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Pharmakoökonomie
A. Petersen25 Jahre Essential Drug List – Das
Die EDL listet nicht nur die Arzneistoffe auf, sondern setzt sie in Beziehung zu einer spezifizierten Darreichungsform, Stärke, Indikation und zum medizinischen Umfeld (z. B. Eignung für dörfliche Gesundheitsstation oder Universitätskrankenhaus).
So wird die Aktivkohle als Antidot genannt, jedoch nicht zur Behandlung von Durchfallerkrankungen. Auch Ampicillin wird nicht generell als unentbehrliches Präparat bezeichnet, sondern nur in der parenteralen Form, da orales Amoxicillin weitaus besser resorbiert wird als orales Ampicillin. Es ist interessant, sich einmal in die Vielfältigkeit und Aussagekraft dieser Arzneimittelliste zu vertiefen.
Die weltweite Arzneimittelsituation
Die wirtschaftlichen Auswirkungen des Arzneimittelgebrauchs sind beträchtlich – besonders in den wirtschaftlich ärmeren Ländern. Während in den Industrieländern weniger als ein Fünftel der gesamten öffentlichen und privaten Gesundheitsausgaben auf Arzneimittel entfällt, müssen Schwellenländer dafür 15 bis 30%, alle anderen Länder 25 bis 66% des Gesundheitsetats bereitstellen.
In den meisten Ländern mit niedrigen Einkommen übersteigen die Ausgaben für Arzneimittel alle anderen Posten des öffentlichen Gesundheitsbudgets, abgesehen von den Personalkosten. Die Ausgaben für die Behandlung schwerer Erkrankungen sind ein Hauptgrund für die Verarmung der Privathaushalte.
Trotz der beträchtlichen Ausgaben für Medikamente und trotz der EDL ist oft der Zugang zu unentbehrlichen Medikamenten nicht gegeben, oder der Gebrauch der Medikamente ist unvernünftig, oder ihre Qualität ist schlecht.
Zugang zu Medikamenten
- Ein Drittel der Weltbevölkerung hat immer noch keinen Zugang zu den unentbehrlichen Medikamenten. In den ärmsten Regionen Afrikas und Asiens ist es jeder zweite Bewohner.
- 50 bis 90% der Medikamente in Entwicklungs- und Schwellenländern müssen bar bezahlt werden. Arme Patienten können sich oft nicht die erforderlichen Medikamente leisten.
- In vielen Ländern, vor allem auch in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, beherrscht eine große Zahl häufig irrational zusammengesetzter Markenpräparate den Privatmarkt. Gesetzliche Vorgaben – wenn überhaupt vorhanden – greifen oft nur wenig, und preisgünstige generische Präparate sind unbekannt.
Rationaler Arzneimittelgebrauch
- Bis zu 75% der Antibiotika werden falsch verschrieben, sogar in Lehrkrankenhäusern wirtschaftlich armer Länder, aber oft auch in Industrieländern.
- Weltweit nehmen im Durchschnitt nur 50% der Patienten ihre Medikamente korrekt ein.
- Die Immunität gegen infektiöse Krankheitserreger nimmt zu, zum Beispiel bei bakterieller Diarrhö, Gonorrhö, Malaria, Lungenentzündung und Tuberkulose.
- Unabhängige Informationen für Mediziner, Pharmazeuten und Verbraucher über den rationalen Gebrauch von Arzneimitteln stehen oft nicht zur Verfügung.
Arzneimittelqualität und -sicherheit
- In weniger als 30% der wirtschaftlich armen Länder wird der Umgang mit Arzneimitteln behördlich geregelt.
- 10 bis 20% der Präparate fallen bei Qualitätskontrollen in vielen Entwicklungsländern durch.
- Versagt das Konzept der guten Herstellungspraxis, kommen leicht auch toxische Produkte in den Markt.
- Mit der Ausbreitung des globalen Handels werden gut funktionierende nationale Kontrolllabors immer wichtiger.
