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Pädiatrie
Gut vorgesorgt von Anfang an
Die gesunde Entwicklung eines Kindes in den ersten Lebensjahren ist entscheidend für seine spätere körperliche und seelische Gesundheit. Das seit 1971 im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung verankerte Kinder-Früherkennungsprogramm soll dazu beitragen, Krankheiten und Störungen, die diese Entwicklung gefährden könnten, möglichst frühzeitig zu erkennen. Die Abstände zwischen den kostenlosen ärztlichen Untersuchungen nehmen mit dem Alter des Kindes zu. Die ersten sechs Untersuchungen (U1 bis U6) finden in der Regel im ersten Lebensjahr, die U7 kurz vor dem zweiten, die U8 kurz vor dem vierten Geburtstag und die U9 kurz nach dem fünften Geburtstag statt. Die Durchführung der neuen U7a wird zwischen dem 33. und 36. Lebensmonat empfohlen. Damit wurde die Möglichkeit geschaffen, im dritten Lebensjahr, wo viele wichtige Entwicklungsprozesse ablaufen, eventuelle Störungen oder Auffälligkeiten rechtzeitig zu erkennen. Relativ neu im Früherkennungsprogramm sind auch die Untersuchungen U10, U11 und J2, die jedoch noch nicht von allen Krankenkassen erstattet werden (siehe Tabelle).
Das Früherkennungsprogramm im Überblick | ||
Zeitraum a
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Schwerpunkte der Untersuchung (Auswahl) |
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U1 |
direkt nach der Geburt |
APGAR-Test (siehe Kasten) |
U2 |
3. bis 10. Lebenstag |
Untersuchung von Herz und Lunge, Reflexverhalten, Gelenkbeweglichkeit, Sehvermögen, Test auf Stoffwechselerkrankungen mittels Blutentnahme, Besprechung der Rachitis- und Kariesprophylaxe |
U3 |
4. bis 5. Lebenswoche |
Überprüfung der Hüftgelenksentwicklung (gegebenenfalls Hüft-Ultraschall) und der Reflexmuster (z. B. fixiert Lichtquelle, symmetrisches Strampeln, hält Gegenstände kurz fest, spontane Lautbildung), erste Impfberatung |
U4 |
3. bis 4. Lebensmonat |
Überprüfung des Seh- und Hörvermögens (z. B. Fixieren und Blickverfolgung, Reaktion auf akustische Reize) und der Sprachentwicklung (z. B. lautes Lachen beim Ansprechen, differenziertes Schreien), ggf. Impfungen |
U5 |
6. bis 7. Lebensmonat |
Untersuchung der sprachlichen und sozialen Entwicklung (Lautbildung, Interaktion, Reaktion auf Zuruf, Unterscheidung von fremden und bekannten Gesichtern) sowie der Spontan- und Feinmotorik (steckt Gegenstände in den Mund) und des Hör- und Sehvermögens (z. B. Geräuschquelle sicher lokalisieren, fallenden Gegenständen nachschauen) |
U6 |
9. bis 14. Lebensmonat |
Prüfung der Feinmotorik (koordiniertes Krabbeln, gezieltes Greifen mit Daumen und Zeigefinger) sowie der sozialen Kontakte (reagiert auf seinen Namen, Nachahmespiele) und der Sprachentwicklung (bildet Silbenverdopplung wie da-da), Ausschluss von Hör- und Sehstörungen (Reaktion auf leise Geräusche), Prüfung ob Allergien vorliegen, ggf. Impfungen |
U7 |
21. bis 24. Lebensmonat |
Beurteilung der Sprach- und Hörentwicklung (z. B. Zweiwortsätze, mindestens zehn Worte sprechen und etwa 250 Worte verstehen, zwei Worte sicher kombinieren, Sprechen in der 3. Person), der motorischen Fähigkeiten (freies Gehen), der Entwicklung des Sozialverhaltens, gegebenenfalls Impfungen |
U7a b
|
33. bis 38. Lebensmonat |
Erkennen von allergischen Erkrankungen, Sozialisations- und Verhaltensstörungen, Übergewicht, Sprachentwicklungs- und Sehstörungen), Zahn-, Mund- und Kieferanomalien |
U8 |
46. bis 48. Lebensmonat |
Untersuchungen zu Wachstum und geistiger Entwicklung (z. B. Hüftreifung, Verhalten, Interaktion, Sprechen in der Ich-Form, Feinmotorik, Konzentrationsvermögen, Schlafverhalten), Test des Hörvermögens, umfangreicher Sehtest (100% Sehschärfe sollte erreicht sein), internistische Untersuchung um Funktionsstörungen z. B. von Herz, Nieren, Schilddrüse zu erkennen |
U9 |
60. bis 64. Lebensmonat |
