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Lob des Neuen
Brauchen wir Fortschritt und wenn ja wie viel? Viele Menschen runzeln heutzutage die Stirn, wenn sie das Wort nur hören. Zu riskant! Wozu immer noch weiter? Wir haben doch alles! Rückbau und Entschleunigung sind angesagt! In meiner Disziplin, der Soziologie, gehört die Kritik am Fortschritt zum guten Ton. Deshalb gehe ich gerne in die Apotheke, für mich ein Ort des Wissens und der Aufklärung. Meistens jedenfalls.
Nehmen wir das Problem der trockenen Luft im Winterhalbjahr. Um es besser zu verstehen, habe ich in meiner Wohnung ein Messgerät aufgestellt. Es zeigt unter anderem die Luftfeuchtigkeit an, deren Höhe für meine Lebensqualität entscheidend ist. 50 Prozent und mehr sind optimal, ab Werten unter 40 Prozent habe ich ein Problem. Ich schlafe schlecht, nachts trocknet meine Nase aus und das behindert mich beim Atmen. In einem Werbetext für ein Spray zum Feuchthalten der Nase las ich dazu Folgendes: "Menschen mit chronischer Rhinitis sicca leiden im Winter unter der trockenen Heizungsluft."
So ein Satz bringt mich auf die Palme. Sein Verfasser tut so, als hätten alle, deren Nase im Winter austrocknet, eine Krankheit. Dabei reagieren sie nur auf eine für sie ungünstige Umweltbedingung und sind völlig gesund, wenn es nur feucht genug ist. Zweitens hat zumindest meine Heizung keinerlei Einfluss auf die Luftfeuchtigkeit in einem Raum. Im November und Dezember messe ich oft noch über 50 Prozent, ob ich nun viel heize oder wenig. Ab Januar kann die Luftfeuchtigkeit unter 20 Prozent fallen, ob ich nun viel heize oder wenig. Noch im Mai 2011 hatten wir Werte unter 30 Prozent, und die Heizungen waren längst überall abgestellt.
Trockene Luft ist nicht menschengemacht, sondern ein Wetterphänomen. Eine Kollegin, die auch darunter leidet, setzt sich in die Tropen ab, sobald das Wintersemester vorbei ist. Andere müssen zu Hause mit dem Problem umgehen, und hier kommen die Apotheker ins Spiel. Sie sind über Produkte, die einem bei trockener Luft das Leben erleichtern, meistens sehr gut informiert.
Gegen eine trockene Nase gibt es Sprays, Salben und Spülungen. Vieles davon hilft nicht wirklich und könnte einen Fortschritt gut gebrauchen. Die Suche nach Neuerungen führte mich Anfang 2011 in eine Apotheke, die nur zufällig auf meinem Weg lag. Es war Februar und die Luftfeuchtigkeit lag bei 27 Prozent. "Ich hätte gerne etwas zur Behandlung trockener Nasenschleimhaut und habe gehört, es gibt da etwas Neues", sagte ich zur Apothekerin.
"Viele Menschen haben im Winter das Problem", entgegnete sie, "das liegt an der trockenen Heizungsluft." Ich ging nicht darauf ein. Warum sollte ich den Besserwisser spielen, wenn es in Werbetexten, Fachzeitschriften und Tageszeitungen überall zu lesen steht: Trockene Heizungsluft ist schuld an trockener Nase.
"Ich kann Ihnen eine Meersalzlösung anbieten, ganz ohne Konservierungsmittel, das ist besser verträglich." Nun weiß ich, dass es Keime im Meerwasser schwer haben, eine Konservierung in diesem Fall also ohnehin überflüssig ist, dennoch berührte es mich seltsam, ausgerechnet in einer Apotheke auf Konservierungsmittelskepsis zu stoßen. Der Nutzen von Konservierungsmitteln ist generell höher einzustufen als ihr mögliches Risiko und der Verzicht darauf sollte kein Verkaufsargument sein.
Die Apothekerin zeigte mir das Produkt. Ich hatte es schon vor drei Jahren einmal ausprobiert. Es befeuchtet die Nase, aber der Effekt hält nur kurz an und der zahlende Kunde kommt schnell auf die Idee, dass etwas Wasser mit einer Prise Meersalz darin genauso gut wirkt und weniger kostet.
"Versuchen Sie es mit Sesamöl, das ist ein traditionelles ayurvedisches Heilmittel." Sesamöl kenne ich als Zutat der asiatischen Küche. Der Gedanke, es in meine Nase zu schmieren, war mir unangenehm, und der bloße Hinweis auf Tradition ist für mich kein Argument. Ich verließ die Apotheke, ohne etwas gekauft zu haben. Irgendwie fühlte ich mich falsch aufgehoben und beschloss, es in meiner Hausapotheke noch einmal zu versuchen.
"Klar gibt es etwas Neues", sagte meine stets gut informierte Apothekerin. "Es soll die Nase länger feucht halten als vergleichbare Produkte, denn es enthält Meerwasser und einen Zusatzstoff, der das Wasser an die Nasenschleimhaut bindet. So können Sie länger frei atmen und darum auch besser durchschlafen."
Jemand hatte das Problem bisheriger Nasenfeuchthaltemittel erkannt und sich etwas Neues einfallen lassen. Nicht mehr und vor allem nicht weniger. Dem Fortschritt sei Dank.
Gerhard Schulze
Gerhard Schulze, geb. 1944, ist Professor für Soziologie an der Universität Bamberg. Seine Arbeiten untersuchen den kulturellen Wandel der Gegenwart. Im Februar 2011 erschien sein aktuelles Buch "Krisen. Das Alarmdilemma" im Fischer Verlag.
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