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Management
Das Apothekendilemma
Ökonomische Rahmenbedingungen
Aus dem GMG resultierte für die gesetzlich Krankenversicherten eine höhere finanzielle Belastung, insbesondere durch den grundsätzlichen Ausschluss rezeptfreier Präparate aus der GKV-Erstattung, die Einführung der Praxisgebühr bei Arztbesuchen und die veränderten Zuzahlungsmodalitäten inklusive der restriktiveren Härtefallregelungen. Zugleich wurde das nicht preisgebundene Marktsegment in der Apotheke aufgrund der Tatsache, dass rezeptfreie, nicht zu Lasten der GKV verordnete Arzneimittel nicht mehr preisgebunden sind, stark ausgeweitet.
Die finanziellen Belastungen durch die Gesundheitsreform werden verstärkt durch ein allgemein schlechtes Konsumklima und eine ausgeprägte Kaufzurückhaltung aufgrund der als unsicher empfundenen wirtschaftlichen Lage. Während die Kaufkraft und Kaufbereitschaft sinken, entwickeln sich die Menschen, wie von Konsumforschern verzeichnet wird, mehr und mehr zu einem Volk der Preisvergleicher und Schnäppchenjäger [1]. Diese Grundtendenzen machen auch vor den Türen der Apotheken nicht halt, wie z.B. der Trend zu Generika in der Selbstmedikation zeigt [2].
Mehrheitsmeinung: Arzneimittel sind zu teuer
Nach einer repräsentativen Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach (Juni 2004) im Auftrag des Bundesverbands der Arzneimittel-Hersteller sind 82% der Bevölkerung der Auffassung, "Medikamente sind in Deutschland viel zu teuer". Viele der Befragten verweisen in diesem Zusammenhang z.B. auf die niedrigeren Medikamentenpreise in den Urlaubsländern Südeuropas [3]. Durch Gesundheitspolitiker und Krankenkassen werden die Verbraucher via Medien in ihrer subjektiven Einschätzung regelmäßig bestätigt. Die nicht erst seit einem Jahr brodelnde Mischung aus Kaufkraftverlust, Schnäppchenjägermentalität und "der Mär von den Apothekenpreisen" ist brisant und für den pharmazeutischen Einzelhandel seit Jahresbeginn im OTC-Segment auch von praktischer Bedeutung.
Befragungen wie z.B. der vielzitierten Sempora-Studie zufolge hat daher ein großer Teil der Apothekerschaft schon vor In-Kraft-Treten des GMG den OTC-Preis als neuen Wettbewerbsparameter erkannt [4]. In die Tat umgesetzt wurden Preissenkungen – ebenso wie Preiserhöhung – dagegen bislang nur von sehr wenigen Apotheken. In den ersten Monaten des Jahres 2004 lag das Preisniveau bei den 1000 wichtigsten Handelsformen bei rund 4% über dem Vorjahresniveau [5].
Betriebswirtschaftlich sind Preissenkungen unvernünftig
Die meisten Apotheker haben bislang aus betriebswirtschaftlicher Vernunft heraus der Verlockung widerstanden, von ihrer neuen Wettbewerbsmöglichkeit Gebrauch zu machen. Dazu ist erstens festzustellen, dass die Umsätze rezeptfreier Arzneimittel bereits vor dem GMG zu rund 60% durch Selbstkäufe (ohne ärztliche Verordnung) erzielt wurden. Infolgedessen herrscht in diesem Marktsegment ein hoher Wettbewerbsdruck bei einem Preisniveau, das kaum ein Fünftel des Durchschnittspreises rezeptpflichtiger Präparate erreicht. Zweitens zeigen transparente und nachvollziehbare betriebswirtschaftliche Berechnungen ohne weiteres, dass Preissenkungen für die Apotheken aus Wirtschaftlichkeits- und Rentabilitätsgesichtspunkten heraus nicht realisierbar sind.
