Feuilleton

Gerhard Domagk und der heilsame Farbstoff

Vor 75 Jahren begann mit einer "pharmazeutischen Revolution" die Ära der Chemotherapie akuter bakterieller Infektionskrankheiten. Eingeleitet hatte sie der spätere Nobelpreisträger Gerhard Domagk, der Hunderte, teilweise von ihm selbst synthetisierte Azofarbstoffe im Tierversuch getestet und dabei das Sulfonamid Prontosil® gefunden hatte. 1935 kam es auf den Markt, weitere strukturverwandte Arzneistoffe folgten schnell.
Gerhard Domagk (1895 –1964)

Immer wieder in seiner Nachtruhe gestört fühlte sich vor 85 Jahren der Hausmeister des Pathologischen Instituts der Universität Greifswald. Nun konnte sich dieser Herr namens Bombe schlecht über den Arbeitseifer des Assistenten seines Chefs beklagen. Folglich richtete er an die in der Inflationszeit besonders zum Sparen gezwungene Universitätsleitung eine Beschwerde, dass der Gas- und Stromverbrauch im Institut unzulässig hoch sei, verursacht durch die Nachtarbeit des Herrn Domagk. Bombe wäre sicher zurückhaltender gewesen, wenn er geahnt hätte, welche segensreichen Folgen für die Menschheit einmal der ungezügelte Forschungsdrang dieses jungen Mannes haben sollte. Bereits ein Jahrzehnt später war Domagk weltberühmt.

Pathologie, Abteilung Infektionskrankheiten

Zur Welt gekommen war Gerhard Johannes Paul Domagk am 30. Oktober 1895 in der nach seinen Erinnerungen "kleinsten und schönsten Stadt" Brandenburgs, dem heute in Polen gelegenen Lagow. Der Lehrersohn besuchte später die Schulen in Sommerfeld und Liegnitz. Kaum hatte er sein Medizinstudium in Kiel aufgenommen, da begann der 1. Weltkrieg, begleitet von einem allgemeinen nationalistischen Taumel, dem sich auch Domagk nicht entziehen konnte. Er meldete sich als kriegsfreiwilliger Soldat und kämpfte zuerst in Flandern, dann an der Ostfront.

Nach einer Verwundung und Genesung wurde Domagk zum Sanitätsdienst abgestellt. Dabei erlebte er immer wieder die vollkommene Hilflosigkeit der Ärzte, wenn es bei den Verwundeten zu bakteriellen Infektionen kam. So wuchs in ihm der Entschluss, sich später der antimikrobiellen Forschung zu widmen.

Nach dem Kriesende setzte Domagk sein Medizinstudium in Kiel fort, wo er 1921 mit einer Arbeit über die "Beeinflussung der Kreatininausscheidung durch Muskelarbeit" promoviert wurde und das medizinische Staatsexamen ablegte – beides mit der Note "sehr gut". Während seiner nachfolgenden Tätigkeit als Assistent an der Städtischen Krankenanstalt konnte er auch selbstständig wissenschaftlich arbeiten. Zuerst widmete er sich der pathologischen Anatomie und arbeitete über die Erkrankungen des Herzmuskels. Während einer Fachtagung 1923 in Leipzig kam es zu einer Begegnung mit dem Direktor des Pathologischen Instituts in Greifswald, Walter Gross (1878 – 1933), der Domagk eine Assistentenstelle anbot.


Domagks erste Veröffentlichung über das Prontosil vom 15. Februar 1935.

Nach der Habilitation zur Industrie

Es war ein Glücksfall für den strebsamen, bis spät in die Nacht experimentierenden Nachwuchswissenschaftler, der dabei zu der Überzeugung gelangte, dass es möglich ist, die natürlichen Abwehrkräfte des Körpers gegen bakterielle Krankheitserreger durch die Gabe von Wirkstoffen zu unterstützen. Seine ersten entsprechenden Arbeitsergebnisse dokumentierte Domagk bereits 1924 in der Habilitationsschrift "Über die Bedeutung des retikuloendothelialen Systems für die Vernichtung von Infektionserregern und für die Entstehung des Amyloids". Das dazu von Gross angefertigte Gutachten bescheinigte Domagk "eine ausgesprochene Befähigung zu fruchtbaren wissenschaftlichen Fragestellungen und eine bemerkenswerte Unabhängigkeit des Denkens von landläufigen, ungenügend bewiesenen Anschauungen".

Die Arbeit erschien umgehend in "Virchows Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie".

