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"Wir sollten über eine Priorisierung nachdenken"

BERLIN (lk). Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer, fordert angesichts der Unterfinanzierung im GKV-System auf, über eine Priorisierung medizinischer Leistungen nachzudenken. Darunter versteht er die Einführung einer Rangfolge für Behandlungsmethoden oder Behandlungsziele: Welche Krankheiten sollten grundsätzlich bevorzugt behandelt werden? DAZ-Korrespondent Lothar Klein fragte Professor Hoppe, was er sich genau darunter vorstellt.

DAZ: Herr Hoppe, wie beurteilen Sie die Sparvorschläge von Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) für den Arzneimittelsektor?

 

Hoppe: Ich meine, das muss Erfolg haben. Denn gemeinsam mit den USA und Japan bezahlen wir mit den hohen Arzneimittelpreisen in Deutschland den Großteil des pharmakologischen Fortschritts auf der Welt. Die Kosten des Fortschritts könnten ruhig etwas gerechter verteilt werden. Das würde die pharmazeutische Industrie in ihren Forschungsaktivitäten nicht beeinträchtigen. Da hat Minister Rösler grundsätzlich recht. Ob er Erfolg hat, müssen wir abwarten.


DAZ: Reichen dazu Preisverhandlungen zwischen pharmazeutischen Unternehmen und Krankenkassen aus?

 

Hoppe: Ich würde auch zunächst bei der Instrumentenwahl etwas vorsichtiger anfangen. Wenn das keinen Erfolg bringt, muss Rösler eben die Daumenschrauben etwas kräftiger anziehen.


DAZ: Lässt sich mit diesem Sparpaket die Finanzkrise der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) ausräumen?

 

Hoppe: Auf keinen Fall. Das System der gesetzlichen Krankenkassen ist chronisch unterfinanziert. Das wird derzeit nur notdürftig mit anderen Einnahmequellen wie Steuerzuschüssen oder erhöhter Selbstbeteiligung kaschiert. Auf Dauer ist das aber nicht möglich. 6,45 Prozent des Bruttoinlandsproduktes zur Finanzierung der GKV reichen einfach nicht aus. Damit stehen wir im OECD-Vergleich nur auf dem zehnten Platz. Wir standen früher einmal auf dem dritten Platz. Das sagt alles über die Dramatik der Unterfinanzierung.


DAZ: Wie viel mehr Geld benötigt das GKV-System?

 

Hoppe: Um die harten Auswirkungen der Unterfinanzierung zu vermeiden, brauchen wir etwa so viel wie vergleichbare Industriestaaten, also mindestens acht Prozent vom BIP.


DAZ: Welche Schlussfolgerung ziehen Sie aus dieser Analyse?

 

Hoppe: Es hat sich bereits in vielfältiger Weise eine heimliche Rationierung bei der Behandlung von Kassenpatienten entwickelt. Zum Beispiel erfolgt die Versorgung mit Arzneimitteln in den Arztpraxen längst nicht mehr für alle Erkrankten gleichmäßig. Nicht mehr alle Patienten erhalten ihre gewohnten Medikamente. Oder im Krankenhaus: Dort findet Rationierung über Personalabbau statt quantitativ wie qualitativ. Wenn im Nachtdienst eine Schwester 70 statt wie früher 30 Patienten betreut, dann hat das Auswirkungen auf die Versorgungsqualität.


DAZ: Werden auch notwendige Behandlungen bereits rationiert?

 

Hoppe: Wirklich notwendige Behandlungen werden noch durchgeführt, aber teilweise den Ärzten nicht mehr vergütet. Stattdessen müssen sich die Ärzte auf andere Weise finanzieren. So kann das auf Dauer nicht weitergehen.


DAZ: Statt Rationierung fordern Sie Priorisierung von medizinischen Leistungen. Worin liegt der Unterschied?

 

Hoppe: Wir Ärztinnen und Ärzte wollen natürlich, dass es bei der Entscheidung, welche Behandlung gewählt wird, nur um Lebenserwartung und Lebensqualität geht, nicht um die Kosten. Leider fehlt es an Geld. Weil eine harte, offene Rationierung nicht gewollt ist, sollten wir über eine Priorisierung nachdenken, wenn wir nicht zu einer besseren Finanzausstattung der GKV kommen. Eine horizontale Priorisierung bedeutet die Einführung einer Rangfolge für Behandlungsmethoden oder Behandlungsziele.


DAZ: Was bedeutet das konkret?

 

Hoppe: Wir könnten zum Beispiel Präventivmedizin priorisieren. Also angesichts begrenzter Finanzmittel mit einem größeren Budget ausstatten. Davon hätten zwar die heutigen Patienten wenig, aber in zehn bis 15 Jahren wären die Menschen gesünder. Die Folge wäre aber, dass an anderer Stelle weniger Geld zur Verfügung stehen würde. Grundsätzlich wird das GKV-Geld mit der Priorisierung in vorher definierte Bereiche mit bestimmten Versorgungszielen gelenkt. Dies müsste transparent geschehen und vorher natürlich gründlich diskutiert werden. Wir schlagen einen Gesundheitsrat vor, in dem Ärzte, Epidemiologen, Ethiker, Juristen, Theologen und Patientenvertreter sitzen. Diese Experten sollen Vorschläge machen, welche Krankheiten grundsätzlich bevorzugt behandelt werden sollten. Konkret entscheiden muss aber die Politik.


DAZ: Was bedeutet das für die Patienten?

 

Hoppe: Bei einer vertikalen Priorisierung wird für typische Erkrankungen ein von den Kassen zu bezahlender Standardkatalog von Behandlungsmethoden festgeschrieben und in eine Rangfolge gebracht. Diese werden dann entsprechend den zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln eingesetzt. Der Einsatz teurer Therapien muss dann im Einzelfall sorgfältig begründet werden.


DAZ: Damit geben Sie die Therapiefreiheit der Ärzte auf.

 

Hoppe: Die Therapiefreiheit ist heute schon eingeschränkt, aufgrund der Programmmedizin und der Leit- und Richtlinien. Gegenwärtig aber herrscht dabei eine unübersichtliche Lage. 
Die Priorisierung würde dies wieder in eine gewisse nachvollziehbare Ordnung bringen – für Patienten und Ärzte.


DAZ: Das bedeutet aber auch, dass der medizinische Fortschritt wegen seiner höheren Kosten nicht mehr bei allen Patienten ankommt.

 

Hoppe: Das hängt davon ab, ob technisch-medizinischer Fortschritt in die Priorisierung aufgenommen wird. Darüber müssen dann Gesetzgeber und Selbstverwaltung entscheiden, aber nicht wie heute die Ärzte in Klinik und Praxis.


DAZ: Falls aber ein Patient auf Behandlung mit teuren Therapien besteht?

 

Hoppe: Das sollte möglich sein. Dann müsste der Patient aus der eigenen Tasche die Kostendifferenz zuzahlen. Das haben wir ja heute auch schon, nur versteckt und nur von Eingeweihten zu erkennen.


DAZ: Vielen Dank, Herr Professor Hoppe, für dieses Gespräch.

 

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