Anhand eines vom Apothekerverband Nordrhein entwickelten Simulationsprogramms lässt sich beispielsweise folgende Berechnung aufstellen: Für eine durchschnittliche Apotheke mit einer Absatzmenge von 27.000 Packungen und mit einem durchschnittlichen Apothekenabgabepreis von 7,05 Euro (nach alter AMPreisV) pro Packung führt schon eine 10%ige Preissenkung über das Selbstmedikationssortiment zu einem Rohertragsverlust von mehr als 16.000 Euro p. a. Eine 20%ige Preissenkung führt unter sonst gleichen Bedingungen dazu, dass sich der Rohertrag im OTC-Segment mehr als halbiert [6].
Das strategische Dilemma der Apotheken
Die von Marktforschern, Apothekenberatungsunternehmen und Standesorganisationen vorgenommene Analyse ist eindeutig und kommt zu einem unstrittigen Ergebnis: Die Apothekerschaft wäre gut beraten, sich nicht auf einen OTC-Preiskampf untereinander einzulassen und stattdessen an den bislang geltenden Preisstrukturen festzuhalten. Die Analyse basiert im Wesentlichen darauf, dass sich die (Gesamt-)Nachfrage nach Arzneimitteln durch Preissenkungen nicht wirklich steigern lässt – ökonomisch ausgedrückt: Arzneimittel sind preisunelastisch. Deshalb können Preissenkungen auf breiter Front nur zu einem Umsatzverlust für den pharmazeutischen Einzelhandel führen. Diese These wird durch die Marktentwicklung nach dem Fall der Preisbindung in England (retail price maintenance) untermauert [7].
Die Crux an dieser Argumentation und mithin an der derzeitigen Entscheidungssituation der Apotheken liegt darin, dass die Aussagen ohne Zweifel für die Apothekerschaft als Kollektiv zutreffend sind, während für den individuellen Apotheker (zumindest vordergründig) ein Anreiz bestehen kann, eine preisaggressive Strategie anzuwenden. Die Ökonomie bedient sich zur Analyse einer Wettbewerbs- und Marktsituation, wie sie hier vorliegt (Oligopol), der Spieltheorie. Anhand eines einfachen Modells, das kurz als Gefangenendilemma bezeichnet wird, lässt sich die ganze Komplexität der Entscheidungssituation und der Lösungsmöglichkeiten aufzeigen (s. Kasten).
Bezogen auf die Apotheken lässt sich das Gefangenendilemma exemplarisch wie folgt veranschaulichen: Zwei Apotheken konkurrieren in einer ländlichen Kleinstadt um die Gunst der Einwohner. In der Ausgangssituation kalkulieren beide die Preise für ihr gesamtes apothekenpflichtiges Sortiment nach der Arzneimittelpreisverordnung. Nachdem diese gesetzlich aber nicht mehr bindend ist, überlegt jeder Apothekenleiter für sich, ob er die Preise für OTC-Präparate absenken soll, um auf diese Weise seinem Konkurrenten einen Teil der Kundschaft abzuwerben.
Aufgrund der dadurch erreichbaren Mengensteigerung bei OTC-Präparaten und der ebenfalls durch neugewonnene Kunden steigenden Rezeptumsätze könnte ggf. die Preissenkung überkompensiert und der Gesamtgewinn gesteigert werden. Sofern sich allerdings der Konkurrent ebenfalls umgehend auf den Preiskampf einlässt, ändert sich an der Verteilung der Kundenzahlen und der verkauften Mengen nichts, allerdings finden sich beide Apotheken auf einem niedrigeren Preisniveau und bei einem niedrigeren Umsatz wieder (Abb. 1).
Wenn beide Apotheken sich gegen eine Preissenkung entscheiden, haben beide einen Umsatz von 1,5 Mio. Euro. Sofern sich ein Apotheker für eine Preissenkung entscheidet, während sein Konkurrent die Preise auf dem Ausgangsniveau belässt, kann er den Umsatz zu Lasten seines Konkurrenten deutlich steigern (1,64 Mio. Euro gegen 1,28 Mio. Euro). Wenn beide Apotheken die preisaggressiven Strategien verfolgen, finden sie sich bei einer untereinander gleichen, jedoch verschlechterten Umsatzsituation wieder (beide 1,44 Mio. Euro).
