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Interpharm 2011
Wer positioniert sich wie?
Neue Versorgungskonzepte wie Disease Management Programme (DMP) und die Integrierte Versorgung werden unter dem Begriff "Case Management" zusammengefasst. Wie Dr. Thomas Müller-Bohn, der die Diskussionsrunde moderierte, eingangs erläuterte, ist dieser Begriff in Deutschland vor allem juristisch geprägt. In den USA – wo er seinen Ursprung hat – steht er für die Verbindung von medizinischen und pharmazeutischen Qualitätsansprüchen mit ökonomischen Zielen. Der Fokus liegt dabei auf Patienten, deren Therapie mit besonders hohen Kosten verbunden ist, in der Regel multimorbide Patienten. Letzteres unterscheidet Case Management von Disease Management, das sich an große Patientengruppen wie Asthmatiker oder Diabetiker richtet. Während Disease Management und Case Management in den USA bereits weit verbreitete Regulationsinstrumente sind, steht Deutschland hier erst am Anfang einer neuen Entwicklung – allerdings einer Entwicklung, die von der Politik ganz klar gewünscht ist. "Neue Versorgungskonzepte und vor allem die juristisch fundierten neuen Versorgungsformen sind vom Gesetzgeber ganz gezielt gemacht als Experimentierfeld und darum immer ein möglicher Hebel für Systemveränderungen. Es soll ausprobiert werden, ob im Kleinen funktioniert, was sich vielleicht irgendwann auf die große Regelversorgung übertragen lässt", so Müller-Bohn. Aus diesem Grund sollten die neuen Versorgungskonzepte auch alle Beteiligten im Gesundheitswesen interessieren.
Was Medco Celesio will
Ein aktueller Anlass für die Diskussion ist zudem das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG), das pharmazeutische Hersteller als Partner für integrierte Versorgungskonzepte erlaubt. Diese haben damit erstmals die Möglichkeit, direkt mit dem Patienten in Kontakt zu treten. Ein weiterer aktueller Diskussionsanlass ist die Gründung des Joint Venture Medco Celesio Mitte vergangenen Jahres. Es will "mit sektorübergreifenden Lösungen langfristig die Qualität der Gesundheitsversorgung von Patienten erhöhen und zur Reduzierung der finanziellen Belastung von Kostenträgern im Gesundheitswesen in Europa beitragen". Mit im Boot sind die beiden Versandapotheken DocMorris und Europa Apotheek Venlo. Was Medco Celesio in Deutschland konkret plant, erläuterte Prof. Dr. Christian Franken, Chefapotheker bei DocMorris. Seiner Aussage nach handelt es sich um ein langfristiges Konzept, das sich aus drei Geschäftsbereichen zusammensetzt:
Von den Krankenkassen bereitgestellte anonymisierte Patientendaten werden von Medco Celesio analysiert, um Fehlversorgung in der Arzneimitteltherapie aufzudecken und zu beheben. Das Ziel sind – via Call Center betreute – therapietreue Patienten, die den Kostenträgern unnötige Mehrkosten ersparen. Angeboten wird ACS für Patienten mit chronischen Erkrankungen. Ein erster Vertrag mit einer Krankenkasse liegt bereits vor.
Patienten mit bestimmten chronischen Erkrankungen, die einen besonders hohen Betreuungsaufwand haben, sollen einen Vor-Ort-Service erhalten. Dieser soll von spezialisierten Krankenschwestern geleistet werden.
Über DocMorris und die Europa Apotheek sollen Chroniker mit Arzneimitteln, aber auch darüber hinausgehenden Betreuungskonzepten versorgt werden.
Auf die Frage, wo bei all diesen Konzepten die Vor-Ort-Apotheken vorgesehen sind, antwortete Franken, dass Medco Celesio zwar den Versandhandel präferiere, der Patient jedoch weiterhin die freie Apothekenwahl habe. Darüber hinaus spielt die Präsenzapotheke für den Fall von Verordnungen, die nicht über den Versandhandel abgedeckt werden könnten (Stichwort Betäubungsmittel), eine Rolle. Franken betonte, dass jede Apotheke – nicht nur Apotheken der DocMorris-Kooperation – sich an den Konzepten beteiligen könne und dazu auch eingeladen sei. Wie die Beteiligung konkret aussehen soll, ließ er allerdings offen. Die Konzepte seien derzeit in der Entwicklung, so lange diese nicht abgeschlossen sei, werde man keine Aussagen hierzu machen.
