Medizingeschichte

Wie der Christmas-Faktor zu seinem Namen kam

Historisches zur Bluterkrankheit

von Andreas Zielger

Die Blutgerinnung ist eine komplexe Reaktionskaskade, deren reibungsloser Ablauf für die schnelle und dauerhafte Abdichtung von Gefäßläsionen essenziell ist. Während es für den Großteil der Bevölkerung selbstverständlich ist, dass kleine Wunden bereits nach kurzer Zeit wieder aufhören zu bluten, können für einen von 5000 männlichen Säuglingen, der als Bluter zur Welt kommt, selbst geringfügige Verletzungen lebensbedrohlich sein. Auch Stephen Christmas litt an einer erhöhten Blutungsneigung. Bei der Suche nach den Ursachen wurde ein Gerinnungsfaktor entdeckt, der heute seinen Namen trägt. Warum der Christmas-Faktor aber nicht nur mit Stephen Christmas sondern tatsächlich auch mit dem Weihnachtsfest in Zusammenhang steht, verrät ein Blick in die Wissenschaftsgeschichte.

Der zwölfjährige Stephen Christmas mit seiner Mutter bei einer Bluttransfusion.
Foto: Canadian Hemophilia Society

Stephen Christmas wurde am 12. Februar 1947 in London geboren. Kurz nach seiner Geburt wanderte Stephens Familie nach Kanada aus, wo die Ärzte des Hospital for Sick Children in Toronto zwei Jahre später erstmals die Bluterkrankheit des Jungen diagnostizierten. Bei einem Verwandtenbesuch in London 1952 musste Stephen Christmas wegen nicht stillbarer Blutungen in London stationär behandelt werden. Eine Blutprobe wurde für verschiedene Untersuchungen zur Arbeitsgruppe von Dr. Rosemary Biggs und Prof. Dr. Richard Macfarlane nach Oxford geschickt. Dort wurde zunächst der folgende einfache Versuch durchgeführt: Stephens langsam gerinnendes Blut wurde mit dem ebenfalls langsam gerinnenden Blut eines anderen Bluters gemischt. Zur Überraschung der Forscher gerann die Mischung der beiden Blutproben völlig normal. Es musste demzufolge also mindestens zwei auf unterschiedlichen Ursachen beruhenden Bluterkrankheiten geben. Schließlich gelang es nachzuweisen, dass Stephen ein bis dahin unbekannter Gerinnungsfaktor fehlte.

Wissenschaftliche Publikation sorgt für Irritationen

Am 27. Dezember 1952 publizierte die Forschergruppe die Ergebnisse ihrer Experimente unter der Überschrift "Christmas Disease" im British Medical Journal. In Kombination mit dem Publikationsdatum war dieser Titel allerdings nicht ganz unproblematisch, insbesondere wenn man bedenkt, dass im British Medical Journal zum Jahresausklang traditionell vorzugsweise skurrile oder leicht frivole Patientengeschichten erschienen.

Wie Dr. Rosemary Biggs später berichtete, dachten daher viele Leser zunächst "die Arbeit hätte etwas mit Überfressen zu tun". In zahlreichen Zuschriften verwahrten sich die Leser dagegen, eine Krankheit mit dem christlichen Weihnachtsfest in Verbindung zu bringen, einige von ihnen forderten sogar die Krankheit umzubenennen und ihr einen "weniger lächerlichen" Namen zu geben. Die Autoren erwiderten darauf mit feinsinniger Ironie, sie seien einfach zu bescheiden gewesen um eine Abkürzung aus den Anfangsbuchstaben der sieben Autoren vorzuschlagen. Zudem versicherten sie, ein eventuell noch zu entdeckendes Präkursor-Protein des Christmas-Faktors nicht "Christmas Eve Faktor" (Heiligabendfaktor) zu nennen. Heute spricht man vom Gerinnungsfaktor IX oder Christmas-Faktor, die Krankheit wird als Hämophilie B bezeichnet.

