Feuilleton

Verlockend …

Oder: Was hat die kalte Dauerwelle mit der Wirkungsweise eines bestimmten Expektorans zu tun?*

*Frau Prof. Renate Ackermann in herzlicher Verbundenheit zum 75. Geburtstag gewidmet.

Albert Lortzing Der Komponist der Oper "Der Waffenschmied" mit der Arie "Auch ich war ein Jüngling mit lockigem Haar" besaß selbst eine prächtige Naturwelle.

"Auch ich war ein Jüngling mit lockigem Haar." Damals brauchte ich keine Expektoranzien und wusste nichts Näheres über Dauerwellen. Heute ist von der Lockenpracht nichts mehr übrig geblieben, und gelegentlich benötige ich ein Mittelchen zum Putzen der Atemwege. Dafür kenne ich jetzt die Haarverformungsprinzipien und die Wirkungsmechanismen der Expektoranzien.

Thiolsäuren und Peptide

Mit dem bestimmten Expektorans ist das N-Acetylcystein gemeint. Davon abgesehen, dass dieser Arzneistoff das Derivat einer proteinogenen Aminosäure darstellt, ist er eine Thiolsäure. Die derzeit gebräuchlichen Kaltwellenpräparate enthalten als Wirkprinzipien ebenfalls Thiolsäuren, hauptsächlich die Thioglykolsäure und die Thiomilchsäure (Abb. 1).

Das Gemeinsame an den Prozessen, die zum Abbau und zur Verflüssigung des Proteinanteils im viskosen Bronchialschleim führen und andererseits die Dauerverformung der Kopfhaare einleiten, ist die reduktive Spaltung von Disulfidbrücken, über die größere Peptidbereiche miteinander verbunden sind (Abb. 2).

Das Keratin …

Das Haar besteht aus Keratin, einem hornartigen Skleroprotein. Die im Organismus Stützfunktionen ausübenden Skleroproteine sind im Gegensatz zu den globulären Proteinen in Wasser unlöslich und besitzen Faserstrukturen. Am Aufbau der Sekundär-, Tertiär- und Quartärstrukturen der Haare sind – wie bei allen Proteinen – Wasserstoffbrücken, salzartige Bindungen, lipophile Wechselwirkungen und Disulfidbrücken beteiligt.

… und seine Manipulation

 

Wasserwelle

Bei der Applikation der temporären Wasserwelle werden durch die Einlagerung von Wassermolekülen nur Wasserstoffbrücken geöffnet. Das Prinzip dieser auch als Fingerwelle bezeichneten Verformungsmethode beruht darauf, dass man das nasse glattgekämmte Haar mit den Fingern rollt und mit Klammern in einer bestimmten Form fixiert. Danach wird getrocknet, und die Klammern werden entfernt. Man kann dann die entstandene Lockenpracht mit einem Fixiermittel noch etwas stabilisieren.

Der Nachteil der Wasserwelle besteht in der geringen Haltbarkeitsdauer; spätestens bei der nächsten Haarwäsche ist eine neue fällig.

Dauerwelle (Kaltwelle)

Die erste Stufe der Dauerwelle besteht zusätzlich in der Spaltung der quervernetzenden Disulfidbrücken (Cystinbrücken). In diesem Zustand ist das Haar aufgequollen, weich und plastisch verformbar. Es wird dann um zylindrische Körper gewickelt und nach einer Zeit, die bis zu 20 Minuten dauern kann, vom überschüssigen Reagens (Thioglykolat, Thiolactat) durch Auswaschen befreit.

Danach folgt die Fixierung, die in der Einwirkung eines Oxidationsmittels wie Wasserstoffperoxid oder Peroxoverbindungen besteht. Dabei werden in Umkehrung des Spaltungsmechanimus neue Disulfidbrücken gebildet (Abb. 2), und das Haar wird in der jetzt vorliegenden Gestalt (Tertiärstruktur) arretiert.

Man sollte jedoch bedenken, dass die hier beschriebenen Prozesse und Reaktionen nicht quantitativ und nicht immer eindeutig verlaufen. Auch bei Einsatz eines erheblichen Überschusses an Thioglykolat werden maximal nur etwa 50% der nativen Disulfidbrücken gespalten, sodass die ursprüngliche Gestalt des Haares teilweise erhalten bleibt.

Vereinzelt entstehen auch gemischte Disulfide unter Beteiligung eines Cysteinrestes aus dem Haar-Keratin und einem Thioglykolat. Dadurch ist der Anteil an Disulfidbrücken nach der Dauerwellenbehandlung geringer als vorher. Bei der Wiederholung des Dauerwellenverfahrens stehen weniger räumlich benachbarte SH-Gruppen zur Verfügung, die für eine fixierende erneute Disulfidbrücken-Bildung geeignet sind. Die Verformbarkeit eines mehrfach verformten Haares nimmt also ab.

