Gesundheitspolitik

Graue: Jede vierte Apotheke ist gefährdet

Standesvertreter sollten mehr Realitätsbewusstsein und Ehrlichkeit zeigen

Berlin (lk). Die wirtschaftliche Lage der Apotheken hat sich durch das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) nochmals verschlechtert. In Hamburg haben in den ersten beiden Monaten dieses Jahres bereits sechs Apotheken geschlossen. Der Vorsitzende des Hamburger Apothekervereins, Dr. Jörn Graue, befürchtet noch Schlimmeres: "Ich sehe jetzt konkret, dass etwa ein Viertel der Apotheken extrem gefährdet ist", sagte Graue im Interview mit der AZ.
Dr. Jörn Graue

AZ: Das AMNOG ist jetzt drei Monate in Kraft. Wie wirkt es sich auf die wirtschaftliche Lage der Apotheken aus?

Graue: Wir Apotheker bewegen uns seit geraumer Zeit auf einer abschüssigen Ebene. Wir kämpfen mit Renditeverlusten im verschreibungspflichtigen Bereich, mit Rabattverlusten beim Großhandel, mit Ausschreibungen bei den Hilfsmitteln, mit Einschränkung unserer Handlungsfreiheit durch Rabattverträge und mit Umsatzverlusten im OTC-Bereich durch Versandhandel und Pick-up-Stellen. Das AMNOG hat die Apotheken durch die gesetzliche Festschreibung des Apothekenabschlages auf 2,05 Euro zusätzlich hart getroffen. In Hamburg haben in den ersten zwei Monaten dieses Jahres allein sechs Apotheken wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage aufgeben müssen.


AZ: Ihre Analyse hört sich düsterer an als von anderen Verbandsvertretern.

Graue: Wir haben auch keinen Grund zum Jubeln. Es rächt sich jetzt, dass wir Apotheker ohne große Not die alte Apothekenpreisverordnung 2004 preisgegeben haben. Dem Verfall der Generikapreise im niedrigen Segment hätte auch durch den Einsatz einer intelligenten Modifizierung entgegengewirkt werden können. Mit der alten Arzneimittelpreisverordnung konnten inflationäre und wertschmälernde Tendenzen lange Zeit mühelos aufgefangen werden. Heute erkennen wir, dass die als alternativlos dargestellte Honorierung zum Sargnagel vieler Apotheken geworden ist.


AZ: Was befürchten Sie?

Graue: Das Drehen an der Schraube des Apothekenabschlages kennt ja nur eine Richtung: Nicht nur Ulla Schmidt, auch Philipp Rösler lassen die Apotheken zur Ader. Dahinter steckt das politische Ziel, die Zahl der Apotheken deutlich zu reduzieren. Die steigende Zahl der Apotheken in der Vergangenheit signalisierte der Politik geradezu ein bekömmliches Auskommen für immer mehr Distributionsstellen. Hinter mehr oder weniger verschlossenen Türen wird ungeniert über eine Reduzierung der Apothekenzahl auf 15.000 gesprochen, um die verbleibenden Apotheken wirtschaftlich zu stärken. Mit dem neuen Honorarsystem haben die Apotheken der Politik das Instrument an die Hand gegeben, die Zahl der Apotheken über die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage zu steuern.


AZ: Sie sprechen von einem stillschweigenden Apothekensterben, aber mit System.

Graue: Der Hintergedanke ist doch leicht durchschaubar: Bei weniger Apotheken mit mehr Umsatz und höheren Packungszahlen lässt sich doch der Abschlag wieder sukzessive nach oben schrauben und so weitere Einsparungen für die Kassen erzielen. Auf dieser Linie hat doch erst kürzlich beim Berliner Sozialgericht auch Richter Rudnik argumentiert. Die Gleichung funktioniert ganz einfach: Erst wird den Apotheken der Sauerstoff entzogen. Bei den übrig bleibenden Mohikanern ist wieder genügend Luft vorhanden, die man dann wieder systematisch ablassen kann. Das AMNOG trägt dazu bei, diesen Vorgang zu beschleunigen.


AZ: Waren Sie überrascht, dass der GKV-Spitzenverband bei der Verhandlung über den Apothekenabschlag plötzlich mit der Entwicklung des Gesamtapothekenhonorars argumentiert hat?

