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Europa: Chancen und Risiken für das deutsche Gesundheitssystem
Das 46 Seiten umfassende Papier beleuchtet die Politik der EU-Kommission sowie Urteile des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) und hebt die Vor- und Nachteile der Entscheidungen hervor. Positiv werten die Spitzenverbände etwa die Erleichterungen bei der grenzüberschreitenden Patientenmobilität. Gesetzlich Krankenversicherte können sich mittlerweile auf drei Rechtsgrundlagen berufen, wenn sie bei einem vorübergehenden Aufenthalt in einem anderen Staat des europäischen Wirtschaftsraumes – EWR (25 EU-Staaten sowie Island, Liechtenstein und Norwegen) – gesundheitliche Leistungen in Anspruch nehmen.
Seit über 30 Jahren steht bereits der Auslandskrankenschein zur Verfügung, der nun schrittweise bis zum 1. Januar 2006 durch die europäische Krankenversichertenkarte abgelöst wird. Seit Inkrafttreten des GKV-Modernisierungsgesetzes besteht für Versicherte zudem die Möglichkeit, Kostenerstattung zu wählen. Außerdem können deutsche Krankenkassen seit diesem Jahr direkt Verträge mit Leistungserbringern des EWR-Auslands schließen.
Steigender Informationsbedarf
Diese neuen Wahlmöglichkeiten haben jedoch auch den Informationsbedarf der Versicherten erhöht, betonte die Vorstandsvorsitzende der Ersatzkassenverbände VdAK/AEV Doris Pfeiffer. Notwendig sei hier eine weitere Beratung durch die Krankenkassen. So müssten Versicherte über etwaige Gefahren bei der Wahl von Kostenerstattung hingewiesen werden, wenn sie – ohne Sprachkenntnisse – Gesundheitsdienstleistungen einkaufen, ohne Preis, Qualität und Gewährleistung zu kennen. Für mehr Transparenz auch in diesem Bereich soll künftig ein EU-Gesundheitsinformationsportal sorgen, das die EU-Kommission plant. Ein Vorhaben, das die Spitzenverbände ausdrücklich unterstützen.
Festbetragsentscheidung des EuGH
Ebenfalls positiv werten die Spitzenverbände die Entscheidung des EuGH vom 16. März 2004 über die Frage der Festsetzung von Arzneimittel-Festbeträgen. Nach jahrelangem Rechtsstreit zwischen Pharmaindustrie und Krankenkassen hat dieser entschieden, dass Krankenkassen bei der Festsetzung von Festbeträgen nicht als Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen im wettbewerbs- oder kartellrechtlichen Sinn zu betrachten sind. Die Kassen verstoßen daher nicht gegen geltendes Recht, wenn sie Erstattungsobergrenzen für bestimmte Arzneimittelgruppen bestimmen.
Problem Dienstleistungsfreiheit
Kritisch sehen die Kassen hingegen die Bestrebungen der EU-Kommission, eine Neuregulierung und Vereinheitlichung der europäischen Dienstleistungsmärkte insgesamt vorzunehmen. Grundsätzlich sei eine Harmonisierung der Gesundheitssysteme in der EU zwar weder politisch gewünscht noch ökonomisch sinnvoll, erklärte Pfeiffer. Daher sehe auch der Verfassungsvertrag für Europa keine Änderungen der nationalen Zuständigkeiten vor, sondern verweise auf das Subsidiaritätsprinzip. Allerdings gebe es im Verfassungsvertrag im Bereich der Gesundheits- und Sozialpolitik durchaus Kompetenzerweiterungen: Sie betreffen das Wettbewerbsrecht.
Europäische Gesetze sollen danach Prinzipien und Bedingungen für wirtschaftliche "Dienstleistungen von allgemeinem Interesse" festlegen. Diese neue Regelungsbefugnis der EU im Bereich der Daseinsvorsorge birgt den Spitzenverbänden zufolge Risiken für die hiesigen Steuerungsinstrumente, wie z. B. Festbeträge, Kollektivverträge oder Regelungen des Gemeinsamen Bundesausschusses. Pfeiffer befürchtet: "Im Ergebnis droht eine Atomisierung der Vertragsverhandlungen und eine Verstaatlichung der Leistungsdefinition und damit ein vollkommen verändertes, dem nationalen Entscheidungsprozess in diesen Fragen entzogenes Gesundheitssystems".
Kassen warnen vor europäischer Regelungswut
Die Spitzenverbände sehen das Risiko, dass die Regelungsdichte durch die Kommissionsaktivitäten weiter zunimmt, ohne dass Vorteile für die Patienten und Versicherten zu erwarten wären. Pfeiffer forderte die Bundesregierung als entscheidenden Akteur innerhalb der EU auf, darauf zu achten, dass die nationale Souveränität im Sinne des Subsidiaritätsprinzips erhalten bleibt. Liberalisierungsprozesse sollten zudem stets sorgfältig im Hinblick auf die Auswirkungen für die Versicherten und Patienten analysiert werden.
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