"Sauerdauerwelle"

Während zur Durchführung des oben geschilderten Verfahrens leicht alkalisch reagierende Lösungen von Salzen der Thioglykolsäure und der Thiomilchsäure eingesetzt werden (pH 8 – 8,6), eignen sich auch schwach sauer reagierende Lösungen des Glycerinmonothioglykolats (pH 6 – 7) zur sog. Sauerdauerwelle. Dieses Verfahren ist milder und haarschonender, jedoch auch etwas umständlicher und erfordert eine längere Einwirkungszeit.

Heißwelle

Heißwellenpräparate, die heute nur noch historisches Interesse besitzen, enthielten alkalisch reagierende Salze wie Borax oder reduzierende Sulfite. Ihre Anwendung bei > 100 °C führte zur hydrolytischen Öffnung der Disulfidbrücken. Dabei entstanden neue, quervernetzende Thioetherbindungen (Lanthionin-Brücken).

Haarglättung

Naturkrauses oder verformtes Haar kann mit Mitteln geglättet werden, die eine analoge Zusammensetzung wie die Dauerwellenmittel haben. Eine Dauerwelle ist eine Verformung – die Haarglättung ebenfalls.

Haarbehandlungen

Es würde den Rahmen dieses Glossays sprengen, würden wir uns jetzt noch mit den übrigen Haarbehandlungen befassen, die heute zur Verfügung stehen. Es sollen lediglich die in der Keralogie gebrauchten Mittel genannt werden:

  • Haarwaschmittel: Shampoos.
  • Haarpflegemittel: Haarwässer, Haaröle, Pomaden, Brillantinen, Haargele, Haarspülungen, Kurpackungen, Frisierhilfsmittel.
  • Haarverfestigungsmittel: Haarfestiger, Schaumfestiger, Haarsprays, Haarlacke, Haarkonditionierer.
  • Haarverformungsmittel, s. o.
  • Haarglättungsmittel, s. o.
  • Haarbleichmittel: Wasserstoffperoxid, Kamillenextrakte.
  • Haarfärbemittel: temporäre, semitemporäre und permanente Färbemittel.
  • Haarentfernungsmittel: physikalisch: Epilation; chemisch: Depilation.

Standortbestimmungen

Die Haarbehandlung ist ein Teil der Kosmetik. Demnach sind alle Mittel zur Haarbehandlung als Kosmetika einzustufen. Kosmetika werden zur Erhaltung, Verbesserung oder Wiederherstellung der Schönheit des menschlichen Körpers normalerweise topisch angewandt.

Daneben werden heute auch systemische Kosmetika zur oralen Anwendung empfohlen (beispielsweise essenzielle Fettsäuren, Carotinoide und Vitamin E zum Hautschutz, Vitamin A, Biotin bei brüchigen Fingernägeln, Finasterid bei Haarausfall).

Wenn wir das "Wegspritzen" von Gesichtsfalten mithilfe von Botulinumtoxin ("Botox als Faltenkiller") mit einbeziehen, dann kann man jetzt auch von parenteralen Kosmetika sprechen. Denken wir weiter an die Badekuren, so wird deutlich, dass zwischen Kosmetika und Arzneimitteln / Medizinprodukten keine prinzipiellen Unterschiede bestehen. Arzneimittel dienen der Erhaltung, der Verbesserung oder Wiederherstellung der Gesundheit des menschlichen Körpers. In der Antike (Hippokrates, 4. Jh. v. Chr.) wurde nicht zwischen Körperlich-Ästhetischem und Körperlich-Funktionellem unterschieden, also auch nicht zwischen Medizin und Kosmetik. Mir scheint, wenn die Entwicklung der Kosmetik als Körper- und Schönheitspflege so weitergeht wie in den letzten Jahren, werden wir bald wieder Zustände haben, wie sie zu Zeiten von Hippokrates gang und gäbe waren.

Bedenkt man die fast unüberschaubare Vielfalt an Wirkstoffen, die in der Kosmetik eingesetzt werden – allein in der Keralogie oder Haarbehandlung sind es mehrere Hundert – und an die Vermittlung der erforderlichen Kenntnisse, so sollte aus dem Duo Pharmazeutische Chemie / Medizinische Chemie unter Einbeziehung der Kosmetischen Chemie eine Trias werden.

Ein weiterer gemeinsamer und übergreifender Aspekt besteht in den unerwünschten Nebenwirkungen der Wirkstoffe, die sich bis in den letalen Bereich erstrecken können. Das gilt auch, aber sehr viel weniger dramatisch für die Applikation einer Dauerwelle.

Glücklicherweise braucht sich in dieser Hinsicht die Professorin, der diese Zeilen gewidmet sind und die derzeit sehr erfolgreich an der Bayerischen Theaterakademie München lehrt, wegen ihrer prachtvollen Naturlocken keine Sorgen zu machen.

 

Autor

Prof. Dr. rer. nat. Dr. h. c. Hermann J. Roth, Friedrich-Naumann-Str. 33, 76187 Karlsruhe; www.h-roth-kunst.com; info@h-roth-kunst.com

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.