Doch erst zwei Jahre später bekam Heinrich Hörlein (1892 –1954), der Leiter der pharmazeutischen Forschung in den Elberfelder Bayer-Werken der I.G. Farbenindustrie, Domagks Habilitationsschrift zu Gesicht. Hörlein war auf der Suche nach einem Wissenschaftler, der die Gründung und Leitung eines Instituts für experimentelle Pathologie und Bakteriologie übernehmen könnte. Nun glaubte er, diesen Mann in Domagk gefunden zu haben. Der war inzwischen seinem Lehrer Gross als 1. Assistent an die Universität Münster gefolgt. Zwar blieb Domagk dieser Universität als Privatdozent und ab 1928 als nichtbeamteter Professor verbunden, doch seinen Arbeitsschwerpunkt verlegte er an das neue Institut in Elberfeld mit seinen exzellenten Forschungsmöglichkeiten, die damals keine einzige staatliche Einrichtung bieten konnte.

Chemotherapie in der Sackgasse?

Bald zeigte sich, dass sein ursprünglicher Forschungsansatz, mit bestimmten Proteinen den physiologischen Abbau von Bakterien zu unterstützen, zu keinen greifbaren Ergebnissen führte. Deshalb begann Domagk zusammen mit Chemikern nach Mitteln zu suchen, welche die Bakterien im Organismus schädigen oder abtöten – damals nach der Meinung vieler Mediziner eine kaum zu lösende Aufgabe. Denn nachdem Paul Ehrlich (1854 – 1915) mit dem gegen Spirochäten wirksamen und zur Therapie der Syphilis eingesetzten Salvarsan 1909 die Chemotherapie begründet hatte, war es nicht gelungen, gegen Bazillen oder Kokken wirksame Arzneistoffe zu entwickeln. Zwar fand Domagk in Zusammenarbeit mit den Chemikern Fritz Mietzsch (1896 – 1958) und Josef Klarer (1898 – 1953) zahlreiche antibakterielle Wirkstoffe – darunter Goldsalze –, doch erwiesen sie sich für den Menschen als derartig toxisch, dass sie nicht als Arzneimittel infrage kamen.


Prontosil® gab es sowohl in festen als auch in flüssigen Zubereitungen.

Die Ära der Sulfonamide beginnt

In dieser Situation experimentierte das Team schließlich mit Azofarbstoffen, die bereits seit mehreren Jahrzehnten in der Textilindustrie zur Anwendung kamen. Obwohl die Farbstoffe in In-vitro-Tests gegenüber Streptokokken weitgehend wirkungslos geblieben waren, testete Domagk eine sulfonamidhaltige Substanz auch an Mäusen, was zu einem überraschenden Ergebnis führte: Sie wirkte antibakteriell und war zugleich gut verträglich. Domagks Team wandelte die Substanz systematisch ab und testete die Derivate in Tierversuchsreihen, bis man "nicht mehr stehen … (und) nicht mehr sehen" konnte, und erhielt schließlich das Sulfamidochrysoidin. Es erwies sich bei Streptokokken-infizierten Mäusen als so wirksam und zugleich nebenwirkungsarm, dass es klinisch getestet werden konnte. Auch in der Klinik bewährte sich die nun "Streptozon" genannte Substanz.

Domagk publizierte seine Forschungsergebnisse im Februar 1935 in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift unter dem Titel: "Ein Beitrag zur Chemotherapie der bakteriellen Infektionen". Sie erregten zusammen mit den in derselben Ausgabe der Zeitschrift gedruckten Arbeiten der Ärzte Philipp Klee (1884 – 1978) und H. Römer (Elberfeld) sowie Hans Schreus (1892 – 1970, Düsseldorf), welche über die klinischen Erfahrungen mit der Chemotherapie berichteten, ungeheures Aufsehen. Die Bayer-Werke brachten das Streptozon noch 1935 unter dem geschützten Warennamen Prontosil® auf den Markt. Gerhard Domagk, der kurz vor seinem vierzigsten Geburtstag stand, war auf einmal ein weltberühmter Mann.

Trotz aller Begeisterung fehlte es damals nicht an Stimmen, die den "ganzen Sulfonamid-Rummel als Hexerei und Scharlatanerie" angriffen. Doch zahlreiche von den Bayer-Werken unabhängige Forscher im In- und Ausland bestätigten die inhaltliche Richtigkeit der Publikationen; hinzu kam der große Erfolg in der Klinik: Das Prontosil® und weitere Sulfonamide retteten Millionen Menschen das Leben. Unter ihnen waren auch Domagks vierjährige Tochter, die an einer heftigen Streptokokken-Infektion mit septischem Verlauf lebensgefährlich erkrankt war, und ein Sohn des damaligen amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, der an einer schweren eitrigen Lymphknotenentzündung des Halses litt.


Wirkungsweise des Sulfanilamids: Es ist ein kompetitiver Antagonist der 4-Aminobenzoe­säure und hemmt dadurch die spezifische Folsäuresynthese der Bakterien. Aus Steinhilber/Schubert-Zsilavecz/Roth: Medizinische Chemie, 2. Aufl. 2010.

