Selbstmedikation

Können Ginkgozubereitungen Krampfanfälle fördern?

Extrakte aus Ginkgo werden seit mehr als 20 Jahren in Deutschland und vielen anderen Ländern zur Behandlung von Hirnleistungsstörungen und Demenzerkrankungen eingesetzt. Die Ginkgo-haltigen Arzneimittel unterliegen einer strengen Kontrolle hinsichtlich Qualität und Quantität der Inhaltsstoffe der Ginkgoblätter. Vor allem im Ginkgosamen findet sich aber auch Methylpyridoxin, das – in großen Mengen aufgenommen – zu epileptiformen Krämpfen führen kann. Eine Studie versuchte, den Mechanismus dieser unerwünschten Wirkung aufzuklären.
Die Forschung geht weiter. Auch zu bewährten Phythopharmaka gibt es immer wieder neue Aspekte zu den Inhaltsstoffen.
Foto: ratiopharm

Ginkgoblätter enthalten Flavonolglykoside, vor allem Kämpferol-, Quercetin- und Isorhamnetinderivate, Biflavone, unter anderem Amentoflavon, Bilobetin und Ginkgetin, Isoginkgetin sowie Proanthocyanidine, komplexe Diterpenlactone (Ginkgolide) Bilobalid (Sesquiterpen) sowie Ginkgolsäure. Extrakte aus den Blättern von Ginkgo biloba werden seit Jahrzehnten als Arzneimittel verwendet. Derzeit werden sie zur Behandlung verschiedener Arten von Demenz und deren Symptome sowie von zerebralen und peripheren Durchblutungsstörungen verwendet. Inhaltsstoffe, mit denen die Wirksamkeit verknüpft ist, sind Terpenlaktone (Ginkgolide A, B, C und Bilobalid) sowie Glycoside von Flavonen (Quercetin, Kämpferol und Isorhamnetin). Methylpyridoxin (MPO, "Ginkgotoxin") ist ein Produkt des Sekundärstoffwechsels von Ginkgo biloba, das vor allem in den Samen angereichert wird, aber auch die Blätter können – neben den therapeutisch genutzten Inhaltsstoffen – Methylpyridoxin in geringen Konzentrationen enthalten. Der Gehalt variiert und kann in den Blättern 7 µg Ginkgotoxin pro Gramm Frischgewicht betragen, in den Samen können 42 µg pro Gramm Frischgewicht enthalten sein.

