Arzneimittel und Therapie

Icatibant stoppt lebensbedrohliche Attacken

Patienten mit der seltenen Erkrankung hereditäres Angioödem (HAE) leiden vor allem an spontan auftretenden Hautschwellungen im Gesicht, Ödemen der Magen-Darm-Schleimhaut bis hin zu lebensbedrohlichen Kehlkopfschwellungen. Mit Icatibant (Firazyr®) wurde nun in ganz Europa ein Arzneimittel zur subkutanen Behandlung akuter HAE-Attacken bei Erwachsenen zugelassen. Der spezifische Antagonist von Bradykinin-B2-Rezeptoren besteht aus zehn Aminosäurebausteinen und soll im September 2008 eingeführt werden.

Das hereditäre Angioödem ist eine seltene, autosomal-dominant vererbbare Erkrankung. In Deutschland sind etwa 1000 Betroffene bekannt, Schätzungen zufolge liegt die tatsächliche Zahl jedoch zwischen 2000 bis 8000, in Europa bei bis zu 50.000. HAE-Patienten leiden an wiederkehrenden, oft schmerzhaften Schwellungen der Haut oder der Schleimhäute. Am häufigsten sind das Gesicht, Hände und Füße, der Gastrointestinaltrakt und der Bereich von Rachen und Kehlkopf betroffen. Als Auslöser kommen beispielsweise Traumata, Stress, Infektionen oder die Einnahme östrogenhaltiger Kontrazeptiva infrage. Die Schwellungen im Kehlkopf- und Zungenbereich sind potenziell lebensbedrohlich, da sie zum Tod durch Ersticken führen können.

Schwellungen sind nicht vorhersehbar

Das Auftreten der Schwellungen ist nicht vorhersehbar; die meisten Patienten mit hereditärem Angioödem erleiden durchschnittlich eine Attacke pro Monat, manche Betroffene einmal wöchentlich, andere lediglich einmal im Jahr oder seltener. Die Schwellungen entwickeln sich meistens allmählich über zwölf bis 36 Stunden und klingen in der Regel im Verlauf von zwei bis fünf Tagen spontan ab.

Bei etwa 75% der Patienten manifestiert sich die Erkrankung zum ersten Mal im ersten oder zweiten Lebensjahrzehnt. Vom Auftreten der ersten Schwellungsattacken bis zur korrekten Diagnose und Behandlung vergehen jedoch oft mehrere Jahre, da die Diagnostik nicht einfach ist. Stehen abdominale Attacken im Vordergrund, kommt es nicht selten zu Fehldiagnosen oder sogar zu unnötigen chirurgischen Eingriffen, weil die Symptome denen von Koliken oder Blinddarmentzündungen ähneln. Etwas einfacher ist die Unterscheidung einer Hautschwellung infolge dieser Erkrankung von allergischen Reaktionen oder den meisten Urtikaria-Formen (siehe Kasten).

Unterscheidungsmerkmale hereditäres Angioödem und allergische Erkrankungen
 hereditäres 
Angioödem
allergische 
Erkrankungen
Form der Schwellungenblass, unscharf 
begrenzt, keine Quaddeln
gerötet, papulös, scharf begrenzt
Juckreizneinja
Quaddelnneinja
Ansprechen auf Behandlung 
mit Antihistaminika, Cortico-
steroiden oder Adrenalin
neinja

Therapieziel: Symptomlinderung

Das Ziel der Behandlung des hereditären Angioödems besteht darin, das Voranschreiten der Schwellungen zu verhindern und möglichst rasch eine Rückbildung der Symptome zu erreichen. Bisher gab es dafür jedoch nur eingeschränkte Therapiemöglichkeiten. So wurden Patienten beispielsweise aus Spenderblut gewonnene Konzentrate mit dem Enzym C1-Esterase-Inhibitor (C1-INH) intravenös verabreicht. Der Hintergrund dafür ist, dass man bis vor einiger Zeit das hereditäre Angioödem als eine Krankheit betrachtete, die durch einen Mangel oder eine funktionelle Insuffizienz des Enzyms C1-Esterase-Inhibitor bedingt ist. Inzwischen sind jedoch weitere HAE-Formen bekannt geworden (siehe Kasten).

