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Aus Kammern und Verbänden
Geschlechtsspezifische Effekte
Ein neuer Begriff etabliert sich in der Fachlandschaft: Gender Medizin. Ausgehend von zuerst universitären und später auch administrativen Anregungen und Richtlinien ("Gender Mainstreaming") beginnt er sich jetzt generell einzubürgern. Die Erkenntnis, dass die Entstehung und der Verlauf von Erkrankungen bei Männern und Frauen unterschiedlich ist, wird zunehmend in Forschung und Lehre sowie Weiterbildung von Ärzten und Apothekern thematisiert.
Diese noch junge Wissenschaft hat in den letzten Jahren begonnen, die unterschiedlichen Wirkungen von Medikamenten auf den weiblichen bzw. männlichen Organismus zu erforschen, um dadurch Erkenntnisse hinsichtlich geschlechtsspezifischer Diagnose- und Therapieansätze zu erbringen.
Geschlechtsspezifische Führungsqualitäten
Der Kongress in Heidelberg wurde durch zwei Vorträge zum Thema "Geschlechtsspezifische Führungsqualitäten und Frauengesundheit" eröffnet. Die Arbeitspsychologin Prof. Dr. Gisela Mohr (Institut für Psychologie II, Leipzig) erläuterte, dass weiblichen Führungskräften weniger Wertschätzung entgegen gebracht wird, vor allem wenn sie in einem männlich dominierten Arbeitsbereich beschäftigt sind.
Über das Gesundheitsbedürfnis und Gesundheitsverhalten von Frauen im mittleren Lebensalter referierte Frau Prof. Elisabeth Pott (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, BZgA). Sie stellte das Frauengesundheitsportal vor, mit dem das BZgA auf das zunehmende Informationsbedürfnis von Frauen zu Fragen der Gesundheitsförderung reagiert.
Frauen in klinischen Studien
Prof. Monika Sieverding (Psychologisches Institut, Heidelberg) konnte durch eigene Untersuchungen nachweisen, dass es im präventiven Gesundheitsverhalten nach wie vor klare Geschlechtsunterschiede gibt. Männer nehmen weniger medizinische Angebote und professionelle Hilfe zu präventiven Zwecken in Anspruch als Frauen.
Die Frage der Unterrepräsentation von Frau in klinischen Studien diskutierte Frau Prof. Petra A. Thürmann (Philipp Klee-Institut für Klinische Pharmakologie Wuppertal, Universität Witten/Herdecke). Sie legte Zahlen einer aktuellen Analyse der EMEA vor, dass Frauen in Studien zu Antihypertensiva, akutem Koronarsyndrom, Antidiabetika und Arzneimitteln gegen Hepatitis B unterrepräsentiert sind im Verhältnis zur Krankheitsprävalenz. Sie forderte geschlechtsspezifische Studien, da Frauen und Männer auf Medikamente unterschiedlich reagieren können.
Auch Dr. Beate Klimm (Klinik I für Innere Medizin, Köln) kritisierte, dass es bis vor Kurzem kaum Daten über die geschlechtspezifische Pharmakokinetik und Pharmakodynamik von Zytostatika gab, da deutlich mehr Männer als Frauen in klinischen Studien eingeschlossen wurden. Sie war der Meinung, dass die Implementierung von geschlechtsspezifischen und an die hämatologische Toxizität angepasste, individuelle Therapiestrategien bei Patienten mit Neoplasien, sowohl zu besser vorhersehbarer Toxizität als auch zu besserem Gesamtüberleben in zukünftigen klinischen Studien beitragen kann.
Geschlechtsspezifische Aspekte in der Arzneimittelentwicklung wurden von Dr. Virginia Watson (Catalent Pharma Solutions, UK) aufgegriffen. Sie sprach über Erfahrungen bei der Entwicklung von GnRH-Antagonisten/-Agonisten, die beim Mann zur chemischen Kastration bei Prostatakrebs und bei Frauen zur Behandlung der Endometriose, Fibromen und Unfruchtbarkeit geeignet sind. Ausführlich ging sie auf das unterschiedliche Nebenwirkungsprofil bei Männer und Frauen ein.
Gender Medizin: Status quo – Ziele – Strategien
Die Eingangsthese von Frau Prof. Maria Cordina (College of Pharmacy Practice, Malta) war, dass die chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD) längst keine typische Männerkrankheit mehr ist. Cordina verwies auf eine US-amerikanische Studie, wonach die Zahl der Frauen mit COPD die der Männer in den USA sogar übersteigt. Spezialisten empfehlen deshalb, auch bei Frauen an die Diagnose einer COPD zu denken.
Ein sehr wichtiges und viel beachtetes Problem sind geschlechtsspezifische Unterschiede bei koronarer Herzerkrankung und Herzinsuffizienz. Nach Forschungsergebnissen von Dr. Elke Lehmkuhl (Charité/Deutsches Herzzentrum, Berlin) ist die Hypertonie bei Frauen häufiger. Ursächliche Mechanismen sind unter anderem geschlechtspezifische Unterschiede im NO-System und Effekte von Östrogenen, die unterschiedliche Stoffwechselwege modulieren. Auch Polymorphismen in Östrogenrezeptoren beeinflussen die myokardiale Hypertonie bei Frauen und Männern in unterschiedlicher Weise.