WHO-Arzneimittelpolitik heute
Die Abteilung der WHO, die für das Konzept der unentbehrlichen Arzneimittel, aber auch für Medikamente allgemein zuständig ist, beschäftigt sich mit Problemen des Zugangs, des vernünftigen Gebrauchs und der Qualität von Arzneimitteln (Abb. 1 und 2). Sie will die große Kluft zwischen dem Potenzial, das die unentbehrlichen Arzneimittel bieten, und der Realität, dass Milliarden Menschen sich diese Medikamente nicht leisten können oder in schlechter Qualität erhalten oder nicht korrekt anwenden, überwinden.
Das Konzept der unentbehrlichen Arzneimittel ist zukunftsorientiert. Die WHO aktualisiert regelmäßig die EDL und berücksichtigt dabei therapeutische Innovationen, die epidemiologische Situation (auch bezüglich Resistenzen) und Probleme der Arzneimittelqualität. Hinsichtlich der Kosten-Nutzen-Relation sind die unentbehrlichen Arzneimittel sehr ökonomisch.
Allein in diesem Jahr wird es über 40 Millionen Tote in Entwicklungsländern geben, ein Drittel davon sind Kinder unter 5 Jahren. Zehn Millionen Menschen werden an akuten Infektionen der Atemwege, Diarrhö, Tuberkulose und Malaria sterben, also an Krankheiten, die mit Arzneimitteln therapiert werden können.
Emergency Health Kit
Wie günstig solche Arzneimittel sein können, zeigt das von der WHO mit internationalen Hilfsorganisationen wie DRK und UNICEF entwickelte "Emergency Health Kit". Es besteht aus zehn Sets mit einfachsten Arzneimitteln und Verbrauchsmaterial für die Basisversorgung in kleinen Zentren oder Camps sowie einem Set mit Präparaten und Materialien für die Versorgung durch einen Arzt. Die Mengen sind ausgelegt für die Behandlung von 10 000 Menschen in drei Monaten. Ein Basisset zur Versorgung von 1000 Personen enthält zwölf unentbehrliche Arzneistoffe (Tab. 1). Der Weltmarktpreis dieser 12 000 Tabletten, Salben und Lösungen beträgt 74 Euro.
Erfahrungen der Hilfsorganisationen mit dem Konzept
Aus der Arbeit der Hilfsorganisationen sind die unentbehrlichen Arzneimittel nicht mehr wegzudenken. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass das wahllose Sammeln und Spenden von Arzneimitteln höchst problematisch ist. Deshalb wurden die "Leitlinien für Arzneimittelspenden" erarbeitet, die ja ihrerseits auf dem Konzept der EDL beruhen. Die Anwendung der Leitlinien erleichtert die Übersicht und den rationalen Einsatz von Arzneimitteln und reduziert die Kosten.
Der Zugang zu unentbehrlichen Arzneimitteln hat sich in vielen Ländern langsam verbessert. Zunehmend stehen zentrale Apotheken zur Verfügung, oft verantwortet durch kirchliche oder private Nichtregierungsorganisationen, die Arzneimittel in guter Qualität günstig anbieten.
Durch Naturkatastrophen, (Bürger-)Kriege, bankrotte Staatshaushalte und erhöhten Arzneimittelbedarf wegen der vielen HIV/AIDS-Patienten wird der Aufbau einer langhaltigen stabilen Versorgungsstruktur immer wieder gebremst und zurückgeworfen. Gerade das Konzept der EDL ermöglicht aber in solchen Situationen, sich auf das Wesentliche in der medikamentösen Therapie zu konzentrieren.
Das Konzept hat sich bewährt, und vielerorts liegen sehr positive Erfahrungen vor. Die weitere Verbreitung und Durchsetzung stößt aber immer wieder auf Schwierigkeiten. Was ist zu tun, wenn
- es in afrikanischen Ländern an Geld fehlt für den Druck und die Verbreitung der nationalen Listen und Therapierichtlinien?
- Kommunikations- und Transportprobleme die Verteilung der unentbehrlichen Arzneimittel in ländliche Gebiete verhindern?
- internationale Handelsrechte den Import günstiger Generika verhindern?
- die Hersteller patentgeschützter unentbehrlicher Arzneimittel (gegen HIV/AIDS oder resistente Malaria- und Tuberkuloseerreger) die Preise für wirtschaftlich arme Länder nicht generell senken?