Zur Physiologie von Stephen Christmas’ Krankheit

Der Gerinnungsfaktor IX konnte in Stephen Christmas’ Blut zwar in ausreichender Menge nachgewiesen werden, allerdings hatte dieser offenbar aufgrund einer spontanen Mutation 95% seiner biologischen Aktivität verloren. Ein Austausch von Cystein durch Serin an Position 206 machte Stephen Christmas’ Faktor IX als Gerinnungsfaktor annährend wirkungslos. Heute sind fast 150 verschiedene Mutationen bekannt, die den Austausch meist einzelner Aminosäuren im Gerinnungsfaktor IX verursachen. Jede dieser Mutationen führt zu einer Abnahme der biologischen Aktivität bis hin zur völligen Funktionslosigkeit dieses zentralen Gerinnungsfaktors. Wobei sich die Schwere der Krankheitsverläufe zwischen verschiedenen Mutationsvarianten deutlich unterscheidet (vgl. Tab.). Hämophilie-auslösende Mutationen können entweder spontan erfolgen oder von einer Generation zur nächsten vererbt werden. Da die für den Gerinnungsfaktor IX codierenden Gene X-chromosomal-rezessiv vererbt werden, sind fast ausschließlich Männer von der Christmas-Disease betroffen.

Je nach Mutationsvariante des Gerinnungsfaktors IX unterscheidet sich die Schwere der Krankheitsverläufe bei einer Hämophilie B deutlich.
Bezeichnung
Aminosäureaustausch
Position
Krankheitsverlauf
Alabama
Asparaginsäure → Glycin
47
moderat
Amagasaki
Glycin → Arginin
311
schwer
Chapel Hill
Arginin → Histidin
145
moderat
Dreihacken
Arginin → Glutamin
248
mild-moderat
Durham
Glycin → Serin
60
mild
Hong Kong 1
Alanin → Prolin
351
mild
Iran
Cystein → Arginin
53
moderat
Island 1
Arginin → Glycin
333
schwer
Luanda
Glycin → Arginin
207
schwer
Madrid
Arginin → Glycin
180
schwer
Christmas
Cystein → Serin
206
moderat
Vancouver
Isoleucin → Threonin
397
moderat-schwer

Christmas’ Einsatz für Hämophile

Stephen Christmas machte später zunächst eine Ausbildung als Fotograf, wechselte später jedoch den Beruf und wurde Taxifahrer, da er diese Tätigkeit mit seiner Behinderung leichter ausführen konnte. Er engagierte sich über viele Jahre in der Canadian Haemophilia Society. Da in jener Zeit viele Hämophile durch kontaminierte Bluttransfusionen mit HIV oder Hepatitis C infiziert worden waren, setzte er sich insbesondere für eine Verbesserung der Qualitätskontrolle von Blut und Blutprodukten ein. Auch Stephen Christmas selbst hatte sich auf diesem Weg mit HIV angesteckt und starb im Alter von nur 46 Jahren kurz vor Weihnachten, am 20. Dezember 1993, an den Folgen seiner Aids-Erkrankung.


Anschrift des Verfassers

Andreas Ziegler, Flurstr. 2, 90613 Großhabersdorf

Informationen


Die Deutsche Hämophiliegesellschaft zur Bekämpfung von Blutungskrankheiten e. V. ist die Interessengemeinschaft der an einer angeborenen oder erworbenen Blutungskrankheit Leidenden, ihrer Angehörigen sowie ihrer medizinischen und sozialen Betreuer. Sie bietet auf ihren Seiten www.dhg.de umfassende Informationen und Unterstützung für Patienten mit Hämophilie, von Willebrand-Jürgens-Syndrom und anderen selteneren Blutungsleiden.

Am 27. Dezember 1952 wurde im British Medical Journal unter der Überschrift "Christmas Disease" erstmals über die neu entdeckte Blutgerinnungsstörung berichtet.

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