Wie würde sich ein betriebswirtschaftlich denkender und kühl rechnender Apothekenleiter in dieser Situation verhalten? Seine Überlegung müsste wie folgt lauten:
- Angenommen mein Konkurrent senkt die Preise, dann senke ich ebenfalls die Preise, um meinen Umsatzverlust so gering wie möglich zu halten (1,44 Mio. anstatt 1,28 Mio.).
- Angenommen mein Konkurrent senkt die OTC-Preise nicht, dann senke ich trotzdem die Preise, um meinen Umsatz auf Kosten des Konkurrenten zu steigern (1,64 Mio. anstatt 1,5 Mio.).
Ergo: Unabhängig davon, wie sich mein Konkurrent verhält, ist es meine individuell optimale Strategie, die Preise zu senken. Spieltheoretisch spricht man hier von einer dominanten Strategie. Selbstverständlich gelten für den zweiten Apotheker die gleichen Überlegungen, sodass auch er die Preise senken wird und sich beide im Endeffekt bei einem niedrigeren Umsatz als in der Ausgangssituation wiederfinden. Das Strategienpaar "Preissenkung" auf beiden Seiten stellt, so wenig wünschenswert es auch aus Sicht der Apotheker ist, ein Gleichgewicht dar, bei dem sich die Entscheidungssituation zwangsläufig einpendelt. Nach dem amerikanischen Mathematiker John Nash, der dieses Konzept im Jahre 1951 formulierte und u.a. dafür mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, heißt es Nash-Gleichgewicht.
Die Interpretation liegt auf der Hand: Im gemeinschaftlichen Interesse der beiden Apotheker (im übertragenen Sinne der Apothekerschaft) muss es liegen, auf Preissenkungen zu verzichten und dadurch den Umsatz/Gewinn zu maximieren. Da die Apotheker ihre Entscheidungen aber unabhängig voneinander treffen und dabei nicht das Gemeinschaftsinteresse, sondern den Umsatz ihrer eigenen Apotheke zum Entscheidungskriterium machen, läuft die Situation stets auf den unheilvollen Preiskrieg hinaus. Oder ökonomisch ausgedrückt: Die individuell rationalen Entscheidungen führen für das Kollektiv zu einem ineffizienten Ergebnis.
Das Gefangenendilemma
Zwei Gefangene sind verdächtig, gemeinsam eine Straftat begangen zu haben. Die Höchststrafe für das Verbrechen beträgt 5 Jahre. Die vertrackte Situation ergibt sich aus folgenden Umständen, die beiden bekannt sind (Tab. 1).
- Wenn einer gesteht und somit seinen Partner belastet, kommt er ohne Strafe davon, und der andere muss die vollen 5 Jahre absitzen.
- Wenn beide schweigen, bleiben genügend Indizienbeweise, um beide für 2 Jahre einzusperren.
- Gestehen aber beide die Tat, erwartet jeden eine Gefängnisstrafe von 4 Jahren. Nun werden die Gefangenen unabhängig voneinander befragt. Die beiden haben weder vor noch während der Befragung die Möglichkeit sich abzusprechen.
Paradox kann dieses Dilemma genannt werden, da die vernünftige Entscheidung der Gefangenen, zu gestehen, zu einem für beide Beteiligten schlechteren Ergebnis führt, als wenn beide schweigen und sich damit irrational verhalten würden. Eine eindeutig verbindliche Handlungsanweisung kann nicht ohne weiteres angegeben werden.