Vom Prodrug zum Wirkstoff

Ein Team um den Chemiker Jacques Tréfouël (1897 – 1977) und den Pharmakologen Daniel Bovet (1907 – 1992; Nobelpreis 1957) am Institut Pasteur in Paris erforschte systematisch weitere Azoverbindungen und ihre Derivate und publizierte bereits im November 1935 die wichtige Erkenntnis, dass Prontosil® ein Prodrug ist, das im Organismus in das wirksame Sulfanilamid und das unwirksame Triaminobenzol gespalten wird. Die Azogruppe und die Eigenschaft als Farbstoff spielen für die Wirkung des Prontosil® also keine Rolle. Die Pariser Forscher resümierten über das Sulfanilamid: "Die therapeutische Aktivität eines so einfachen Moleküls ohne Farbstoffcharakter öffnet das Tor zu einem systematischen Studium der Chemotherapie."

Das Sulfanilamid war bereits 1908 von dem Wiener Chemiker Paul Gelmo synthetisiert und beschrieben worden. Es war auch im Elberfelder Institut vorhanden, aber durch ein Versehen nicht in Domagks Testreihen gelangt. Nun wurde es von über hundert Herstellern auf den Markt gebracht. Hinzu kamen viele Derivate mit teilweise erheblich verbesserten Eigenschaften wie das Sulfapyridin (1938) und das Sulfathiazol (1940).

Nobelpreis 1939

Im Jahre 1939 sprach das Nobelpreiskomitee Domagk für seine herausragende wissenschaftliche Arbeit den Nobelpreis für Medizin zu. Als Domagk die entsprechende Mitteilung erhielt, bedankte er sich umgehend für die Auszeichnung und bekundete seine Absicht, nach Stockholm zu reisen. Drei Wochen später jedoch schrieb er in einem zweiten Brief an das Nobelpreiskomitee: " … kann ich den Preis nicht als eine Ehrung meines Werkes betrachten, sondern im Gegenteil … fühle mich verpflichtet, den Preis abzulehnen." Der Grund: Hitler hatte – wegen der 1936 erfolgten Verleihung des Friedensnobelpreises an den Pazifisten Carl von Ossietzky (1889 – 1938) – Deutschen die Annahme eines Nobelpreises generell verboten. In diesem Zusammenhang wurde Domagk sogar von der Gestapo verhaftet und musste einige Tage im Wuppertaler Gefängnis verbringen. 1947 nahm er in Stockholm den erzwungenermaßen abgelehnten Nobelpreis nachträglich in Empfang, erhielt aber nicht das damit verbundene Preisgeld. Sein etwas älterer Zeitgenosse Sir Alexander Fleming (1881 –1955), der "Vater" des Penicillins, fasste seine Leistung so zusammen: "Ohne Domagk keine Sulfonamide! Ohne Sulfonamide kein Penicillin! Ohne Penicillin keine Antibiotika."

Kampf gegen Tuberkulose und Krebs

Paradoxerweise erschien zu diesem Zeitpunkt das Ende der Sulfonamide absehbar, denn mit dem nun fabrikmäßig hergestellten Penicillin hatte der Siegeszug der β-Lactam-Antibiotika begonnen. Der Umsatz der Sulfonamide ging rasch zurück und entsprechend auch die Aufwendungen für weitere Forschungen. Selbst Domagk hatte sich schon 1940 einem neuen Forschungsgebiet zugewandt: der Tuberkulosebekämpfung. Ausgehend vom Sulfathiazol, entwickelte er das erste synthetische Antituberkulotikum Conteben® (Markteinführung 1949) und später das Isoniazid (Neoteben® , 1952). Danach befasste er sich auch mit der Chemotherapie von Krebserkrankungen.

Zuletzt hatte Domagk verfolgen können, wie die Forschung über Sulfonamide wieder einen Aufschwung erlebte. Sie führte zu den sogenannten "neuen Sulfonamiden", doch auch deren Produktion wurde nach 1970 ganz erheblich reduziert. Heute ist nur noch das Sulfamethoxazol von Bedeutung, das als fixe Kombination mit Trimethoprim unter dem Namen Co-trimoxazol auf dem Markt ist.

Vor fünfzig Jahren trat Domagk in den Ruhestand; er starb vier Jahre später, am 24. April 1964, in Burgberg (Gemeinde Königsfeld im Schwarzwald).

Literatur Grundmann, Ekkehard: Gerhard Domagk – der erste Sieger über die Infektionskrankheiten. Münster 2001. Bryskier, André: Gerhard Johannes Paul Domagk. Chemotherapie Journal 2003;12(4):97 –105.

 


Andreas Hentschel

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