Graue: Überrascht hat mich auf jeden Fall, dass die Schiedsstelle auf diese Einlassung des GKV-Spitzenverbandes nicht vorbereitet war. Das mag an der Kürze der Zeit für die Übermittlung des Schriftsatzes gelegen haben. Dennoch bin ich der Meinung, dass dieser Aspekt bereits bei der Entscheidung der Schiedsstelle hätte berücksichtigt werden können und auch müssen. Das ist doch eine Milchmädchenrechnung.


AZ: Befinden sich die Apotheken vor dem Sozialgericht jetzt in der Defensive?

Graue: Nein, zunächst noch nicht. Das Sozialgericht Berlin spricht kein endgültiges Urteil. Der Weg durch die Instanzen ist offen. Das Verfahren kann sich über mehrere Jahre hinziehen. Die Frage ist dann, ob bei einem für die Apotheken negativen Ausgang überhaupt noch die Möglichkeit einer Rückrechnung besteht.


AZ: Wie geht es mit den Apotheken in Zukunft weiter?

Graue: Wir Apotheker müssen uns dieser Entwicklung stellen, mehr Realitätsbewusstsein und Ehrlichkeit uns selbst gegenüber zeigen. Auch wir Mandatsträger sind in einer Gedankenfalle gefangen. Wir sind verantwortlich für alle Apotheken, auch für die, die in Zukunft eventuell das Nachsehen haben werden. Es muss uns gelingen, den Mut zu finden, die bittere Wahrheit auszusprechen.


AZ: Wie lautet Ihre bittere Wahrheit?

Graue: Die deutsche Apotheke wird zwar überleben. Es wird sie immer geben. Es wird sie aber nicht mehr in dieser Breite wie zurzeit geben. Aufgrund der geringen Rendite im rezeptpflichtigen Bereich sind viele Apotheken nicht mehr in der Lage, die Kosten ihres Betriebs zu erwirtschaften. Damit alle Apotheken überleben könnten, müsste das Apothekenhonorar deutlich angehoben werden. Das ist aber nicht zu erkennen.


AZ: Das heißt, Sie rechnen mit einem Apothekensterben?

Graue: Die Zahl der Apotheken muss sich erheblich verringern, um sicherzustellen, dass die anderen Apotheken überleben können. Das ist das Ziel der Politik, auch wenn sie das nicht offen ausspricht. Und die Verbandsvertreter tun sich mit dieser Botschaft schwer. Natürlich möchte auch ich alle Apotheken erhalten. Aber dieser Prozess ist nicht aufzuhalten. Es wird in einigen Jahren deutlich weniger Apotheken in Deutschland geben.


AZ: Wie viele?

Graue: So viele wie vor der Niederlassungsfreiheit.


AZ: Damals gab es nur halb so viele Apotheken. Sie rechnen mit einer Halbierung?

Graue: Ich sehe jetzt konkret, dass etwa ein Viertel der Apotheken extrem gefährdet ist. In den Niederlanden sind aufgrund der dortigen Honorarkürzung rund 40 Prozent der Apotheken in Existenznot. Ich hoffe, dass uns eine solche Dimension erspart bleibt.


AZ: In absehbarer Zeit wird das Bundesgesundheitsministerium die Novelle der Apothekenbetriebsordnung vorlegen. Welche Erwartungen haben Sie?

Graue: Es wäre wichtig, auf diesem Weg endlich eine Beschränkung der Pick-up-Stellen zu erreichen. Die Bundesregierung hat uns beim versprochenen gesetzlichen Verbot im Stich gelassen. In der Apothekenbetriebsordnung sollten Regelungen verankert werden, die dieses Unwesen in die Schranken verweisen.


AZ: Sie haben keine Bedenken hinsichtlich der Definition einer Apotheke "light"?

Graue: Die Sorge treibt mich natürlich um. Ich gehe aber davon aus, dass die Vorschläge der ABDA, die dem Bundesgesundheitsminister übermittelt wurden, so sind, dass uns hier nicht wieder ein Kuckucksei ins Nest gelegt wird.


AZ: Herr Dr. Graue, vielen Dank für das Gespräch!



AZ 2011, Nr. 13, S. 1

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