Kassen sehen Finanzierung nur mittelfristig
Angesichts des finanziellen Aufwands, den die von Franken vorgestellten Konzepte mit sich bringen, stellte Müller-Bohn an Dr. Ulf Maywald die Frage, ob sich seine Kasse bzw. ob sich die gesetzlichen Krankenkassen allgemein vorstellen können, sich in derartige Konzepte finanziell einzubringen. "Nur mittelfristig, nicht kurzfristig", lautete die klare Antwort. Das vordringliche Problem der gesetzlichen Kassen sei derzeit, ihren Versicherten die Notwendigkeit von Zusatzbeiträgen vermitteln zu müssen. Viele Kassen täten sich damit schwer und zögerten, da sie bei Ankündigung eines Zusatzbeitrags damit rechnen müssen, dass ihnen die Versicherten davonlaufen. In etwa eineinhalb Jahren, wenn voraussichtlich flächendeckend Zusatzbeiträge eingeführt seien, sähe die Lage jedoch anders aus. Maywald dazu: "Wenn erst einmal alle Patienten daran gewöhnt sind, dass sie Zusatzbeiträge bezahlen müssen, dann ist es auch egal, ob dieser Beitrag 8,50 Euro oder 8,90 Euro beträgt. Für die 40 Cent Differenz können dann vernünftige Versorgungskonzepte angeboten werden." Interessant für die Kassen sind laut Maywald dabei natürlich nur solche Konzepte, bei denen am Horizont ein Return of Investment steht. "Kassen, die vernünftig planen, haben einen Businessplan für derartige Programme."
Froese: Vor-Ort-Lösung besser als großes System
An Dr. Peter Froese richtete Müller-Bohn die Frage, wie er das System von Medco Celesio bewerte. Froese sieht darin prinzipiell gute Ansätze. Die angestrebte Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit, der Therapietreue und des Therapieverständnisses sei natürlich wünschenswert. Allerdings stelle sich die Frage, ob ein großes System wie von Medco Celesio angestrebt, das dem Gesundheitswesen von oben übergestülpt werde, zur Erreichung der Verbesserungen tatsächlich die Lösung sei. "Ist für unsere Versorgungsrealität nicht die bessere Lösung, wenn wir genau umgekehrt vorgehen, das heißt, indem wir unsere Apotheker vor Ort, unsere Ärzte vor Ort und unsere Krankenkassen vor Ort aktivieren und zu einer besseren Zusammenarbeit motivieren?" Froese appellierte daran, diesen Prozess, der in Ansätzen bereits realisiert werde, konsequent fortzusetzen. Wichtig sei dabei, dass die Apotheker weiterhin als Freiberufler agieren können und dass eine Entbürokratisierung stattfindet, damit sich der Apotheker wieder auf den Patienten konzentrieren kann. Auf die Nachfrage, ob ein großes System wie Medco Celesio einen solchen Prozess nicht viel schneller bewältigen könne, antwortete Froese: "Wir sind auch ein Riesenunternehmen". Der einzige Unterschied sei, dass sich dieses Unternehmen aus individuellen Apotheken zusammensetze. Darin liege aber gerade ein Vorteil, denn die Betreuung von Patienten sei ein hochindividueller Prozess. Froese bezweifelte, dass der Versandhandel oder die Betreuung via Call Center dies ausreichend berücksichtigen kann. Dem widersprach Franken, die Erfahrungen hätten gezeigt, dass die Betreuung über Versandhandel und Call Center erfolgreich sei. "Das Konzept in den USA geht auf", so Franken. Es zeichne sich zudem durch einen hohen Standardisierungsgrad aus. Darin sah auch Maywald einen Vorteil. Wenn die Apothekerschaft ein geeigneter Partner für neue Versorgungskonzepte sein wolle, müsse sie hier ebenfalls ansetzen. Darüber hinaus muss die Organisation stimmen: Maywald dazu: "Wenn ich mir die Apotheke vor Ort vorstelle, dann brauchen wir eine Managementgesellschaft oben auf, mit der ich den Vertrag abschließen kann."