Praktische Lehren aus der Spieltheorie
Die meisten Überlegungen und Argumente, die der Apothekerschaft an die Hand gegeben werden, um sie vor einem ruinösen Preiswettbewerb im OTC-Segment zu bewahren, basieren auf der standesorientierten bzw. kollektiven Perspektive. Hinter diesem pragmatischen Ansatz steht die Idee, dass die Kenntnis einiger betriebswirtschaftlicher Zusammenhänge und Kennziffern geeignet und hinreichend ist, den einzelnen Apothekenleiter davon zu überzeugen, dass sich der Einsatz von OTC-Preisen als Wettbewerbsparameter für ihn nicht auszahle.
Dieser einfache Rückschluss von der standesbezogenen Sichtweise auf die Perspektive des Einzelapothekers ist, wie sich auch an dem spieltheoretischen Beispiel nachvollziehen lässt, nicht ohne weiteres zulässig. Noch weniger richtig wäre es allerdings, im Umkehrschluss zu folgern, dass es für den einzelnen Apothekenleiter in der Praxis empfehlenswert sei, in den OTC-Preiskampf einzusteigen.
An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, warum es denn nicht, sofern der spieltheoretische Ansatz überhaupt auf die Apothekensituation übertragbar ist, längst zu einem erbitterten Preiswettbewerb zwischen den Apotheken gekommen ist. Neben der Tatsache, dass der Apotheker bzw. der Mensch im Allgemeinen eben doch kein reiner "Homo oeconomicus" ist, sondern von Gemütszuständen wie Unsicherheit, Gewohnheit und Trägheit geleitet wird, spielt hier ein weiterer Aspekt eine wichtige Rolle.
Das "Gefangenendilemma" beruht auf zwei zentralen Annahmen, die nicht absolut auf die Apotheken übertragbar sind:
- Die Gefangenen sitzen in getrennten Zellen und können demzufolge nicht miteinander kommunizieren.
- Das Spiel des Gefangenendilemmas wird nur einmal gespielt. Weil es keine Wiederholung des Spiels gibt, können die Spieler aus dem Spielverlauf nicht lernen und haben auch keine Sanktionsmöglichkeit, um einen unkooperativen Mitspieler zur Raison zu bringen.
Schon die erste o.g. Annahme trifft in der Apothekenlandschaft nicht vollständig zu. Auch wenn von der (kartellrechtswidrigen) Möglichkeit einer direkten Preisabsprache zwischen Apotheken abgesehen wird, so ist in dem regional gut organisierten Apothekerstand doch eine mittelbare Art der Verständigung gegeben. Diese ergibt sich aus der Standeszugehörigkeit, der relativ engen Interessenverbundenheit und der diesbezüglich gleichgerichteten Informationspolitik der Apothekerverbände, die hier erfolgreich eine Sensibilisierung für das Thema OTC-Preisbildung bewirkt haben. Darüber hinaus wird die "Verständigung" auf einen einheitlichen wettbewerbsneutralen Preis dadurch erheblich erleichtert, dass dieser durch den ehemals gültigen Zuschlag nach der Arzneimittelpreisverordnung in naheliegender Weise vorgegeben ist.
Vor allem diese beiden Aspekte, Standesverbundenheit und einheitlicher Apothekenabgabepreis in der Ausgangssituation, unterscheiden die reale Apothekensituation von dem geschilderten "Gefangenendilemma", das auf einen Preiskampf hinausläuft. Eine Annäherung an eine solche unerwünschte Wettbewerbssituation könnte jedoch eintreten, sobald der Zusammenhalt und die Kommunikation innerhalb der Apothekenlandschaft gestört wird und der einheitliche Abgabepreis in Apotheken weiter eingeschränkt wird.
Beides könnte dadurch geschehen, dass z.B. ausländische Versandapotheken oder "autonome" deutsche Offizinen mit überregionaler Bedeutung (durch Versand) mit einer, spieltheoretisch gesprochen, "nicht-kooperativen Preisstrategie" an Marktbedeutung gewinnen. Dies wiederum könnte einen dynamischen Wettbewerbsprozess mit einer Preisspirale nach unten in Gang setzen, der erst zum Stillstand kommt, wenn die Preise sich dem Niveau der Kosten angenähert haben und somit reine ökonomische Gewinne nicht mehr erzielbar sind [9]. Dieses Ergebnis wäre zwar aus kollektiver Sicht (der Apotheker) nicht wünschenswert, gleichwohl aber das konsequente Ergebnis rationaler individueller Entscheidungen.
