übergewichtigen anders zusammengesetzt ist und mehr Bakterien enthält, die komplexe Kohlenhydrate auswerten können, als bei Normalgewichtigen. Damit wird die Effektivität der Verdauung und somit die Energiegewinnung aus der Nahrung gesteigert. Die alte Idee des "besseren Futterverwerters" bekommt dadurch eine wissenschaftliche Wiederbelebung. Die Frage, ob deshalb Übergewicht vielleicht durch Einsatz bestimmter Probiotika verhindert oder reduziert werden könnte, lässt sich allerdings derzeit noch nicht beantworten.
Auch könnte es sein, dass Stoffwechselerkrankungen wie die Fettleber und die nicht alkoholinduzierte Leberzirrhose auf Leckstellen in der intestinalen Abwehr zurückzuführen sind. Ob diese Krankheitsbilder wie auch chronische Entzündungszustände und Asthma durch eine Veränderung der Darmflora mittels Probiotika positiv beeinflusst werden können, werden die nächsten Jahre zeigen.
Welche Probiotika und: Tabletten oder Joghurt?
Die Eigenschaften probiotischer Mikroorganismen sind stammspezifisch und dosisabhängig. Eine Verallgemeinerung gesundheitsbezogener Aussagen über alle Probiotika ist deshalb nicht zulässig. Um gesundheitsfördernd zu sein, müssen probiotische Mikroorganismen verschiedene Anforderungen erfüllen: Sie müssen gesundheitlich unbedenklich sein, dürfen nicht toxisch wirken und keine Antibiotika-Resistenzen übertragen. Tatsächlich sind bisher auch keine Infektionen bekannt, die auf den Verzehr von Lactobazillen und Bifidobakterien zurückzuführen wären. Allerdings ist hier eine Einschränkung für Personen mit einem schon geschwächten Immunsystem zu machen, hier sollten Probiotika nicht unkontrolliert zum Einsatz kommen.
An der Frage, ob man sich die probiotischen Keime in Medikamentenform oder als Nahrungsmittel zuführen sollte, scheiden sich bisher die Geister. Vor allem wichtig ist die Resistenz der verabreichten Keime gegen Magen- und Gallensäuren, die eine der Grundvoraussetzungen für das Überleben in der Magen-Darm-Passage bildet. Probiotische Mikroorganismen müssen den Darm natürlich in aktiver Form und in ausreichender Konzentration erreichen, um ihre Wirkungen entfalten zu können. Häufig vernachlässigt wird dabei, dass diese Überlebensfähigkeit auch schon während des Produktionsprozesses und der Lagerhaltung des Probiotikums gewährleistet werden muss. Insofern spricht vieles dafür, dass Probiotika in Kapsel- oder Tablettenform wahrscheinlich mehr lebensfähige Keime enthalten als entsprechende Nahrungsmittel.
Quelle Nach Vorträgen von Prof. Dr. Stephan C. Bischoff, Universität Hohenheim, Dr. Hartmut Dorstewitz, Facharzt für Allgemeinmedizin und Naturheilverfahren, Dr. Andreas Erber, Hermes Arzneimittel GmbH; Pressekonferenz der Firma Hermes Arzneimittel GmbH, 27. Juli 2011, Frankfurt am Main.
Andrea Lubliner
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