- entbehrliche Präparate so sehr beworben werden, dass auch arme Patienten sie kaufen und die Staaten für deren Import ihre knappen Devisen ausgeben?
Kann Deutschland von dem Konzept lernen?
Die WHO betont immer wieder, dass das Konzept der unentbehrlichen Arzneimittel globale Gültigkeit besitzt, auch in den Industrieländern. Zu den 19 Ländern, die keine nationale Liste der unentbehrlichen Arzneimittel besitzen, zählen vor allem Länder in Europa und die USA. Kanada, Australien – ja auch Schweden und Norwegen besitzen laut aktueller WHO-Übersicht jedoch solch ein Konzept (Abb. 3).
Die Kosten für Arzneimittel werden auch in Deutschland zunehmend zu einem ernsten Problem. Eine kritische öffentliche Diskussion über den Nutzen mancher Präparate ist deshalb angebracht.
Die Idee, den Arzneimittelmarkt kritisch zu durchleuchten und bei jedem Arzneistoff eine auf neuesten pharmakologischen und medizinischen Grundlagen basierende unabhängige Kosten-Nutzen-Analyse durchzuführen, sollte in jedem Gesundheitsministerium höchste Priorität haben. Wir alle kennen die Diskussion über die "in der Wirksamkeit umstrittenen" Präparate (Arzneiverordnungs-Report). Immer noch sind viele Tausend registrierte Präparate im Nachzulassungsverfahren, wo die Hersteller deren Wirksamkeit und Sicherheit zu belegen haben. Hier ist eine Beschleunigung der Entscheidungsfindung wünschenswert.
Die Kommission für die Arzneimittelverordnung hat dem Staatssekretär im Bundesministerium für Gesundheit Ende April 2002 die Positivliste, die mit der Gesundheitsreform 2000 (§ 33 a SGB V) beschlossen worden war, übergeben (mit allen abgearbeiteten Einsprüchen – 700 Aktenordner!). Nach erneuter Anhörung wird sie dem Bundestag und letztlich dem Bundesrat zur Verabschiedung vorgelegt. Diese Positivliste bedeutet zumindest auf dem kassenärztlichen Sektor eine große Annäherung an das Konzept der unentbehrlichen Arzneimittel.
Übrigens existiert eine vergleichbare Positivliste bereits in vielen europäischen Ländern und auch in vielen hiesigen Krankenhäusern.
Zum Konzept der unentbehrlichen Arzneimittel gehört auch der rationale Gebrauch. Jede Analyse des Verschreibungsverhaltens und der Compliance – auch in Deutschland – zeigt erhebliche Mängel auf. Die Fortbildungsveranstaltungen für Ärzte und Apotheker werden nicht selten von Firmen gefördert, die bestimmte Präparate auf den Markt bringen möchten. Unabhängige kritische Informationen, wie sie z. B. die WHO, der Martindale oder auch das ATI in Berlin bieten (monatliches "Arzneimitteltelegramm" und zweijähriges Kompendium "Arzneimittelkursbuch"), sind in Fachkreisen kaum bekannt. Auf diesem Gebiet besteht auch in Deutschland Handlungsbedarf.
Fazit
Die Liste der unentbehrlichen Arzneimittel der WHO beruht auf dem Konzept einer preisgünstigen und wirksamen Arzneimittelversorgung, die die wichtigsten Krankheiten abdeckt, und hat sich weltweit bewährt. Weltweit besteht aber auch nach 25 Jahren weiter ein großer Handlungsbedarf zur Verbesserung der Arzneitherapie, denn vielerorts stehen die wichtigsten Präparate entweder gar nicht oder überteuert oder nur in minderer Qualität zur Verfügung.
In Deutschland haben sich alle Institutionen, die in der Entwicklungszusammenarbeit tätig sind, dieses Konzept zu eigen gemacht. Es könnte aber auch Anregungen geben, manche Probleme des Arzneimittelsektors hier bei uns zu lösen.
