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Zeitenwende im Gesundheitswesen

BAD ZWISCHENAHN (tmb). Prof. Dr. Fritz Beske, Leiter des nach ihm benannten Instituts für Gesundheitssystemforschung in Kiel, sieht das Gesundheitssystem in Deutschland an der Schwelle zu einem grundlegenden Wandel. Während bisher der Bedarf die Finanzmittel bestimmt, würden künftig die Finanzmittel die Leistungen begrenzen. Doch statt die unverkennbaren Probleme anzuerkennen, betreibe die Politik weiter "armselige Kostendämpfung", erklärte Beske beim 6. Zwischenahner Dialog.
Je mehr geregelt wird, umso weniger Raum bleibt für Wettbewerb: Peter Buschmann, Hamburg
Fotos: DAZ/tmb

Als Einstieg in das zweitägige Symposium gab Peter Buschmann, der frühere Vorsitzende der AOK Schleswig-Holstein, einen kritischen Überblick über den regulierten Arzneimittelmarkt. Buschmann stellte die jährlichen Forschungsausgaben der Pharmaindustrie von 4,52 Mrd. Euro den Verwaltungsausgaben der GKV von 8,29 Mrd. Euro gegenüber.

Erfolglose Regulierungen

Frühere Regelungen sieht Buschmann als erfolglos an: "Es wurden immer wieder die gleichen Themen angepackt, aber es hat nicht viel gebracht." Je mehr geregelt werde, umso weniger Raum bleibe für Wettbewerb. Regelungen auf der Makroebene kämen nicht in der Versorgung an, weil zu wenig mit den Beteiligten gesprochen werde. Die Regelungsdichte sei so groß, dass den Beteiligten nicht mehr genügend Gestaltungsspielraum bleibe. Die Bonus-Malus-Regelung greife in die Therapieverantwortung der Ärzte ein. Doch auch in den jüngsten angekündigten Maßnahmen für den Arzneimittelmarkt sieht Buschmann keine Lösung, denn die Überregulierung werde wieder nicht abgebaut.

"Wer die Wahrheit sagt, braucht ein schnelles Pferd."

Armenisches Sprichwort, zitiert von Peter Buschmann, Hamburg


Besonders wichtig für die Effizienz der Arzneimittelversorgung sei die Sicherstellung der Compliance, doch habe dieses Thema die Öffentlichkeit noch nicht erreicht. "Hier sind Politik, Krankenkassen und Apotheker gefordert," so Buschmann.

Das Finanzvolumen wird künftig die Möglichkeiten im Gesundheitswesen bestimmen, nicht mehr der Bedarf, meint Prof. Dr. Fritz Beske

Ernüchternde Analyse

Prof. Dr. Fritz Beske analysierte in beeindruckender Schärfe den gegenwärtigen Zustand des Gesundheitssystems insgesamt. Demnach herrscht bis heute das Prinzip, die Finanzmittel im Gesundheitswesen dem Bedarf der Bevölkerung anzupassen. Doch befinde sich dieses Prinzip gerade im Umbruch. Künftig werde umgekehrt das vorhandene Finanzvolumen die Möglichkeiten bestimmen, wie dies in allen anderen Lebensbereichen selbstverständlich sei. Die zentralen Gründe dafür lägen in der bekannten demografischen Entwicklung und im medizinischen Fortschritt. Im Jahr 2050 müsse ein Beschäftigter für einen Rentner sorgen, zugleich sinke die Zahl der Erwerbstätigen. Bei einem jährlichen medizinischen Fortschritt von nur zwei Prozent müsste der GKV-Beitragssatz bis 2050 auf 43 Prozent steigen – das werde aber nicht akzeptiert.

Bei den vier Finanzierungsquellen der GKV – Beiträge, Selbstbeteiligungen, Steuern und Zusatzbeiträge – sieht Beske keine wesentlichen Steigerungsmöglichkeiten. Andere Politikbereiche würden nicht zulasten der Gesundheit auf die knappen Steuermittel verzichten. "Deutschland hat weltweit die geringste Selbstbeteiligung", doch würden Änderungsvorschläge dazu stets als soziale Demontage vorgeführt, "im Gegensatz zu allen anderen Ländern Europas, wo sachlicher über Selbstbeteiligung diskutiert wird," so Beske.

