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Lebenslügen der Gesundheitspolitik
Zwei der hier herausgegriffenen Zumutungen betreffen das Gesundheitswesen insgesamt, zwei beziehen sich auf den Arzneimittelsektor.
Der Begriff der "Kostenexplosion" geht zurück auf Heiner Geißler, damals Sozialminister in Rheinland-Pfalz, und den Sozialmediziner Hans Schaefer. Seit Mitte der 70er Jahre manipuliert dieser Begriff den Blick auf die realen Verhältnisse im Gesundheitswesen - ein Syndrom chronischer Täuschung. Die Wirklichkeit ist:
- Im Gesundheitswesen gab es und gibt es keine "Kostenexplosion". Das Wachstum der Gesundheitsausgaben verläuft seit 1975/76 weitgehend parallel zum Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (Abb. 1). Von 1975 bis zum Zusammenschluß der beiden deutschen Staaten wurden in den alten Bundesländern konstant rund 8.5% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für die Gesundheitsversorgung ausgegeben. Damit lag die Bundesrepublik ziemlich genau im EU-Durchschnitt.
- Richtig ist, dass es einerseits zwischen 1970 und 1975 und andererseits nach der Wende Sonderentwicklungen gegeben hat. Sie haben aber nichts mit ausufernden oder gar explodierenden Kosten zu tun.
Anfang der 70er Jahre (Abb. 1) hat die sozialliberale Koalition neben einer (teuren!) Neuordnung der Krankenhausfinanzierung (Einführung der sogenannten kostendeckenden Pflegesätze) neue Leistungen (z. B. Zahnersatz) in die GKV eingeführt und den Kreis der Versicherten um Gruppen erweitert, die volle Leistungen erhielten, aber nur wenig an Beiträgen beisteuerten (Bauern, Studenten, Behinderte). Der Kostenanstieg war politisch induziert und gewollt, er war verständlich. Ich denke sogar: die politischen Entscheidungen, die dahinter standen, waren weitgehend richtig.
ŠAuch nach dem Zusammenschluß der beiden deutschen Staaten gab es keine Kostenexplosion, wenn man z. B. die Pro-Kopf-Ausgaben für Gesundheit betrachtet. Aber es sank nun das gesamtdeutsche Pro-Kopf-BIP, weil die neuen Länder - wie sollte es anders sein - nach dem Vereinigungsboom zunächst nicht in dem Maße zum BIP beitragen konnten, wie dies ihrem Bevölkerungsanteil entspricht. Dadurch und nur dadurch (Abb. 2) stieg der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP um rund einen Prozentpunkt - von knapp 8,5% auf inzwischen rund 9,5%. Mit Kostenexplosion hat das nichts zu tun! Im Westen allein fiel der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP zwischen 1980 und 1990 sogar geringfügig von 8,4% auf 8,3%. Bis 1994 gab es dann eine Steigerung von 8,4 auf 8,8 Prozent. Ähnliche Steigerungen sind bei jeder Konjunkturflaute zu beobachten. Selbst bei stagnierenden Ausgaben (Kosten) steigt dann als Folge des zurückbleibenden BIP-Wachstums der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP.
ŠAbb. 2 zeigt übrigens auch, dass die deutsche Position im internationalen Vergleich völlig undramatisch ist. Unsere Quote Gesundheitsausgaben/BIP ist weniger als fast überall gestiegen. Das gilt besonders und bis heute, wenn man den Blick durchgängig auf die alten Bundesländer richtet - also nur vergleicht, was wirklich vergleichbar ist. Die Quote Gesundheitsausgaben/BIP ist dort von 1980 bis 1994 nur um 0,4%-Punkte angewachsen. Dieser geringe Anstieg ist allein schon deshalb bemerkenswert, weil die in allen Industrieländern durchschlagende Leistungsexplosion (eine Folge des medizinisch-pharmazeutischen Fortschritts) im Gesundheitswesen in der Bundesrepublik eher stärker als schwächer spürbar war - zum Nutzen der Patienten.