Die wenigen Auswege aus diesem Dilemma, die die Spieltheorie aufzeigt, lassen sich ebenfalls auf die aktuelle Apothekenrealität übertragen. Ein erster Lösungsansatz, der sogar für die unerfreuliche Situation der Akteure des klassischen Gefangenendilemmas eine Wendung herbeiführen kann, besteht darin, nicht mehr von einem einmaligen strategischen Spiel, sondern von einem wiederholten Spiel auszugehen. Diese Erweiterung bietet die Möglichkeit, nicht-kooperative Verhaltensweisen (hier Preissenkungen) eines Akteurs mit Sanktionen zu belegen und umgekehrt kooperative Verhaltensweisen gleichfalls durch Kooperation zu belohnen.
In einem großen spieltheoretischen Experiment, das in den USA als Computer-Turnier durchgeführt wurde, hat sich diese "Tit-for-Tat"-Strategie ("Wie du mir, so ich dir") als erfolgversprechendste Möglichkeit erwiesen, mit der hier behandelten Wettbewerbssituation umzugehen [10]. Die praktische Evidenz dieser Erkenntnisse für Fragen der Unternehmenskooperation gilt inzwischen als gesichert. Für den erfolgreichen Umgang mit einem Konkurrenten bedeutet dies konkret, sich selbst zunächst freundlich, d.h. kooperativ zu verhalten. Zweitens sollte man aggressives Wettbewerbsverhalten des Konkurrenten scharf sanktionieren, drittens aber auch Nachsicht walten lassen, indem man nach einem "Schlagabtausch" wieder Kooperationsbereitschaft signalisiert.
Voraussetzung für den Erfolg der "Tit-for-Tat"-Strategie ist ein relativ enger und abgeschlossener Markt mit einer deutlich spürbaren wechselseitigen Abhängigkeit der Akteure. Dies betrifft somit Wettbewerbssituationen zwischen mehr oder weniger gleich starken Anbietern, wie sie näherungsweise gegeben sind, wenn mehrere Apotheken einer überschaubaren Region (z.B. Kleinstadt) miteinander konkurrieren.
Der zweite Ansatz ist von allgemeinerer Art und betrifft das Verhältnis zwischen den gut 21.000 Präsenzapotheken in Deutschland einerseits und den wenigen, aber an Umsatzbedeutung gewinnenden Internet- und Versandapotheken andererseits, die aus dem In- und Ausland z.T. mit OTC-Discountpreisen operieren. Es ist selbstredend, dass in Relation zu diesen Anbietern eine "Tit-for-Tat"-Strategie nicht zum Erfolg führen kann und dass es für eine Durchschnittsapotheke ebenso wenig erfolgversprechend sein kann, sich gleichfalls auf Discountpreise im OTC-Segment einzulassen.
Der einzige Ausweg, der sich hier aus theoretischer wie aus praktischer Sicht bietet, setzt bei der Abgrenzung des relevanten Marktes an. Um im Bild der Spieltheorie zu bleiben: Die Offizinapotheken müssen ein gänzlich anderes "Spiel spielen" als ihre Konkurrenten, indem sie sich über ihr Angebot und ihre Leistung von diesen differenzieren.
Umsetzung in der Apothekenpraxis
Tit-for-Tat-Strategie Die praktische Umsetzung einer Tit-for-Tat-Strategie verlangt von dem Akteur, hier der Apotheke, zunächst, sich kooperativ zu verhalten, d.h. nicht auf eigene Initiative einen OTC-Preiskampf mit der Konkurrenzapotheke zu starten. Bereits in dieser Phase ist eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg, dass die Konkurrenzapotheke diese kooperative Strategie klar erkennt. Sofern der oder die Mitbewerber im ersten Schritt ebenfalls einer Tit-for-Tat-Strategie folgen und sich kooperativ verhalten, wird es nicht zu einem Preiskampf kommen.