Übermäßiger Verzehr von Ginkgosamen kann zu epileptiformen Krämpfen führen. Das in den Samen enthaltene Methylpyridoxin ist für diese Symptome verantwortlich. Die Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Eckhard Leistner vom Institut für Pharmazeutische Biologie der Universität Bonn befasst sich mit der Aufklärung des Mechanismus der Intoxikationen, die nach dem Verzehr von mehr als zehn rohen Ginkgosamen beobachtet wurden. In Tierversuchen konnte Methylpyridoxin Krampfanfälle auslösen und den GABA-Spiegel im Gehirn senken. Epileptische Anfälle werden in den Zusammenhang gebracht mit erniedrigten Spiegeln an Gammaaminobuttersäure (GABA), erniedrigten Pyridoxal-5´-Spiegeln und erhöhten Glutamatspiegeln im Gehirn. Es wird angenommen, dass eine Hemmung der Glutamat-Decarboxylase nicht für die Symptome einer Methylpyridoxinvergiftung verantwortlich sein kann. Wahrscheinlich werden noch weitere Enzyme gehemmt: Der geschwindigkeitsbestimmende Schritt der GABA-Synthese ist die Decarboxylierung von Glutamat durch die Glutamat-Decarboxylase, wobei im menschlichen Hirn zwei Isoformen des Enzyms exprimiert werden: GAD65 und GAD67. In In-vivo-Untersuchungen mit isolierten Enzymen zum Einfluss von Ginkgotoxin, Desoxypyridoxin und deren 5´Phosphatestern auf die Aktivität der GABA-Decarboxylase konnten die Autoren zeigen, dass Ginkgotoxin und sein Phosphatester sowie deren Strukturanaloga die Glutamatdecarboxylierung nur bei unphysiologisch hohen Konzentrationen hemmen, wobei die GAD65 stärker gehemmt wird als die GAD67. Die Daten legen nahe, dass der Hauptgrund der Symptome einer Vergiftung mit Methylpyridoxin nicht der direkte Effekt auf die Glutamat-Decarboxylase ist, sondern in der Hemmung der Vitamin-B6 -Phosphorylierung durch die Hemmung der Pyridoxal-Kinase zu sehen ist: Die Hemmung der Pyridoxal-Kinase würde dazu führen, dass weniger Pyridoxal-5´-Phosphat gebildet wird. Als Folge würde weniger Cofaktor für die Pyridoxal-5´-abhängigen Enzyme des Hirnstoffwechsels zur Verfügung stehen. Auch die Glutamat-Decarboxylase würde in verminderter Aktivität vorliegen. Aus In-vitro-Versuchen mit isolierten Enzymen leiten die Autoren ab, dass beim Übertritt aus dem Blut in das Gehirn Methylpyridoxin und Vitamin B6 um die Enzyme konkurrieren: das etwas lipophilere Methylpyridoxin überschreitet sehr wahrscheinlich die Blut-Hirn-Schranke leichter und wird im Hirn eher durch die Kinasen phosphoryliert: im Gegenzug wird weniger Vitamin B6 phosphoryliert, sodass auch weniger Pyridoxal-5´-Phosphat dem Hirnstoffwechsel zur Verfügung steht. Die Autoren sehen in der Pyridoxal-5`-Kinase das physiologische Target für Methylpyridoxin. Die Folge der Methylpyridoxin-Wirkung sei ein Ungleichgewicht zwischen exzitatorischen und inhibitorischen Neurotransmittern, worin eine mögliche Erklärung für epileptiforme Krämpfe gesehen wird. Aufgrund des beschriebenen Mechanismus können die Autoren nicht ausschließen, dass Methylpyridoxin-haltige Ginkgoteile die Anfallsschwelle bei Epileptikern senken könnten. Hinzu kommt, dass Ginkgopräparate bei medikamentös eingestellten Epileptikern den Abbau der antikonvulsiv wirkenden Medikamente beschleunigen könnten, ein additiver Effekt wäre denkbar, so Leistner. Deshalb fordern die Autoren bei den Standardisierungsprozeduren der Präparate nicht nur diejenigen Inhaltsstoffe, denen eine positive Wirkung zugeschrieben wird, zu berücksichtigen, sondern es sollte darüber hinaus Wert auf die Deklaration der Verbindung Methylpyridoxin gelegt werden.