Die Beitragssätze allerdings sind trotz ausgebliebener Kostenexplosion seit den 70er Jahren sehr wohl gestiegen. Das verwundert nicht. Denn die Beiträge spiegeln das Verhältnis von Einnahmen zu Ausgaben wieder. Die Beitragssätze mussten steigen, weil auf der Einnahmeseite die Luft für die GKV immer dünner wurde. Das ist - jenseits konjunktureller Höhen und Tiefen - ein Trend, der unvermeidbar war und, wenn sich nicht wesentliches ändert, auch anhalten wird. Hintergrund ist: Die Beitragseinnahmen sind in der GKV an den Faktor Arbeit gebunden. Wenn Arbeit aus Wettbewerbs- und/oder Kostengründen jedoch zunehmend durch Kapital - Maschinen, Automaten, Wissen - ersetzt werden muß, wenn das BIP also immer mehr durch Kapitaleinsatz und immer weniger durch Arbeit erwirtschaftet wird (ohne dass die Zahl der zu versorgenden Versicherten sinkt), dann müssen die Beiträge auch ohne jede Kostenexplosion zwangsläufig steigen. Deutschland als Land mit höchsten Produktivitätssteigerungen steht da unter besonderem Druck.
Fazit: Wir haben in der gesetzlichen Krankenversicherung ein Finanzierungsproblem, das mit zurückbleibenden Einnahmen zu tun hat. Das hat unlängst mit bemerkenswerter Nachdrücklichkeit auch der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Rudolf Dreßler vor dem Bundestag herausgearbeitet. Faktum ist: Wir haben kein Problem mit explodierenden Ausgaben.
Es geht deshalb an den Realitäten vorbei und ist schlicht eine Zumutung, wenn immer wieder versucht wird, die Probleme des Gesundheitswesens durch Druck auf die Leistungserbringer (mit besonderem Akzent auf den Arzneimittelsektor) zu lösen. Hier liegt nicht der Grund der Probleme, hier findet man deshalb auch nicht den Schlüssel zu ihrer Lösung.
Nachdem auch er lange von nicht endenden Rationalisierungsreserven geträumt hatte, hat Ex-Gesundheitsminister Seehofer in seiner Spätzeit als Gesundheitsminister eingesehen, dass mehr Geld ins System muss, wenn die erst versteckt, inzwischen aber immer offener praktizierte Rationierung zumindest gebremst werden soll. Selbst wenn andere Politiker dieser Einsicht allenfalls zähneknirschend zustimmen wollten (die meisten Gesundheitspolitiker können sich nicht einmal dazu durchringen), bleibt allemal die Frage, ob Seehofers Lösungsweg richtig war. Er erhöhte, weil er für bessere Alternativen auch in seiner eigenen Fraktion keine Mehrheit fand, die Selbstbeteiligung - und zwar so drastisch, dass er damit der damaligen Opposition ein wesentliches Fundament für ihren fulminanten Wahlsieg legte. Es wäre nicht nur taktisch klüger, sondern vor allem auch konsequenter gewesen, die Finanzierung des Gesundheitswesens nicht mehr länger allein an den Faktor Arbeit anzubinden, die Beitragsbasis also zu verbreitern. Ob die neue Koalition sich hierzu durchringen wird, wenn sie ihre ersten Lektionen gelernt hat?
Diese Leier wird immer wieder auch von führenden Wirtschaftsverbänden und ihren Repräsentanten gespielt. Es wird suggeriert, hier bestünde dringender Handlungsbedarf - eine Luftblase, wie sich bei näherem Hinsehen zeigt. Das haben Braun, Kühn und Reiners - Autoren, die eher dem linken Lager zuzurechnen sind - überzeugend vorgerechnet [1].
Unternehmen, die exportieren, gehören in der Regel zum produzierenden oder verarbeitenden Gewerbe. In solchen Unternehmen liegen die Arbeitskosten inklusive Lohnnebenkosten unter 30% (27,1% laut Statistischem Bundesamt) der Gesamtkosten. Circa 4% davon kommen aus der Belastung der Unternehmen mit Beiträgen zur Krankenversicherung. Der GKV-Beitrag macht also gut 1% der Kosten produzierender Unternehmen aus (4% von 27,1%).