Sollte dagegen ein Mitbewerber "ausbrechen", indem er eine aggressive Preisstrategie anwendet, so verlangt die Tit-for-Tat-Strategie, dass dieses Verhalten umgehend und mit einer scharfen Sanktionierung geahndet wird. Dies könnte z.B. in einer zeitlich begrenzten Sonderaktion mit Preissenkungen bei bestimmten Produkten erfolgen. Dabei darf das Ziel der Strategie, nämlich letztlich dauerhafte Preisabsenkungen zu verhindern, nicht aus den Augen verloren werden. Deshalb ist es wichtig, solche Maßnahmen zu ergreifen, die der Konkurrent eindeutig als Reaktion auf sein Verhalten erkennt und die ihm die Möglichkeit lassen, wieder zur Ausgangssituation zurückzukehren. Grundvoraussetzung für den Erfolg einer Tit-for-Tat-Strategie ist die enge Reaktionsverbundenheit bzw. wechselseitige Abhängigkeit der Konkurrenzapotheken voneinander.
Sofern die Preisaktivitäten der Konkurrenzapotheke hinsichtlich ihrer Höhe oder des Produktsortiments eine subjektiv zu definierende "Schmerzgrenze" nicht überschreiten, ist zu bedenken, ob man überhaupt darauf reagieren sollte. Bei dieser Abwägung sollte das Risiko in Betracht gezogen werden, dass dadurch ungewollt wechselseitige Preissenkungsrunden eingeleitet werden könnten. Außerdem könnte eine Preisaktion, die als vorübergehende Sanktionsmaßnahme gedacht ist, bei den eigenen Kunden erst das Interesse für den Produktpreis wecken und beim Ende der Aktion für Verärgerung sorgen.
Strategie der Produktdifferenzierung Die gegenüber ungleichen Konkurrenten wie Versandapotheken erfolgversprechende Strategie, das eigene Angebot auszuweiten (Produktdifferenzierung), ist für das OTC-Segment nur in sehr wenigen Bereichen (z. B. Eigenpräparate) geeignet. Vielmehr sollte die Apotheke die Strategie verfolgen, nicht einfach OTC-Präparate zu verkaufen, sondern statt dessen ein "Rundumpaket" zu offerieren, in dem das Arzneimittel untrennbar mit einem Service- und Beratungsangebot inklusive einem besonderen Sicherheitsbonus verbunden ist [11]. Bezugnehmend auf die eingangs beschriebene Preissensibilität der Kunden muss sichergestellt werden, dass der Zusatznutzen, der mit dem Produktkauf in der Apotheke einhergeht, den dort zu zahlenden Preis rechtfertigt. Kurzum: Das Motto "Preiswert anstatt billig" sollte für die Apotheken zur Marketing-Maxime werden.
Den ungleichen Preiskampf mit einem Internet- oder Versandanbieter zu suchen, kann nur für die allerwenigsten Apotheken zum Erfolg führen. Unmittelbar einsichtig wird dies an dem oben bereits erwähnten Simulationsmodell des Apothekerverbands Nordrhein [6]. Exemplarisch wurde hier gezeigt, dass sich der Rohertrag im OTC-Bereich bei einer 20%igen Preissenkung mehr als halbiert. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Preissenkung zu einer Verdoppelung der OTC-Kunden bzw. der abgesetzten Produktmenge führen müsste, um die Verluste der Marge auch nur auszugleichen.
