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Medizin
Was steckt eigentlich hinter … dem Guillain-Barré-Syndrom?
Für den Neurologen ist es eine Polyradikulitis – eine Entzündung der dem Rückenmark entspringenden Nervenwurzeln – und für den Immunologen eine von vielen Autoimmunerkrankungen.
Die Schwere reicht von leichten Schmerzen und Muskelschwäche bis zu wochenlanger Lähmung mit Beatmung. Hinzu kommen meistens Störungen des autonomen Nervensystems. Sie beeinträchtigen die Blutdruckregulation, Blasen- und Darmfunktion und verursachen Herzrhythmusstörungen. Die Symptome erreichen nach ein bis vier Wochen ein Maximum und bilden sich über Wochen bis Monate wieder zurück.
Auslöser
Es ist nicht geklärt, was zu der Autoimmunreaktion führt, die letztlich die Nervenscheiden und Axone peripherer Nerven einschließlich der Vorder- und Hinterhörner des Rückenmarks zerstört. Auffällig ist, dass zwei Drittel der Erkrankten im Vorfeld eine bakterielle oder virale Infektion des Magen-Darm-Trakts oder der oberen Luftwege durchgemacht haben, häufig mit Campylobacter jejuni oder dem Cytomegalie-Virus (CMV). Forscher vermuten, dass Ähnlichkeiten zwischen Lipopolysacchariden der Erreger und Gangliosiden der Nervenzellen zu einer unerwünschten Kreuzreaktion führen.
Die durch die Entzündungsreaktion verursachten Demyelinisierungen und axonalen Degenerationen erklären die Nervenfunktionsausfälle und die Dauer der Heilung.
Ursache Impfung?
1976 erkrankten in New Jersey einige Menschen an der Schweinegrippe. Aus Angst vor einer Epidemie lief eine gigantische Impfkampagne an und über 40 Millionen Amerikaner wurden geimpft. Hunderte Geimpfte erkrankten dann an dem Guillain-Barré-Syndrom, die Impfungen wurden deshalb eingestellt. Die Inzidenz stieg letztendlich von 1,5 auf 2,5 pro 100.000. Am wahrscheinlichsten war eine bakterielle Verunreinigung des Impfstoffes der Auslöser.
Experten weisen in der Diskussion um Sinn und Risiken der aktuellen Impfung gegen die Schweinegrippe immer wieder auf das Guillain-Barré-Syndrom hin. Impfungen als Auslöser konnten bisher allerdings weder zweifelsfrei bewiesen, noch wirklich ausgeschlossen werden. Daher untersucht das Paul-Ehrlich-Institut das Auftreten des Guillain-Barré-Syndroms in Deutschland auf Zusammenhänge mit Impfungen gegen die Schweinegrippe und die saisonale Influenza.
Laut einer Studie von US-Epidemiologen (The Lancet online) sind in einer Bevölkerungsgruppe von 10 Millionen Menschen in sechs Wochen 22 Guillain-Barré-Syndrome und sechs plötzliche Todesfälle zu erwarten. Das bedeutet für Deutschland: Lassen sich 50 Millionen Menschen mit der Schweinegrippe-Vakzine impfen, sind unabhängig von der Impfung etwa 100 Guillain-Barré-Syndrome und 30 Todesfälle zu erwarten.
Diagnose
Aufsteigende symmetrische Lähmungen sind das wegweisende Symptom für ein Guillain-Barré-Syndrom. Gesichert wird die Diagnose mit einer Liquoruntersuchung und evtl. einer Elektroneurographie.
Gelegentlich gleichen anfängliche Rückenschmerzen und Gefühlsstörungen Beschwerden bei einem Bandscheibenvorfall. Der weitere Verlauf ähnelt in wenigen Fällen einer Polyneuropathie, v.a. seltenen, speziellen Formen wie der postdiphtherischen, der Myelom- oder Arsenpolyneuropathie. Bei Polyneuropathien stehen allerdings fast immer deutliche Sensibilitätsstörungen im Vordergrund.
Auch eine Borreliose nach einem Zeckenbiss verursacht manchmal eine Polyradikulitis. Neben der Anamnese trägt hier die Serologie zur Klärung bei.
In seltenen Fällen ist die virale Poliomyelitis (Kinderlähmung) abzugrenzen, da sie manchmal auch zu Störungen der Hirnnerven und der Atmung führt. Sie ist aber sehr selten so symmetrisch wie ein Guillain-Barré-Syndrom.