- Eine 10%ige, also durchaus heftige Erhöhung des Krankenversicherungsbeitrages (z. B. von 13,0 auf 14,3%) würde also die Kosten solcher Unternehmen um 1 Promille (10% von 1%) erhöhen. Ein Produkt, das vorher 1000 DM kostete, müsste demnach nach einer 10%igen Erhöhung der Krankenkassenbeiträge 1001 DM kosten. Dass daran ein Exportgeschäft oder der geplante Kauf eines Investitionsgutes scheitern könnte - das dürfte allenfalls in einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht vorkommen, nicht aber in der Wirklichkeit.
- Die 10%ige Erhöhung des KV-Beitrages ließe im Gesundheitswesen zudem 2,5 mal mehr Arbeitsplätze entstehen, als bei pessimistischer Schätzung durch die Erhöhung der Lohnnebenkosten im verarbeitenden Gewerbe verloren gehen könnten - so hat der Sachverständigenrat der Konzertierten Aktion 1996 vorgerechnet. Im Saldo entstünden 125 000 zusätzliche Arbeitsplätze. Warum also die künstliche Aufregung! Warum die alte Leier von den durch die GKV-Beiträge in gefährliche Höhen getriebenen Lohnnebenkosten?
- Die Klage der Wirtschaftsverbände über gefährlich drückende Lohnnebenkosten hinterläßt im übrigen einen eigenartigen Beigeschmack, wenn man sich klar macht, dass der wesentliche Teil der Lohnnebenkosten auf freiwilligen Vereinbarungen zwischen den Tarifpartnern beruht. Nur gut 20% der Arbeitskosten im produzierenden Gewerbe folgen überhaupt aus gesetzlichen Vorgaben, nur rund 13% steht im Zusammenhang mit gesetzlich vorgegebenen Sozialversicherungsbeiträgen. Mehr als 55% der Lohnnebenkosten sind tariflich oder betrieblich vereinbart, fielen also ohne Zustimmung der Arbeitgeber nicht an [2].
Diese Leier spielten praktisch alle für Gesundheit und Krankenkassen zuständigen Minister und auch viele selbsternannte Arzneimittelexperten - mit besonderer Erregung in der Stimme ließ sich dazu Arbeitsminister Blüm vernehmen.
Richtig ist, dass Deutschland auch hier eher im Mittelfeld lag und liegt. Die Franzosen z. B. verbrauchen etwas mehr als 11/2 mal so viel Arzneimittel wie die Deutschen. Und nicht nur beim Verbrauch, auch bei Arzneimittelausgaben muß Deutschland sich nicht verstecken. Nach Daten der OECD für 1997 liegt Deutschland beim Anteil der Arzneimittelausgaben an den Gesundheitsausgaben bei 12,6% (Abb. 3). Nur Australien (11,4%), die Niederlande (11,1%) und die USA liegen darunter - die USA deshalb, weil die gesamten Gesundheitsausgaben (als Anteil am BIP) dort deutlich höher sind als in allen anderen Ländern. Absolut gesehen liegen die Ausgaben pro Kopf für Arzneimittel in den USA etwa auf westdeutschem Niveau. In Belgien liegt der Anteil der Arzneimittelausgaben an den Gesundheitsausgaben bei 18,4%, in Frankreich bei 16,7%, in Italien bei 19,4%, in Spanien bei 20,7%, in Großbritannien bei 17,3% - Deutschland liegt, wie gesagt, bei 12,6% [3].
Richtig ist, dass unsere Handelsspannen (Abb. 4) weder im internationalen Vergleich noch im Vergleich mit anderen Branchen (Abb. 5) aus dem Rahmen fallen.
Richtig ist aber vor allem, dass sich die Wertschöpfung der Apotheken aus GKV-Ausgaben für Arzneimittel im Vergleich zu anderen GKV-Bereichen schon weit vor und auch nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten unterdurchschnittlich entwickelt hat. Sie orientierte sich (Abb. 6 und Abb. 7) weitgehend am Bruttoinlandsprodukt - politisch und volkswirtschaftlich also geradezu ein ideales Ergebnis der 1978 eingeführten, degressiv gestaffelten staatlichen Spannenregelung durch die Arzneimittelpreisverordnung.