Dr. Larissa Burruano (Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung, Hannover) zeigte, dass die HIV/AIDS-Epidemie in der Ukraine bis 1995 kein wesentliches Problem war. Danach kam es nicht nur unter Männern, sondern auch unter Frauen zu einem starken Anstieg der HIV-Infektionen in der Ukraine und mit einer dreijährigen Zeitverzögerung auch in der Russischen Förderation. Die Anzahl der Kinder, die von HIV-positiven Müttern zur Welt gebracht wurden, stieg ebenfalls. Sie forderte eine intensivere Aufklärung und spezifische Präventionsmaßnahmen für Frauen, um die Ausbreitung der HIV/AIDS-Epidemie effektiv zu verhindern.
Frau Prof. R. E. Nappi (Gynäkologische Endokrinologie, Universität Pisa) berichtete über Altern und Sexualität bei Frauen. Ihre Untersuchungen zeigten, dass, ungeachtet der Häufigkeit sexueller Probleme mit zunehmendem Alter, das Aufgeben sexueller Aktivität keine unvermeidliche Folge des Alterungsprozesses ist. Eine große Anzahl von Männern und Frauen bleibt, infolge der sich wandelnden Einstellungen zur Sexualität und der Verfügbarkeit wirksamer Behandlungen bei sexuellen Funktionsstörungen, bis ins hohe Alter sexuell aktiv. Eine Hormonersatztherapie ist jedoch für viele Frauen, bei denen nach der Menopause sexuelle Schwierigkeiten und eine verminderte Libido auftreten, nicht immer eine ausreichende Maßnahme. Daher sind eine präzise Beurteilung und eine individuelle Behandlung erforderlich.
Nicht nur Medikamente wirken geschlechtsspezifisch, sondern auch Nahrungsergänzungsmittel war die Aussage von Frau Prof. Ivona Wawer (Medizinische Hochschule Warschau, Polen). Nach ihrer Ansicht sollten Nahrungsergänzungsmittel zur Förderung der Männergesundheit Antioxidanzien und Selen enthalten, Nahrungsergänzungsmittel zur Förderung der Frauengesundheit dagegen Soja, Melisse oder Phytoöstrogene. Allerdings sind die Forschungsprojekte auf diesem Gebiet relativ neu. Viele Ergebnisse aus tierexperimentellen Studien müssen erst noch bestätigt werden, bevor Empfehlungen für die Öffentlichkeit ausgesprochen werden können.
Frauen und Suchterkrankungen
Erst 1968 wurde "Sucht" als Krankheit anerkannt. Soziale Lage, Bildung, Alter, Ethnizität und das soziokulturelle Geschlecht beeinflussen Entstehung und Verlauf. Prof. Christel Zenker (MPH, Berlin) definierte drei Schweregrade bei der Suchtentstehung. Drogen können der Konstruktion von Gender dienen, sie können weiterhin als Problemlösungsstrategie oder Überlebensstrategie eingesetzt werden. Sie führte aus, dass in der Therapie Frauen im Gegensatz zu Männern von wenig strukturierten und gleichgeschlechtlichen Gruppen profitieren, in denen Gefühle, Selbstbewusstsein und die persönliche Wirkung auf andere bearbeitet werden. Gleichgeschlechtliche Therapie bietet die Möglichkeit angst- und schambesetzte Themen zu bearbeiten.
Gegenstand des Vortrages von Dr. Christine Heading (Faculty of Science, Newcastle, UK) waren geschlechtsspezifische Unterschiede beim Missbrauch psychotroper Arzneimittel. Sie berichtete über Probleme bei der Entwicklung neuer Arzneimitteltherapien bei Substanzmissbrauch. Fazit ihres Referates war, dass das Problem, mit dem diejenigen konfrontiert sind, die an der Entwicklung von Therapien arbeiten, darin besteht, dass nicht nur die verschiedenen Formen des Missbrauchs geschlechtsspezifische Merkmale aufweisen, sondern auch die Therapie selbst. Die Sensibilisierung für die geschlechtsspezifischen Unterschiede ist eine unabdingbare Voraussetzung für erfolgreiche Therapiekonzepte.
Plenumdiskussion mit Andrea Fischer
Die Möglichkeit zu interessanten Gesprächen und spannenden Begegnungen ergab sich bei der Plenumdiskussion "Genderaspekte im Gesundheitswesen". Andrea Fischer, ehemalige Gesundheitsministerin der Bundesrepublik Deutschland, moderierte zu diesem Thema. Teilnehmer und Referentinnen waren sich einig, dass die geschlechtsspezifischen Effekte sowohl in der Pharmakodynamik als auch Pharmakokinetik von Arzneistoffen bei der Erforschung neuer Wirkstoffe und Therapiestrategien berücksichtigt werden müssen. Eine geschlechterspezifische und geschlechtersensible Sichtweise trägt dazu bei, dem Gesundheitsanliegen von Frauen und Männern gerecht zu werden. Viele Ärzte und Ärztinnen wie auch Apotheker und Apothekerinnen haben während ihrer Ausbildungszeit nichts davon gehört. Es wird noch eine Weile dauern, bis diese Kluft überwunden wird. Der Kongress hat seinen Beitrag dazu geleistet.
Prof. Dr. Karen Nieber, Leipzig
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