Berichte

Lesmüller-Vorlesung: Unterversorgung mit Arzneimitteln

Am 10. Juli 2003 fand in München zum sechsten Mal die Lesmüller-Vorlesung statt. Im Buchner-Hörsaal des Department Pharmazie der Universität sprach vor über 200 Zuhörern Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Walter Schunack zum Thema "Arzneimittelversorgung in Deutschland Ų quo vadis?" Schunack, Professor emeritus der Freien Universität Berlin und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesapothekerkammer, zeigte die große gesundheitspolitische Brisanz dieser Fragestellung auf. Denn aufgrund vielfacher Arzneimittelunterversorgung entstehen medizinische Folgekosten, die in der Regel wesentlich höher sind als die Kosten einer Arzneimittelversorgung "state of the art".

5 Jahre Lesmüller-Stiftung

Professor Angelika Vollmar, Lehrstuhlinhaberin für Pharmazeutische Biologie und Mitglied des Lesmüller-Stiftungsrates, begrüßte zahlreiche Ehrengäste und freute sich über die Anwesenheit vieler Studenten. Sie würdigte Frau Oberstudiendirektorin Dr. Anni Lesmüller, die im Jahr 1997 diese Stiftung "Zur Förderung der pharmazeutischen Wissenschaft unter besonderer Berücksichtigung des Arzneimittels und der Aufgabenstellung des Apothekers in Vergangenheit und Gegenwart" gegründet hatte.

Dr. Hermann Vogel, Vorsitzender des Stiftungsrates, dankte für die Gastfreundschaft im Buchner-Hörsaal und begrüßte seinerseits die Versammlung, zugleich im Namen des Vorsitzenden des Stiftungsvorstandes, Präsident Johannes M. Metzger. Er wies auf das fünfjährige Bestehen der Stiftung hin und die aus diesem Anlass erschienene Jubiläumsbroschüre.

Diese dokumentiere die Palette der bisherigen Tätigkeiten, z. B. mit dem Vortrag von Prof. Dr. Theo Dingermann "Biologie im Spannungsfeld zwischen Fortschritt und Angst: Eine Herausforderung auch für uns Apotheker" am 11. Juli 2001 im selben Hörsaal. Darüber hinaus soll Jubiläumsbroschüre die Stiftung in weiteren Kreisen der Pharmazie bekannt machen.

Im Vordergrund der Förderaktivitäten stand die Klinische Pharmazie und deren Integrierung in den Lehrbetrieb der Hochschulen. Dr. Vogel wies darauf hin, dass angesichts leerer Staatskassen auch die pharmazeutischen Hochschulfächer zunehmend privater Unterstützung bedürfen, um erfolgreich zu sein.

Mehr Effizienz – aber anders

Professor Schunack skizzierte die derzeitige Arzneimittelversorgung in Europa. Abgesehen davon, dass viele Patienten überhaupt nicht behandelt werden, bleibe festzustellen, dass viele Versicherte Arzneimittel verordnet bekommen, die nicht mehr dem Stand der Wissenschaft entsprechen. Sodann werden sehr oft Arzneimittel, die dem Stand der Wissenschaft entsprechen, wegen des Budgets unterdosiert.

Die Rechtfertigung dieser Praxis mit den hohen Kosten sei falsch. Weder im Gesundheitswesen an sich, noch speziell bei der Arzneimittelversorgung könne man von Kostenexplosionen sprechen. Denn über einen langen Zeitraum hinweg haben die Arzneimittel ungefähr den gleichen Anteil an den Gesamtausgaben für Gesundheit eingenommen. Von 1970 (16,2%) bis 1998 (12,7%) sind die Anteile sogar rückläufig gewesen.