Betriebswirtschaftlich hat die Arzneimittelpreisverordnung - dosiert, aber kontinuierlich - sowohl die Apotheken als auch den Pharmagroßhandel zu massiven Rationalisierungsanstrengungen gezwungen. Die ursprünglich vor allem gesundheitspolitisch legitimierte Arzneimittelpreisverordnung war offensichtlich so intelligent und weitsichtig konstruiert, dass sie trotz administrierter Spannen und einheitlicher Verbraucherpreise hervorragenden Ergebnis geführt hat.
Die Ausgaben für viele andere Bereiche des Gesundheitswesen sind doppelt so stark gestiegen wie die Aufwendungen für den Apotheken- (und Großhandels-)Sektor. Hier hätte die politische Kritik anzusetzen. Es gäbe trotz schwindender Einnahmebasis kein Finanzierungsproblem in der GKV, wenn die anderen Bereiche ähnlich bescheiden gewachsen wären wie der Apothekensektor. Selbst die Pharmaindustrie hat mehr zugelegt als Apotheken und Großhandel - sichtbar schon daran, dass die Arzneimittelausgaben deutlich stärker als die Wertschöpfung von Großhandel und Apotheken gestiegen ist. All das gilt für die Jahrzehnte vor 1990 (Abb. 6), aber auch für die Zeit seit der Wende (Abb. 7).
Besonders auffällig ist übrigens, dass die Verwaltungsausgaben der Krankenkassen bei den Steigerungsraten in der Regel immer ganz oben oder zumindest in der Spitzengruppe lagen. Das ist bemerkenswert vor dem Hintergrund des nicht endenden Versuches der Krankenkassen, sich als Kritiker der Ausgabensteigerungen in allen anderen Leistungsbereichen zu Wort zu melden. Die Krankenkassen reden über alle Leistungsbereiche im Gesundheitswesen - nur ihren eigenen Sektor, die Verwaltungskosten, sparen sie in der Regel aus. Das ist angesichts der Steigerungsraten in diesem Bereich reichlich unverfroren. Die Krankenkassen sind Leistungsanbieter nicht anders als zum Beispiel die Apotheker oder Ärzte. Aus dem Beitragskuchen erhalten sie für ihre Leistung, die Verwaltung, ein Stück (5,5%), das inzwischen fast doppelt so groß ist wie das Stück für die Apotheken (rund 2,8%). Warum lassen die anderen Sektoren des Gesundheitswesen eigentlich durchgehen, dass sich die Kassen in der Öffentlichkeit als die eigentlichen Sachwalter der Patienteninteressen darstellen? Sie sind es nicht, sie sind es jedenfalls nicht mehr als z. B. die Apotheken, die Ärzte oder die Krankenhäuser. Den Krankenkassen sind Eigeninteressen nicht weniger als allen anderen Sektoren zu unterstellen.
Es ist ein Ärgernis, dass es uns nicht gelingt, all diese Zusammenhänge deutlich zu machen. Wir haben uns zu fragen, woran das liegt.
Es ist jedenfalls auffällig, dass im Gesundheitswesen nun schon seit Jahrzehnten die gleichen alten Platten aufgelegt werden, Platten mit den gleichen alten Märchen und Irrtümer der Gesundheitspolitik. Große Teile der Medien und des Publikums merken davon nichts. Warum?
- Vielleicht weil die, die es besser wissen oder wissen müssten, der Wiederholungen überdrüssig und müde geworden sind?
- Vielleicht weil die, die es besser wissen müssten, der Propaganda zum Teil selbst erlegen sind?
- Vielleicht weil die, die es besser wissen müssten, nicht entschieden genug widersprechen?
"Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt" - das war einmal ein Slogan der Protestgeneration. Der Slogan hat auch heute noch seinen Charme. Ihn zu beherzigen, kann gesundheitspolitisch zur Überlebensfrage werden.
Literatur
[1]Braun, Kühn, Reiners: Das Märchen von der Kostenexplosion, Fischer Verlag 1998.
[2]Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen: Gesundheitversorgung und Krankenversicherung 2000, Nomos-Verlagsgesellschaft 1994; Eigene Berechnungen.
[3]Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. 1. 1999.
Lohnnebenkosten, Wettbewerb, Distribution, Arzneimittel, Bruttoinlandsprodukt, Pharmaindustrie, Großhandel
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