Tagung

Neuer Therapieansatz durch molekulare Diagnostik

Bad Zwischenahner Dialog

Ein Bericht von Thomas Müller-Bohn

Der diesjährige Zwischenahner Dialog am 14. und 15. April wurde wesentlich durch Ausführungen von Prof. Dr. Theodor Dingermann, Frankfurt/Main, zu den Perspektiven für eine Arzneimitteltherapie auf der Grundlage der molekularen Diagnostik beeinflusst. Ein Therapieansatz unter Berücksichtigung der individuellen Genausstattung verspricht neben bahnbrechenden therapeutischen Vorteilen auch neue ökonomische Perspektiven.
Fotos: DAZ/tmb
Der Zwischenahner Dialog ermöglicht der Pharmaindustrie, Apothekern, Ärzten und Krankenversicherungen ein gemeinsames Forum für strategische Überlegungen und Diskussionen.

Das Verständnis von Erkrankungen auf molekularer Ebene in Verbindung mit der Kenntnis des humanen Genoms ermöglichen zunehmend erfolgreichere Eingriffe durch intelligente Arzneimittel, wie Dingermann in einem mitreißenden Vortrag erläuterte. Dabei geht es nicht nur um weitere Arzneimittelinnovationen, sondern um einen neuen Ansatz der Arzneitherapie mit weitreichenden Folgen. "Wir behandeln heute Krankheiten, aber keine kranken Patienten", erklärte Dingermann. Außerdem biete die molekulare Diagnostik eine Chance zur Kostenkonsolidierung. Denn bisher führt medizinischer Fortschritt zu steigenden Kosten, während Fortschritt in anderen Gebieten kostensenkend wirkt, beispielsweise in der Computertechnik. Dies könne künftig auch in der Arzneitherapie möglich werden.

Zwischenahner Dialog


Der Zwischenahner Dialog ist die Weiterentwicklung einer gesundheitsökonomischen Fachtagung, die erstmals 1998 stattfand. Veranstalter sind die Apothekerkammer und der Landesapothekerverband Niedersachsen sowie der gesundheitspolitische Arbeitskreis Nordwest der forschenden Arzneimittelhersteller. Unter der Bezeichnung Zwischenahner Dialog fand die Veranstaltung nun zum siebenten Mal in dem niedersächsischen Kurort statt.


Foto: DAZ/Schelbert
Prof. Dr. Theodor Dingermann

Genetische Einflussfaktoren

Dabei geht es um weit mehr als die zielgerichteten Therapien im bisherigen Sinn. Solche modernen Arzneimittel greifen gezielt an einem spezifischen Rezeptor an und doch sind die Erfolge vielfach eher ernüchternd. So ermögliche der hoch spezifische Angriff von Cetuximab am EGF-Rezeptor nur eine durchschnittliche Lebenszeitverlängerung von fünf Monaten, erklärte Dingermann. Dies liege an funktionellen Änderungen, die in der Signaltransduktionskaskade unterhalb ("downstream") des Arzneimittel-Targets liegen. Moderne Strategien könnten sein, die Patienten ohne solche zusätzlichen Veränderungen zu identifizieren und nur diese gezielt zu behandeln oder spezifische Arzneimittel für die weiteren veränderten Rezeptoren einzusetzen.

Noch viel größeres Potenzial als bei diesen Zellen mit krankheitsbedingt verändertem Genom sieht Dingermann in der Berücksichtigung der dauerhaften individuellen Genausstattung. Bereits die genetischen Abweichungen zwischen gesunden Menschen führen dazu, dass Patienten in unterschiedlicher Weise auf Arzneimittel ansprechen. Denn die relevanten Rezeptoren oder Transporter für die Wirkstoffe können in unterschiedlicher Menge und Ausprägung vorhanden sein. Daraufhin gebe es sogar bei Acetylsalicylsäure etwa 20 Prozent Non-Responder. Beta-Blocker würden bei 20 Prozent, ACE-Hemmer bei 30 Prozent und Statine bei 40 Prozent der Patienten nicht wirken, so Dingermann. Diese Patienten seien keineswegs non-compliant. So wurde beispielsweise der Beta-Blocker Bucindolol ursprünglich nicht zugelassen, weil er nicht besser als Placebo schien, doch wirkt er bei einer bestimmten Patientengruppe gut. Die Wirksamkeit, aber auch das Risiko für eine Rhabdomyolyse durch Statine, hänge ebenfalls von der genetischen Ausstattung ab und unterscheidet sich für die verschiedenen Statine. Hinzu kommen die sehr großen Unterschiede in der Biotransformation. Je nach persönlicher Ausstattung mit CYP-Isoenzymen werden wirksame Arzneimittel schneller oder langsamer abgebaut und Prodrugs zu schnell oder unzureichend in ihre Wirkform umgewandelt. So hält es Dingermann für unethisch, Tamoxifen zu verordnen, ohne den CYP2D6-Genotyp zu prüfen. Denn das Prodrug wird erst durch dieses Isoenzym in die Wirkform Endoxifen umgewandelt.