Kastentext Das Konzept in Kürze
Unentbehrliche Arzneimittel sollen
- den Gesundheitsbedürfnissen der Bevölkerungsmehrheit entsprechen,
- zu jeder Zeit in ausreichender Menge vorhanden sein,
- in geeigneter Darreichungsform vorliegen,
- zu Preisen erhältlich sein, die sich sowohl der Einzelne als auch die Gemeinschaft leisten kann.
Wenige sorgfältig ausgewählte unentbehrliche Arzneistoffe verbessern die Gesundheitsversorgung, vereinfachen den Umgang mit Arzneimitteln in allen Bereichen vom Einkäufer bis zum Verbraucher und reduzieren die Preise.
Das Konzept der unentbehrlichen Arzneimittel konzentriert sich auf medikamentös behandelbare Krankheiten. Derzeit hat mehr als ein Drittel der Menschheit immer noch keinen Zugang zu diesen lebensrettenden Präparaten.
Nicht alle Arzneimittel, die entbehrlich sind, sind deshalb auch nutzlos. Viele Arzneimittel werden zur Gesundheitserhaltung eingesetzt und haben dort einen berechtigten Platz, sofern der Kosten-Nutzen-Faktor stimmt. Dieser Faktor muss dann allerdings auch die Komponente der nichtmedikamentösen Gesundheitserhaltung in die Analyse mit einbeziehen.
Kastentext Geschichte der Essential Drug List (EDL)
1972 Die WHO beauftragt eine Kommission, eine EDL zu erarbeiten. 1977 Die WHO stellt die erste EDL vor. 1981 Die WHO gründet das "Drug Action Programme" (DAP), um die Akzeptanz der EDL in den einzelnen Ländern zu fördern. 1989 Gründung des "Internationalen Netzwerks zum rationalen Medikamentengebrauch" (INRUD). 1989 14 Länder verabschieden eine nationale Arzneimittelpolitik. 1989 113 Länder erstellen nationale Listen der unentbehrlichen Arzneimittel (NEDL). 1997 88 Länder haben eine nationale Arzneimittelpolitik. 1998 141 (von181) Ländern haben eine NEDL. 2001 Die WHO benennt das "Drug Action Programme" um in "Department of Essential Drugs and Medicines Policy" (EDM). 2002 156 Länder haben eine NEDL, ein Drittel davon haben sie innerhalb der letzten zwei Jahre überarbeitet, drei Viertel innerhalb der letzten fünf Jahre. Das zeigt, dass die Listen aktiv genutzt und laufend den aktuellen Erfordernissen angepasst werden. 19 Länder besitzen noch keine NEDL, dies trifft vor allem auf die industrialisierten Nationen zu. Bei 16 Ländern ist der Status unbekannt. 2002 April: Die WHO veröffentlicht die 12. EDL mit 325 Wirkstoffen, darunter 12 antiretrovirale Präparate sowie 60 Präparate, die bei HIV/AIDS und Folgeerkrankungen benötigt werden. 2002 September: Inbetriebnahme einer umfangreichen wissenschaftlichen Internet-Datenbank zu jedem einzelnen der in der EDL genannten Arzneistoffe.
Kastentext Internet
WHO: www.who.int/medicines Zwölfte Liste der Unentbehrlichen Arzneimittel: www.who.int/medicines/organization/par/edl/eml WHO Datenbank: www.who.int/medicines%20/organization/par/formulary/ Arzneimittelspenden: www.drugdonations.org/ DIFÄM-Arzneimittelhilfe: www.difaem.de/
Vor 25 Jahren veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation WHO ein Verzeichnis der unentbehrlichen Arzneimittel, die Essential Drug List (EDL). Ihr liegt das Konzept zugrunde, dass eine relativ kleine Anzahl sorgfältig ausgewählter Arzneistoffe die Gesundheitsversorgung einfacher und preiswerter macht. Die EDL ist also eine Positivliste im doppelten Sinne des Wortes. Das Konzept war insbesondere für Entwicklungsländer hilfreich und wird nahezu weltweit angewandt – mit Ausnahme der hochentwickelten Industrieländer; vielleicht könnten aber auch diese von dem EDL-Konzept profitieren.
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