Umdenken als Konsequenz

Angesichts geringer Einflussmöglichkeiten bei den Einnahmen müsse über die bedarfsgerechte Versorgung diskutiert werden. Dazu gehöre ein bedarfsgerechter Leistungskatalog, dessen Finanzierung und die leistungsgerechte Honorierung aller Leistungserbringer. Diese Honorierung ist für Beske unverzichtbar, um eine hochwertige wohnortnahe Versorgung sicherzustellen. Bei den Leistungen hält Beske Priorisierung, also die Gliederung nach Wichtigkeit, und Rationierung für unvermeidbar. Der Begriff Rationierung sei negativ belegt, bedeute aber nach dem Wortsinn vernünftigen Umgang. Die GKV müsse sich auf die Krankenversorgung beschränken, versicherungsfremde Leistungen sollten dagegen als gesamtgesellschaftliche Aufgaben aus Steuermitteln finanziert werden. Rationalisierung und Prävention böten dagegen keine Lösung, denn Rationalisierung komme nicht dem System zugute und "Prävention kostet Geld", so Beske.

"Hochwertige, wohnortnahe Versorgung geht nicht ohne leistungsgerechte Honorierung der Leistungserbringer. "

Prof. Dr. Fritz Beske, Kiel

Die Politik müsse deutlich machen, dass niemand durch Krankheit in existenzielle wirtschaftliche Not gerät und dass alle am Fortschritt teilhaben. Dazu forderte Beske von der Politik keine fertige Lösung, sondern eine offene gesellschaftliche Debatte, aber zuallererst: "Die Politik soll das Problem anerkennen." Doch stattdessen finde die "armselige Kostendämpfung der letzten Jahrzehnte" statt.

Als Konsequenz aus diesen Überlegungen werde für die GKV künftig im Grundsatz gelten müssen: "Jeder neu ausgegebene Euro muss irgendwo eingespart werden", so Beske. Für jede neue Leistung müsste also eine alte Leistung entfallen – und dies gelte auch für innovative Arzneimittel. Außerdem müssten viele Strukturen hinterfragt werden, in einem Wohlstandsland könnten leichte Erkrankungen vielfach auf eigene Kosten behandelt werden. Letztlich gelte es, die Patientenmentalität zu verändern.


Literaturtip


Der Vortrag von Prof. Dr. Fritz Beske beim sechsten Zwischenahner Dialog beruhte überwiegend auf den Inhalten der Publikation "Bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung bei begrenzten Mitteln", Band 116 der Schriftenreihe des Fritz-Beske-Instituts für Gesundheitssystemforschung, Kiel, erschienen im März 2010. Das Buch umfasst 248 Seiten und ist für 10 Euro plus Versandkosten erhältlich unter info@igsf-stiftung.de

Zustimmung mit wenigen Einschränkungen

In der Diskussion bekräftigte Brigitte Käser, AOK Niedersachsen, die Forderung an die Politik, die Probleme deutlich zu benennen. Doch Buschmann argumentierte, die meisten Menschen wünschten eine Rund-um-Versorgung. ABDA-Präsident Heinz-Günter Wolf mahnte, Mentalitätsänderungen würden Jahrzehnte dauern, aber Demografie und Fortschritt seien in dieser Zeit weiter wirksam. Auf die Forderung nach Deregulierung für den Arzneimittelmarkt entgegnete Wolf, im Gesundheitswesen seien Regeln zur Qualitätssicherung erforderlich. Käser bemängelte, dass keine Regeln existieren, wie viel Innovationen kosten dürfen. Dagegen meinte Dr. Oliver Keinke, Essex Pharma, der Markt funktioniere als Bewertungssystem durchaus, denn zu hohe Preise würden durch die verordnenden Ärzte abgestraft.

"Viele Regeln sind schlecht – keine Regeln auch. "

Erkenntnis aus der Zen-Philosophie, zitiert von Dr. Oliver Keinke, Essex Pharma

Auch Beske forderte eine deutliche Deregulierung und viel mehr regionalen Spielraum. Er kündigte an, der nächste Band aus der Schriftenreihe seines Instituts werde eine "sehr abgespeckte Version des SGB V" enthalten.

6. Zwischenahner Dialog


Der Zwischenahner Dialog ist eine gemeinsame Veranstaltung des Landesapothekerverbandes und der Apothekerkammer Niedersachsen sowie des Gesundheitspolitischen Arbeitskreises Nordwest der forschenden Arzneimittelhersteller. Er setzt die Tradition eines Gesundheitsökonomischen Symposiums fort, das erstmals vor 12 Jahren veranstaltet wurde. Der sechste Zwischenahner Dialog fand am 22. und 23. April 2010 statt.

Zum Weiterlesen


Zwischenahner Dialog 2009: Gemeinsam durch die Krise

Intelligente Verträge versprechen eher Erfolg bei der Begrenzung der Ausgaben für patentgeschützte Arzneimittel als bürokratisch bestimmte Höchstbeträge. Beim Zwischenahner Dialog 2009 zeigten sich Vertreter aus Politik, Pharmaindustrie, Krankenkassen und Apotheken offen für eine Lösung, die sich aus einem gemeinschaftlichen "Zwischenahner Prozess" ergeben könnte.

DAZ Nr. 18/2009

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