Zahlen zum Guillain-Barré-Syndrom | |
Jährliche Erkrankungen pro 100.000 Einwohner Nur motorische Störungen Beatmungspflichtige Lähmung Fazialisparese |
30% 30% 50% |
Befall des autonomen Nervensystems mit Blutdruck-, Herzrhythmus-, Blasen- oder Darmstörungen | 70% |
Maximum der Lähmung bis Ende der 1. Woche überschritten | 70% |
Maximum der Lähmung bis Ende der 4. Woche überschritten | 98% |
Dauer des Maximums | 2– 4 Wo. |
Vollständige Genesung | 70% |
Tödlicher Verlauf | 5% |
Quelle: Wallesch, C.-W. (Hrsg.): Neurologie. Elsevier, 2005
Varianten
Bisher war nur vom "klassischen" Guillain-Barré-Syndrom die Rede, auch akute idiopathische demyelinisierende Polyneuropathie (AIDP) genannt wird. Sie macht ca. 75% der Fälle in Europa aus. Es gibt zwei Unterformen, bei denen es nicht zu einer Demyelinisierung kommt. Man spricht deshalb von primär axonalen Guillain-Barré-Syndromen. Sie machen je 10 % der AIDP aus und heißen akute motorische axonale (AMAN) und akute motorische und sensible axonale (AMSAN) Neuropathie.
Eine wichtige Variante ist auch das Miller-Fisher-Syndrom (MFS), bei dem Störungen der Gesichtsnerven und eine Ataxie im Vordergrund stehen. Therapie und Verlauf sind dem AIDP ähnlich.
Deutlich abzugrenzen ist dagegen die chronische inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP), bei der sich die Symptome deutlich langsamer entwickeln und häufig auf die Extremitäten beschränkt bleiben. Ursache ist auch hier eine Autoimmunreaktion gegen Myelinbestandteile, die im Gegensatz zum AIDP oft gut auf Corticoide und Immunsuppresiva anspricht.
Therapie
Bedrohlich sind beim Guillain-Barré-Syndrom Komplikationen der Atmung und des Herz-Kreislaufsystems, v.a. Atemlähmung, Herzrhythmusstörungen sowie Thrombosen und Embolien aufgrund der Immobilisierung. Diese zu verhindern, steht im Mittelpunkt der Akuttherapie. Abgesehen von leichten Fällen ist daher eine stationäre, frühzeitige und ständige Kontrolle der Vitalfunktionen notwendig, um z.B. rechtzeitig zu beatmen oder einen Herzschrittmacher zu legen. Zusammen mit der notwendigen Thrombose-, Dekubitus- und Pneumonieprophylaxe erfordert dies eine ständige, manchmal monatelange Intensivpflege und Physiotherapie.
Hochdosierte Immunglobuline oder Plasmapheresen beeinflussen den Verlauf günstig. Welche Methode wann besser ist, weiß man noch nicht. Glucocorticoide helfen dagegen nicht, obwohl es sich um eine Autoimmunerkrankung handelt.
Ist die akute Phase überstanden, schließt sich je nach Verlauf eine kürzere oder längere Rehabilitation an, in der gezielt die Nerven- und Muskelfunktionen trainiert werden.
Das Guillain-Barré-Syndrom ist eine schwerwiegende Erkrankung mit möglichen, manchmal tödlichen Komplikationen. Aber effektive, wenn auch langwierige Therapien führen in 70% der Erkrankungen zu einer Restitutio ad integrum, also einer vollständigen Heilung.
Die Auslöser kennt man noch nicht genau, Impfungen scheinen nach heutigem Wissenstand das Risiko – wenn überhaupt – nur marginal zu erhöhen.
Quellen
Fauci, A. S., et al.: Harrisons Innere Medizin, ABW, Berlin, 17. Auflage 2009
http://www.uni-duesseldorf.de/AWMF/ll/022-008.htm
Schäffler, A. (Hrsg.): Gesundheit heute, 2. Aufl. 2009, Deutscher Apotheker Verlag, Stuttgart
Wallesch, C.-W. (Hrsg.): Neurologie. Elsevier, 2005
Autor:
Dr. A. Schäffler,
Schäffler & Kollegen,
Augsburg, www.schaeffler.cc
Beschwerdebild |
Was steckt dahinter? |
Aufsteigende, symmetrische Lähmungen, in der Hälfte der Fälle auch Hirnnerven betreffend
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Akute idiopathische demyelinisierende Polyneuropathie (AIDP). Varianten:
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Miller-Fisher-Syndrom (MFS) |
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Chronische inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP) |
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Neben Lähmungen deutliche Parästhesien |
Polyneuropathie, v.a. seltene Formen wie postdiphtherische, Myelom- oder Arsenpolyneuropathie |
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Borreliose. Die Diagnose wird serologisch gesichert |
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