Verschiedene HAE-Formen bekannt

Als Ursache für das hereditäre Angioödem galt bis vor einiger Zeit ein Mangel oder eine funktionelle Insuffizienz des regulatorischen Enzyms C1-Esterase-Inhibitor (C1-INH) infolge eines Gendefekts auf dem langen Arm von Chromosom 11. C1-INH besitzt wichtige Funktionen bei der Kontrolle des Kinin-Systems, der Fibrinolyse, der Blutgerinnung und des Komplementsystems. Inzwischen sind jedoch weitere HAE-Formen bekannt geworden. Ursache dafür sind entweder Mutationen im Gen für den Gerinnungsfaktor XII oder andere, bislang nicht bekannte genetische Defekte.

Zur Langzeitprophylaxe der Erkrankung wurden und werden Androgene (z. B. Danazol) oder Tranexamsäure eingesetzt. Diese Therapieoptionen sind jedoch entweder nur schwach wirksam oder weisen erhebliche Nebenwirkungen (z. B. Gewichtszunahme und Virilisierung bei Frauen unter Androgen-Einnahme) bzw. Kontraindikationen (z. B. bei Schwangeren) auf.

Schwellungsauslösendes Bradykinin verdrängt

Neuesten Erkenntnissen zufolge spielt das Peptidhormon Bradykinin die zentrale Rolle bei der Entstehung der HAE-Symptome. Es bindet an den Bradykinin-B2-Rezeptor, was eine Erweiterung der Blutgefäße, eine Erhöhung der Kapillarpermeabilität und schließlich die Bildung von Ödemen zur Folge hat. Der spezifische Bradykinin-B2-Rezeptorantagonist Icatibant (Firazyr®) verdrängt das schwellungsauslösende Bradykinin kompetitiv und wirkt damit an der Schlüsselstelle der Symptomentstehung. Firazyr® steht als Fertigspitze zur Verfügung, die bei Raumtemperatur gelagert werden kann. Die Verabreichung erfolgt zu Beginn einer Attacke durch den Arzt in die Bauchdecke des Patienten. Studien, deren Ergebnisse zu einem späteren Zeitpunkt eine Selbstapplikation durch den Patienten ermöglichen könnten, sind in Vorbereitung. Icatibant wird subkutan einmal täglich in einer Dosis von 30 mg verabreicht und ist bei allen Arten von HAE-Attacken wirksam.

Steckbrief: Icatibant

Handelsname: Firazyr

Hersteller: Jerini AG, Berlin

Einführungsdatum: September 2008

Zusammensetzung: Jede 3-ml-Fertigspritze enthält Icatibant-Acetat entsprechend 30 mg Icatibant. Sonstige Bestandteile: Natriumchlorid, Eisessig (zur Einstellung des pH-Werts), Natriumhydroxid (zur Einstellung des pH-Werts), Wasser für Injektionszwecke.

Stoffklasse: Pharmakotherapeutische Gruppe: [noch festzulegen] ATC-Code: [noch nicht zugewiesen].

Indikation: Zur symptomatischen Behandlung akuter Attacken eines hereditären Angioödems (HAE) bei Erwachsenen (mit C1-Esterase-Inhibitor-Mangel).

Dosierung: Eine subkutane Injektion von 30 mg, vorzugsweise in den Abdominalbereich verabreicht. Aufgrund des großen zu verabreichenden Volumens (3 ml) sollte die Injektion langsam erfolgen. Bei unzureichender Wirkung kann sechs Stunden später eine zweite Injektion erfolgen. Innerhalb von 24 Stunden dürfen maximal drei Injektionen verabreicht werden.

Gegenanzeigen: Überempfindlichkeit gegen den Wirkstoff oder einen der sonstigen Bestandteile.