Man könne, so Schunack, den Thesen des Chefberaters der Ministerin Schmidt, Professor Lauterbach (siehe DAZ Nr. 27/2003), durchaus dahingehend recht geben, dass es dem deutschen Gesundheitssystem an Qualität, Effizienz und Gerechtigkeit mangele, allerdings mit anderen Begründungen. Schunack vertrat die Ansicht, dass es falsch sei, sich auf die Einsparpotenziale bei der Substitution durch Generika (1,5 Mrd. Euro), bei der Substitution durch billigere (1,5 Mrd. Euro) oder umstrittene (1,2 Mrd. Euro) Wirkstoffe zu konzentrieren.

Er forderte stattdessen nachhaltigere Präventionsmaßnahmen: Die Bevölkerung müsste das Rauchen aufgeben und Sorge tragen, dass Blutdruck und Blutlipidspiegel reguliert werden. Es müssten intensivere Kontrollen durchgeführt werden, um langfristig gesehen die Ausgaben in den Griff zu bekommen.

Beispiele für die Unterversorgung

Professor Schunack ging auf mehrere wichtige Krankheiten im einzelnen ein. So würden die derzeitigen Gesamtbehandlungskosten für Schizophrenie ca. 5 Milliarden Euro betragen, wovon der Arzneikostenanteil aber nur mit 5% zu Buche stehe. Nur 10% hiervon werde für atypische Neuroleptika ausgegeben. Im Ergebnis erhalten also die weitaus meisten Patienten keine Up-to-date-Behandlung.

Im Bereich Diabetes könnten durch umfangreichere Prävention und mehr Kontrolluntersuchungen die hohen Folgekosten für Amputationen, Dialyse und Infarkttherapie drastisch gesenkt werden. Durch unzureichende Vorsorgeuntersuchungen in der Vergangenheit hätten die deutschen Krankenkassen heute eine immense Belastung. Hier müsse man reagieren und aus alten Fehlern lernen.

Eine generelle Unterversorgung mit innovativen Arzneimitteln sei, nur um Beispiele zu nennen, auch bei den Krankheitsbildern Rheumatoide Arthritis, Multiple Sklerose, Asthma, Epilepsie, Morbus Parkinson zu konstatieren, von den Defiziten bei Schutzimpfungen (Grippe, Pneumokokken, Hepatitis) ganz zu schweigen.

Als weiteres Beispiel nannte Professor Schunack die Lipidsenkung bei Patienten mit Koronarer Herzkrankheit. Nur 23% der Patienten erhalten Statine, 65,5% erhalten keine Lipidsenker.

Laut WHO zählt die Osteoporose zu den zehn wichtigsten Volkskrankheiten. Die Versorgungssituation von Osteoporosepatienten in Bayern und Sachsen ist durch eine wichtige Untersuchung der Bayerischen Apothekerkammer aufgezeigt worden: Nur bei 9% (Bayern) bzw. 15% (Sachsen) der Versicherten deckte die verordnete Menge der Bisphosphonate den Jahresbedarf ab.

Sowohl aus medizinischer als auch aus volkswirtschaftlicher Sicht sei dies ein unverantwortlicher Zustand. Abschließend merkte Schunack an, dass die aktuelle Situation und die von der Regierung geplanten Änderung des GMG nicht vereinbar seien mit dem Versprechen von Bundeskanzler Schröder: "Jeder Deutsche bekommt die Arznei, die er benötigt!"

Transparente Rechnungen

Professor Schunack schloss mit konkreten Verbesserungsvorschlägen der derzeitigen Arzneimittelversorgung. So müsse die Unterversorgung mit Arzneimitteln in die Öffentlichkeit getragen, und der Bedarf an Arzneimitteln, deren Wirksamkeit in Evidenz-basierten Studien nachgewiesen ist, müsse quantifiziert und in den Kostenberechnungen des Gesundheitswesens berücksichtigt werden.

Die Kosten für Arzneimittel müssten regelmäßig denen für vermiedene Krankenhausaufenthalte gegengerechnet, also die Budgets generell den realen Erfordernissen angepasst werden. Neue (innovative) Arzneimittel dürften nicht als finanzielle Bedrohung des Gesundheitssystems angesehen werden, denn sie bieten die Chance, die Lebensqualität der Patienten zu verbessern.

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