Vor diesem Hintergrund erscheint es erfolgversprechender, in der Kommunikation mit dem Kunden selbstbewusst aufzutreten und, sofern dieses gefordert wird, die Preisunterschiede mit Verweis auf den persönlichen Apothekenservice und die damit verbundenen Kosten zu rechtfertigen. Ein Hinweis darauf, dass die zeit- und ortnahe Versorgung durch die "Apotheke um die Ecke" nicht auf Basis der Kalkulation von Discountern zu gewährleisten ist, dürfte sicherlich bei einem Großteil der Kunden auf Verständnis und Einsicht stoßen.
Anschrift des Verfassers:
Dr. Uwe May
Bundesverband der Arzneimittelhersteller Ubierstr. 71 – 73, 53173 Bonn
Literatur
[1] Psychonomics: Health Care Monitoring. Köln 2004.
[2] IMS HEALTH: Deutscher Pharmamarkt 2004, Status Quo und Ausblick. Frankfurt 2004.
[3] May, U., Ries, M.: Wertigkeit und Preis von Arzneimitteln aus Sicht der Bevölkerung. Pharm. Ind. 66, Nr. 9 (2004).
[4] Sempora Consulting: Wie reagieren die Apotheker. Bad Hom- burg 2003.
[5] IMS HEALTH: Pressemitteilung vom 20. April 2004. Frank- furt 2004.
[6] Hüsgen, U.: Kalkulations- und Ertragssimulationsprogramm, ein Simulationsprogramm für öffentliche Apotheken zu den Auswirkungen des GKV-Modernisierungsgesetzes. Dtsch. Apoth. Ztg. 144, Nr. 3 (2004).
[7] IMS HEALTH: Der OTC-Markt in Großbritannien nach Fall der OTC-Preisbindung. Frankfurt 2003.
[8] Pfingsten, A.: Zugaben in der Apotheke, ein Gefangenen-Di- lemma. Dtsch. Apoth. Ztg. 133, 4581 – 4584 (1993).
[9] Müller-Bohn, T.: Wie lohnt sich das OTC-Geschäft?. Dtsch. Apoth. Ztg. 143, Nr. 49 (2003).
[10] Axelrod, R.: Evolution of Cooperation, New York 1984.
[11] Büchel, D.: Beratung in der Selbstmedikation. Dtsch. Apoth. Ztg. 143, Nr. 11 (2003).
Zusammenfassung
- Das spieltheoretische Modell "Gefangenendilemma" veranschaulicht die individuelle Versuchung von Apotheken, mit Hilfe von Preissenkungen bei OTC-Präparaten Umsatzsteigerungen zu erzielen.
- Im Ergebnis führen Preissenkungen, die von einzelnen Apotheken ausgehen, letztendlich zum Umsatzrückgang aller Apotheken in dem relevanten Markt.
- Die Spieltheorie zeigt zwei Auswege aus dem "Apothekendilemma" auf: – Auf lokaler bzw. regionaler Ebene sollten die Apotheken nach außen Kooperationsbereitschaft signalisieren und gegenüber preisaggressiven Kunden eine "Tit-for-Tat-Strategie" anwenden. – Auf überregionaler Ebene sollten die Offizinen sich gegenüber Konkurrenten durch ihre Leistungen und ihren Service erkennbar abheben.
- Aus betriebswirtschaftlicher Sicht sind die Apotheken gut beraten, einen Preiswettbewerb im OTC-Sektor unbedingt zu vermeiden.
Der Autor
Dr. Uwe May (Jg. 1967) studierte Volkswirtschaftslehre an der Universität Bonn und ist seit 1995 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller e. V. (BAH), Abteilung Gesundheitsökonomie und Grundsatzfragen Selbstmedikation tätig. Promotion im Jahr 2002 mit einer gesundheitsökonomischen Dissertationsschrift zum Thema: "Selbstmedikation in Deutschland - Eine ökonomische und gesundheitspolitische Analyse". Lehrbeauftragter im Studiengang Medizin-Ökonomie der Rheinischen Fachhochschule Köln. Anschrift: Dr. Uwe May Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller Ubierstraße 71-73 53173 Bonn may@bah-bonn.de
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