Überprüfung der sozialen und sprachlichen Fähigkeiten (erzählt aus der Erinnerung, stellt die eigene Situation im sozialen Verhalten im Kindergarten und in der Familie dar), des Hör- und Sehvermögens (besonders im Hinblick auf die bevorstehende Einschulung), gegebenenfalls Impfungen |
U10 c
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7. bis 8. Lebensjahr |
Erkennen und Behandlungseinleitung von umschriebenen Entwicklungsstörungen (z. B. Lese-, Rechtschreib-, Rechenstörungen, ADHS) |
U11 c
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9. bis 10. Lebensjahr |
Erkennen und Behandlungseinleitung von Schulleistungs-, Sozialisations- und Verhaltensstörungen, Zahn-, Mund- und Kieferanomalien, gesundheitsschädigendem Medienverhalten. Gespräch über problematischen Umgang mit Suchtmitteln und gesundheitsbewusstes Verhalten |
J1 |
14. Lebensjahr |
Überprüfung des allgemeinen Gesundheits- und Entwicklungsstandes: Beurteilung der psychischen Verfassung, Fragen nach dem Gesundheitsverhalten (Rauchen, Sexualkontakte etc.) und der schulischen Leistung, Einschätzung der familiären Belastung (z. B. in Bezug auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen), gegebenenfalls Besprechung Pubertäts-spezifischer Probleme; Bestimmung des Impfstatus und ggf. nachholen fehlender Impfungen |
J2 c
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16. bis 18. Lebensjahr |
Erkennen und Behandlungseinleitung von Pubertäts- und Sexualitätsstörungen, Haltungsstörungen, Kropfbildung, Sozialisations- und Verhaltensstörungen; Diabetes-Vorsorge; begleitende Beratung bei der Berufswahl |
a
Mit der Einführung der U7a wurden die Untersuchungszeiträume teilweise verändert (z. B. wurde der Beginn der U6 vom 43. auf den 46. Lebensmonat verschoben), um sinnvolle Abstände zwischen den Untersuchungen zu erreichen.
b
Die neue U7a wird ab 1. Juli 2008 von allen Krankenkassen erstattet.
c
Diese Untersuchung ist zurzeit noch keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung, einige Kassen erstatten sie jedoch bereits. Welche das sind, können Eltern auf der Website des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte e.V. einer Liste unter www.kinderaerzte-im-netz.de/bvkj/
aktuelles1/show.php3?id=2813&nodeid=26 entnehmen. |
Notwendigkeit ist unbestritten
Dass die Vorsorgeuntersuchungen tatsächlich notwendig sind, zeigen unter anderem die 2007 publizierten ersten Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KIGGS). So litten beispielsweise bei den darin untersuchten Kindern unter zwei Jahren 10,2% der Jungen und 6,7% der Mädchen und bei den drei- bis sechsjährigen Teilnehmern des Surveys 14,1% der Jungen und 11,5% der Mädchen unter einer atopischen Erkrankung wie Asthma, Heuschnupfen oder atopisches Ekzem. Rund 9% der untersuchten Drei- bis Sechsjährigen wurden als übergewichtig oder adipös klassifiziert. Bei 6,9% der Jungen und 3,7% der Mädchen dieser Altersgruppe stellte man mittels Elternfragebogen Verhaltensauffälligkeiten oder emotionale Probleme fest.
Was ist der APGAR-Wert?Beim APGAR-Test (benannt nach der amerikanischen Ärztin Virginia Apgar) werden direkt nach der Geburt Punkte (0, 1 oder 2) für verschiedene Aspekte des Allgemeinzustandes des Neugeborenen vergeben, dabei steht:
Die Testung erfolgt ein und fünf Minuten nach der Geburt, der Maximalwert ist also 10/10. |
Akzeptanz und internationaler Vergleich
Die Akzeptanz des Früherkennungsprogramms bei den Eltern ist im ersten Lebensjahr ihrer Kinder sehr hoch. Die Teilnehmerraten liegen über 90%, bei Bevölkerungsgruppen mit niedrigem sozioökonomischen Status bei etwa 80%. Ab der U7 verringert sich die Beteiligung etwas und liegt regionalen Erhebungen zufolge zwischen 72 und 75%. Die Daten des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys haben gezeigt, dass bei den Untersuchungen U1 bis U9 81% der Kinder des Surveys (Geburtsdatum zwischen 1990 und 1999) an allen, 16% an einem Teil und 3% nie an einer Vorsorgeuntersuchung teilgenommen hatten.