Nebenwirkungen: Sehr häufig: Reaktionen an der Injektionsstelle (Erythem, Schwellung, Wärmegefühl, Brennen, Jucken), häufig: erhöhte Kreatininphosphokinasespiegel im Blut, anormale Leberfunktionswerte, verstopfte Nase, Übelkeit, Bauchschmerzen, Schwindelgefühl.

Wechselwirkungen: Es werden keine pharmakokinetischen Arzneimittelwechselwirkungen in Verbindung mit CYP450 erwartet. Die gleichzeitige Anwendung von Firazyr und ACE-Hemmern wurde nicht untersucht. ACE-Hemmer sind bei HAE-Patienten infolge einer möglichen Erhöhung des Bradykininspiegels kontraindiziert.

Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen: Ischämische Herzkrankheit: Unter ischämischen Bedingungen kann sich durch Blockierung des Bradykininrezeptors Typ 2 eine Verschlechterung der Herzfunktion und eine Verminderung der Durchblutung der Herzkranzgefäße ergeben. Schlaganfall: Obgleich es Hinweise auf einen günstigen Effekt einer B2-Rezeptorblockade unmittelbar nach einem Schlaganfall gibt, besteht theoretisch die Möglichkeit, dass Icatibant die positive neuroprotektive Spätphasenwirkung von Bradykinin abschwächt. Daher ist bei einer Anwendung von Icatibant in den Wochen nach einem Schlaganfall Vorsicht angezeigt.

Studiendaten belegen Wirksamkeit

Die Wirksamkeit von Icatibant wurde unter anderem in der Zulassungsstudie Fast-2 (For Angioedema Subcutaneous Treatment) an 74 Patienten mit moderaten bis sehr schweren HAE-Attacken gegen das Antifibrinolytikum Tranexamsäure, das in einigen Ländern standardmäßig zur Behandlung eingesetzt wird, getestet. Primärer Endpunkt war der Zeitpunkt, an dem eine deutliche, das heißt mindestens 30%-ige Symptomverbesserung hinsichtlich kutaner Schwellung, Schmerz und abdominalem Schmerz eintrat. Unter Icatibant wurde diese innerhalb von zwei Stunden, unter Tranexamsäure dagegen erst nach zwölf Stunden erreicht. Sekundäre Endpunkte waren der Zeitpunkt der ersten Symptomverbesserung und das Ende der HAE-Attacke. Unter Icatibant trat bei einigen Patienten eine erste Symptomverbesserung bereits nach sechs Minuten (im Median nach 48 min), unter Tranexamsäure im Median erst nach 7,9 Stunden ein. Das Ende einer Attacke war unter Icatibant im Median nach zehn Stunden, unter der Vergleichssubstanz jedoch erst nach 51 Stunden erreicht.

Icatibant erwies sich außerdem als sicher und gut verträglich, denn bei keinem der bisher behandelten Patienten kam es zu therapiebedingten schweren unerwünschten Ereignissen. Leichte Reaktionen wie zum Beispiel Brennen, Juckreiz, Schmerzen oder lokal begrenzte Schwellungen an der Injektionsstelle waren innerhalb weniger Stunden spontan reversibel.

 

Quelle

Prof. Dr. Jens Schneider-Mergener, Berlin; Prof. Dr. Konrad Bork, Mainz; Dr. Jochen Knolle, Berlin; Prof. Dr. Werner Aberer, Graz; Silke Krahmer, Hamburg: "Hereditäres Angioödem. Neu: erste subkutane Therapie stoppt lebensbedrohliche Attacken", Berlin, 27. Juni 2008, veranstaltet von der Jerini AG, Berlin.

Fachinformation Firazyr, Stand Juli 2008.

 


Apothekerin Dr. Claudia Bruhn

 

 

Das könnte Sie auch interessieren

Empfehlungen für das Engpassmanagement bei hereditärem Angioödem

Wenn Cinryze® knapp wird

Neuartiger Hoffnungsträger bei hereditärem Angioödem

Mit Lanadelumab Attacken vorbeugen

Seltene genetische Erkrankung

Was ist das hereditäre Angioödem?

Beim hereditären Angioödem sammelt sich Flüssigkeit im Gewebe

Wasser auf Abwegen

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.