"Trotz Evidenz-basierter Medizin müssen wir nicht unseren gesunden Menschenverstand an der Garderobe abgeben."

Prof. Dr. Theodor Dingermann

Einfacher Test

Dingermann betonte, dass die genetischen Daten nicht nur für den Einsatz moderner Spezialpräparate wichtig seien, sondern bei etwa 70 Prozent aller heute üblichen Arzneimittel genutzt werden könnten. Im Rahmen der molekularen Diagnostik müssten die Patienten auf etwa 10.000 Biomarker getestet werden. Er selbst habe sich für etwa 200 US-Dollar testen lassen. Dies ist nur einmal im Leben erforderlich wie beim Blutgruppentest. Dingermann ermunterte dazu, jetzt mit diesen Tests zu beginnen und sie im Rahmen künftiger Möglichkeiten zu erweitern.


Bad Zwischenahn mit dem Zwischenahner Meer bietet einen angenehmen Rahmen für angeregte Diskussionen über neue Perspektiven im Gesundheitswesen.

Weitreichende Folgen

Wenn diese Informationen berücksichtigt würden, könnten die Responderrate massiv erhöht und sehr viele Probleme durch Arzneimittelunverträglichkeiten ebenso vermindert werden. Dann würden Arzneimittel bei immer kleineren Subgruppen von Patienten eingesetzt. Das senke das Vermarktungspotenzial für die Industrie – und doch werde die Industrie damit gut arbeiten können, erwartet Dingermann. Denn künftig könnten viele Arzneistoffe weiterentwickelt werden, die bisher wegen unerwünschter Wirkungen in bestimmten Populationen nicht weiter erforscht würden. Es werde also viel mehr verschiedene Arzneimittel geben müssen. Diese Erkenntnis falsifiziere die Kritiker an sogenannten Me-too-Arzneimitteln wie Prof. Glaeske, betonte Dingermann. Denn es sei wichtig, viele Arzneimittel zur Auswahl zu haben, die das gleiche Target adressieren, aber chemisch unterschiedlich sind.

Die Folgen der neuen Sichtweise betreffen auch die Arzneimittelforschung. Denn die Evidenz-basierte Medizin beruht letztlich auf statistischen Auswertungen. Der Patient müsse dabei das Glück haben, mit seinen Eigenschaften in der Mitte der Glockenkurve zu liegen. Mit genetischen Informationen könnten die Patienten aber in Gruppen eingeteilt werden, bei denen unterschiedliche Arzneimittel wirken. Darum sei dies auch keine personalisierte, sondern eine stratifizierte, also an Gruppen orientierte Therapie, so Dingermann. In diesem Konzept liege der Schlüssel zu Effektivität und Effizienz der künftigen Arzneitherapie. Denn es sei unethisch, Arzneimittel zu geben, die nicht helfen können – und es sei auch nicht nützlich, dafür Geld auszugeben. Vor diesem Hintergrund bedauerte Dingermann den Arztvorbehalt im Gendiagnostikgesetz. Obwohl sich die Deutsche Pharmazeutische Gesellschaft hier engagiert habe, hätten die zuständigen Politiker offenbar nicht verstanden, dass der Diagnostikbegriff in dem hier gebrauchten Sinn auf den Apotheker ausgeweitet ist. Es sei ein gesellschaftlicher Konsens nötig, Ärzte und Apotheker in diesem Bereich arbeiten zu lassen.

Vielfältige Reaktionen

Dingermanns Vortrag prägte den gesamten diesjährigen Zwischenahner Dialog. Die Beteiligten zeigten sich von den neuen Optionen deutlich beeindruckt. ABDA-Präsident Heinz-Günter Wolf forderte, einen Pharmako-Gen-Pass zu schaffen, um die Patienten im beschriebenen Sinn beraten zu können. Apotheker und Ärzte müssten aber zuvor lernen, mit diesen neuen Möglichkeiten umzugehen. Brigitte Käser, AOK Niedersachsen, wies auf den Kontrast zur bisherigen Situation hin: "Individualisierte Medizin ist aktuell mehr Fiktion als Realität". Die neue molekulare Diagnostik berge jedoch die Gefahr der Kostensteigerung durch die Diagnose. "Nicht mehr das Arzneimittel ist der Blockbuster, sondern der Test", so Käser. Außerdem befürchtet sie, dass die Arzneimittel teurer würden, weil die Verkaufszahlen bei der Anwendung für kleine Patientengruppen sinken würden.

Inhaltsverzeichnis "Bad Zwischenahner Dialog":



DAZ 2011, Nr. 16, S. 60

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