Klinisch keine Risiken erkennbar

Der Hersteller des Ginkgopräparates Tebonin® , Schwabe, zeigte sich über die Schlussfolgerung der Autoren überrascht, Verdachtsmomente auf Förderung von Krampfanfällen allein aus experimentellen In-vitro-Daten abzuleiten. Die Daten in der vorliegenden Untersuchung wurden durch In-vitro-Versuche mit einer hohen Dosis des Reinstoffs (Methylpyridoxin, MPO) ermittelt, der seit mehr als 15 Jahren als Inhaltsstoff vor allem der Ginkgosamen bekannt ist. In den für die Extraktherstellung verwendeten getrockneten Blättern ist er nur in geringen Konzentrationen enthalten und wird bei der Extraktherstellung weiter abgereichert. Beim Menschen kommt ausschließlich der Extrakt in seiner Gesamtheit zur Anwendung. Die aufgezeigte MPO-Wirkung ist unter EGb 761® bereits deswegen nicht gegeben, so Schwabe, weil der Extrakt neben geringen Konzentrationen an Methylpyridoxin erhebliche Mengen neuroprotektiv wirkender Inhaltsstoffe enthält (z. B. Bilobalid), die offensichtlich das Wirkprofil des Extraktes beim Menschen dominieren. So konnte gezeigt werden, dass das in EGb 761® angereicherte Bilobalid die krampfauslösenden Wirkungen von MPO antagonisiert. Bei Einnahme des Extraktes aus Ginkgoblättern sind die Gehalte an Methylpyridoxin um den Faktor 50 bis 100 geringer als diejenigen, die von den Autoren als bedeutsam für die Humanexposition angenommen werden. Tatsächlich lag in einer Pilotstudie die MPO-Konzentration im Plasma nach Einnahme von 240 mg EGb 761® unter der Nachweisgrenze von 1 nm pro ml (Schwabe-Daten). Zudem wirft Schwabe die Frage auf, wie diese Daten zu dem klinisch unauffälligen Bild für den Extrakt EGb 761® passen. Über die Dokumentation aus umfangreichen klinischen Studien hinaus bestehen Erfahrungen aus der Einnahme von jährlich mehr als 150 Millionen Tagesdosierungen Tebonin® allein in Deutschland seit mehr als zwei Jahrzehnten. Aus beiden Datenquellen besteht kein Hinweis auf ein Auftreten von Krampfanfällen in kausalem Zusammenhang mit der Anwendung von EGb 761® Nach Einschätzung von Schwabe ändern die bereits seit Jahren bekannten und jetzt vorgelegten In-vitro-Befunde die günstige Verträglichkeitsbewertung von EGb 761® nicht. Die aufgezeigten Erkenntnisse zu den Eigenschaften des Einzelstoffes Methylpyridoxin haben sich in der Behandlungswirklichkeit beim Menschen als nicht relevant erwiesen. Darüber hinaus tragen Gebrauchs- und Fachinformation einem theoretischen Risiko für spezielle Personengruppen Rechnung, die nicht zum Anwenderkreis des Extraktes gehören (Anfallskranke, Kinder). ck

Quellen Leistner, E.; Drewke, C.: Ginkgo biloba and Ginkgotoxin. J. Nat. Prod. 2010, 73, 86 – 92. Stellungnahme der Dr. Willmar Schwabe GmbH. Fachinformation Tebonin intens 120 mg, Stand: September 2008.

 

Kurzkommentar

Alles für eine gute Schlagzeile?


"Ginkgo-Präparate können Epilepsie-Anfälle auslösen" – diese Meldung aus dem Internet lässt aufhorchen: Sind Ginkgo-Präparate "gefährlich"? Hatte das IQWiG mit seiner positiven Nutzen-Risiko-Abwägung Unrecht? Die Recherche führt zu einer im Journal of Natural Products publizierten Arbeit zu einem Ginkgoinhaltsstoff. Nun mag man von Phytopharmaka halten, was man will. Man kann den Einsatz von Extrakten aus Ginkgoblättern zur Behandlung von Demenz oder Durchblutungsstörungen gutheißen oder nicht. Informationen auch aus der Grundlagenforschung zu einem Phytopharmakon, das in der Selbstmedikation eine große Rolle spielt, sollten verbreitet werden, sachlich. Und zwar nicht nur in der Fachpresse, sondern auch in der Publikumspresse. Apotheker, Ärzte und Patienten sollten über Erkenntnisse zu möglichen Risiken Bescheid wissen. Kurz fasst die "welt-online" vom 1. Februar unter der Überschrift: "Epileptiker sollten zurückhaltend mit Ginkgo-Präparaten umgehen" die Ergebnisse der Studie zusammen. Ganz anders dagegen die Meldung einer Wissenschaftsredakteurin der Nachrichtenagentur Global Press, die in einem online-Portal reißerisch wie anfangs erwähnt titelt. Schade, dass für eine gute Schlagzeile Verunsicherung in Kauf genommen wird.

Dr. Carolina Kusnick

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