Pharmaindustrie in der Findungsphase
Interessiert sich die Pharmaindustrie – angesichts ihrer Möglichkeit, bei integrierten Versorgungskonzepten mitzumachen – für den neuen Markt? Und wenn ja, ist sie dann nicht allein aufgrund ihrer Größe ein Player, der alle anderen an die Wand drückt, lauteten die ersten Fragen an Dr. Matthias Pfannkuche, Boehringer Ingelheim. Dieser bejahte das Interesse der Pharmaindustrie an neuen Versorgungskonzepten und nannte auch Beispiele, bei denen Pharmaindustrie und Krankenkassen bereits erfolgreich zusammenarbeiten. Die Pharmaindustrie könne sich dabei durch ihr Know-how zu den Arzneimitteln, durch ihre Indikationserfahrung, durch ihre finanziellen Ressourcen und durch ihre Kontakte zu Leistungserbringern und Meinungsbildnern positiv einbringen. An die Wand drücken wolle die Industrie die anderen Player dagegen nicht. Das kann aus Sicht von Pfannkuche auch gar nicht funktionieren, da die Programme nur im Zusammenspielen der verschiedenen Leistungserbringer erfolgreich seien. Pfannkuche nannte dabei in erster Linie die Ärzte, er könne sich aber sehr gut vorstellen, dass die Apotheker bei spezifischen Fragestellungen genauso miteinbezogen würden. Wie das Zusammenspiel konkret aussehen könnte, ließ Pfannkuche allerdings offen. "Die Industrie ist erst seit diesem Jahr als Partner in der Integrierten Versorgung genannt. Es finden jetzt erste Investitionen statt, durch die entsprechende Strukturen aufgebaut werden, die derartige Fragen beantworten können, aber hier ist noch ein gewisser Vorlauf nötig", so Pfannkuche. Vor die Entscheidung gestellt, ob er eher mit den Vor-Ort-Apotheken oder mit einer Versandapotheke einen Vertrag abschließen würde, sagte er, dass ein Vertragspartner aus Sicht der Pharmaindustrie natürlich besser sei als viele. Allerdings müsse das nicht zwangsläufig die Versandapotheke sein. Ebenso gut könne er sich die Apothekerverbände vorstellen.
Eine Frage der Daten
Eine Voraussetzung für das Funktionieren von integrierten Versorgungskonzepten ist ein reibungsloser Datenfluss. Hier gibt es noch viele datenschutzrechtliche Probleme. Gefragt, ob private Dienstleister Zugang zu Patienten- und Abrechnungsdaten erhalten sollten, gingen die Meinungen auseinander. Während Froese ganz klar dafür plädierte, dass der Datenschutz in Deutschland auf dem derzeitigen Niveau erhalten bleiben muss, befürwortete Franken verständlicherweise die Weitergabe von Daten an private Dienstleister. Auch Pfannkuche signalisierte aus Sicht der Industrie Interesse an Daten. Die "größten Datenschätze" sieht er bei den Krankenkassen. Hier gäbe es viel Potenzial. Maywald bestätigte dies, verwies gleichzeitig aber auf ein anderes Datendefizit, das seinem Unternehmen und dem Krankenkassensystem insgesamt Probleme bereitet: ein Mangel an Daten der Versorgungsforschung. Bei Versorgungskonzepten, für die aus Pilotstudien etc. nicht ein nachweisbarer Nutzen belegt sei, täten sich die Kassen schwer, einzusteigen. Derartige Daten seien aber in der Regel nicht oder nicht ausreichend verfügbar.
Auf den Punkt gebracht
Am Ende der Diskussion wurden die Vertreter der Apothekerschaft, von Medco Celesio und der Industrie von Müller-Bohn aufgefordert, nochmals in einem Satz herauszustellen, wo sie ihre speziellen Vorteile sehen, die sie in neue Versorgungskonzepte einbringen können: Know-how, Erfahrung zum Arzneimittel, zur Indikation, Kontakte zu Leistungserbringern und Meinungsbildnern sowie finanzielle Ressourcen lautete die Antwort von Pfannkuche. Franken stellte die Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit durch ein effizientes und standardisiertes System heraus. Froese warf die Vor-Ort-Verfügbarkeit eines diskriminierungsfreien Zugangs zu einer individuellen Versorgung in die Waagschale. Gefragt, was ihm davon gefalle, antwortete Maywald, dass für die Kassen prinzipiell alles Gesagte interessant sei. Die Industrie müsse allerdings die Vertrauensbasis schaffen, dass sie ein Miteinander mit den Kassen wolle und nicht nur ihren eigenen Vorteil sehe. Das Konzept von Medco Celesio bezeichnete Maywald als "berechtigt", es eigne sich allerdings eher als Nischenkonzept für kleinere Kassen. An Froese richtete Maywald nochmals den Appell, dass die Apothekerschaft sich organisieren und in Modellprojekten ihren Nutzen für die Kassen nachweisen müsse. "Setzen Sie nicht auf das Prinzip Hoffnung. Die Kassen werden sicher nicht ins kalte Wasser springen, sondern brauchen einen geregelten Übergang."
ral
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