Auch in anderen europäischen Ländern sowie in den USA, Kanada, Neuseeland und Australien werden Kinder-Früherkennungsprogramme durchgeführt. Sie beinhalten wie in Deutschland Screening-Maßnahmen auf spezielle Erkrankungen (z. B. Hörstörungen) sowie Präventionsmaßnahmen wie z. B. Impfungen. Im Unterschied zu Deutschland und den USA werden in manchen Ländern einige Untersuchungen durch ausgebildetes nicht-ärztliches Personal durchgeführt.
Erinnerungshilfe für ElternDer "Vergißmeinnicht-Service" unter www.gesundes-kind.de erinnert Eltern per E-Mail an die Früherkennungs-Untersuchungen ("U-Untersuchungen") sowie an die Termine für die von der STIKO empfohlenen Impfungen. Dazu ist die Eingabe des Vornamens und des Geburtsdatums des Kindes notwendig. Zu jeder Untersuchung sollte der Impfpass, das vom G-BA ausgegebene Vorsorgeheft und zu den ersten Terminen auch der Mutterpass mitgebracht werden. Unterstützt wird dieser Service von der GlaxoSmithKline GmbH & Co. KG. |
Kritik der Pädiater
Rechtliche Grundlage des Kinder-Früherkennungsprogramms ist das Sozialgesetzbuch V (SGB V) § 26, wonach "versicherte Kinder ... Anspruch auf Untersuchungen ... zur Früherkennung von Krankheiten, die ihre körperliche oder geistige Entwicklung in nicht geringfügigem Maße gefährden" besitzen. Seit dem Jahre 2005 wird dieses Programm vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) nach und nach überarbeitet und dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand angepasst. So wurden beispielsweise die Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys sowie die aktuellen Forderungen vieler Teile der Gesellschaft nach einem besseren Schutz der Kinder vor Misshandlung und Vernachlässigung berücksichtigt. Vielen Kinder- und Jugendärzten gehen die bisher vom G-BA beschlossenen Maßnahmen zur "Modernisierung" des Kinder-Früherkennungsprogramms jedoch nicht weit genug (siehe Statement).
Quelle
Kinder und Jugendärzte im Netz: www.bvkj.de
Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses: Einrichtung einer Kinderuntersuchung U7a vom 15. Mai 2008 (Inkrafttreten nach Veröffentlichung im Bundesanzeiger am 1. Juli 2008).
Tragende Gründe des Gemeinsamen Bundesausschusses zum Beschluss über eine Änderung der Kinder-Richtlinien vom 15. Mai 2008.
Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e.V., www.kinderaerzte-im-netz.de
Anschrift der Verfasserin:
Apothekerin Dr. Claudia Bruhn
Ahornstr. 8
12163 Berlin
"Dies ist eine U7a light"
Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e.V. (BVKJ) hält die inhaltliche Gestaltung der neuen Vorsorgeuntersuchung für völlig unzureichend und nicht zeitgemäß. Insbesondere wird kritisiert, dass die Chance vertan wurde, an die Stelle des bis-herigen „alten“ Konzepts der Früherkennung (das heißt dem Erkennen bereits bestehender Erkrankungen) Maßnahmen zur primären Prävention, also der Verhinderung der Krankheitsentstehung, zu setzen. Wir baten den Bundespressesprecher des Verbandes, Dr. Ulrich Fegeler, um ein Statement.
„Grundsätzlich begrüßen wir die Einführung der U7a. Sie erfüllt eine Forderung, die wir den Politikern bereits vor über vier Jahren auf den Tisch gelegt haben. Allerdings entspricht der Inhalt der neuen Vorsorgeuntersuchung allenfalls in Ansätzen dem, was wir uns vonseiten der Pädiatrie vorgestellt hatten. Insbesondere wird der primärpräventive Ansatz, das heißt die vorausschauende Beratung, dabei kaum realisiert. Eher entspricht die inhaltliche Fassung der neuen Untersuchung dem, was wir bisher von den Vorsorgeuntersuchungen kennen, das heißt einem Konzept, das mittlerweile über 30 Jahre alt ist. Diese U7a ist daher in unseren Augen eher eine ‚U7a light‘. Sie wäre eine gute Chance für den Einstieg in ein neues System gewesen.“
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