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Kinder müssen ein Recht auf geprüfte Medikamente haben

GÖTTINGEN (ms). Kinder sind keine Miniaturausgaben von Erwachsenen. Es ist daher gefährlich, die Dosierung von Arzneimitteln für Kinder nach der Dosis für Erwachsene zu berechnen. Nur klinische Studien mit Kindern könnten zu einer sicheren und wirksamen Arzneimitteltherapie führen. Sie fehlen jedoch in den meisten Fällen, weil sie für viele Eltern und Ärzte ein Tabu sind. Im Interesse der Kinder muss dieses Tabu durch sachliche Aufklärung und politischen Willen gebrochen werden. Wie Erwachsene sollten auch Kinder ein Recht darauf haben, nur mit geprüften Arzneimitteln behandelt zu werden. Das war das Ergebnis einer wissenschaftlichen Tagung des Kollegiums der Medizinjournalisten, die am 20. November 1999 an der Universitätsklinik in Göttingen unter der Leitung von Frau Maria-E. Lange-Ernst stattfand.

Therapeutische Sicherheit fehlt

Nur etwa 5 Prozent der Medikamente, die bei Kindern eingesetzt werden, sind auf ihre Wirksamkeit und ihre Nebenwirkungen hin wissenschaftlich geprüft worden, sagte Prof. Dr. Bürsch, der Leiter der Pädiatrischen Kardiologie an der Universität Göttingen. Trotz schwerer Zwischenfälle wie dem Tod mehrerer Säuglinge nach der Gabe von Chloramphenicol im Jahr 1960 sind noch keine Konsequenzen für die Arzneimittelbehandlung von Kindern gezogen wurden. Dabei ist lange bekannt, dass Arzneimittel wegen der besonderen Stoffwechselbedingungen beim Kind anders wirken als beim Erwachsenen. Obwohl kontrollierte Arzneimittelstudien zu höherer therapeutischer Sicherheit führen könnten, wurden in den letzten 40 Jahren fast keine solche Studien mit Kindern durchgeführt.

Öffentlichkeit ist skeptisch

Während Eltern von schwerkranken Kindern meist bereit sind, ihre Kinder an klinischen Studien teilnehmen zu lassen, weil sie auf einen Fortschritt in der Therapie hoffen, fehlt eine solche Bereitschaft oft bei Eltern von gesunden Kindern. Der verständliche Wunsch, das eigene Kind nicht unnötig durch Versuche zu belasten, ist stärker als die Einsicht, dass die Ergebnisse solcher Studien vielleicht anderen Kindern helfen können, die krank sind und Medikamente benötigen.

In Deutschland ist die Individualethik eben stärker ausgeprägt als die moralische Verpflichtung, sich für den Mitmenschen zu engagieren. Die Öffentlichkeit reagiert meist skeptisch und manchmal sogar aggressiv auf das Thema Arzneimittelforschung beim Kind. Die zunehmende Aufklärung über medizinische Zusammenhänge in den Medien sowie verbesserte Methoden in der Medizin haben zumindest dazu geführt, dass einige Gesellschaftsgruppen ihre Voreingenommenheit gegenüber klinischen Studien abgelegt haben.

Eine Frage des Geldes

In Deutschland leben 16 Millionen Kinder, eine im Vergleich zu den Erwachsenen kleine Gruppe. Markwirtschaftliche Gesetze sind eine wesentliche Ursache dafür, dass klinische Studien mit Kindern fehlen, meinte Prof. Dr. Hannsjörg Seyberth, Leiter der Universitätskinderklinik in Marburg. Weil die pharmazeutische Industrie profitorientiert sein muss, die Gewinnaussichten mit Arzneimitteln für Kinder wegen der hohen Entwicklungskosten und der geringen Zahl potentieller Patienten gering sind, zeigen nur wenige pharmazeutische Unternehmen ein Interesse daran, spezielle Präparate für Kinder zu entwickeln. Dazu kommt laut Seyberth noch ein Mangel in der Ausbildung von Ärzten, denn viele Mediziner sind bezüglich der Pharmakotherapie "unterbelichtet" und betrachten das Fach Klinische Pharmakologie als eine Luxusdisziplin in der Pädiatrie.

Keine Linearität vom Säugling zum Erwachsenen

Frühgeborene, Neugeborene, Kinder und Jugendliche unterscheiden sich hinsichtlich Anatomie, Physiologie, Pathophysiologie und Psychologie von den Erwachsenen, erklärte Seyberth. So ist zum Beispiel bei Neugeborenen die Aufnahme von Arzneimitteln in den Körper verzögert und ihre Verweildauer durch eine verringerte Ausscheidung durch Leber und Niere erhöht.

Es ist nicht möglich, die Arzneimitteldosis für Kinder von der Erwachsenendosis herunterzurechnen, denn in der Entwicklung vom Säugling zum Erwachsenen gibt es keine Linearität hinsichtlich der Metabolisierung von Arzneimitteln. Während Kinder vom 1. bis zum 15. Tag nur geringe Wirkstoffmengen vertragen, benötigen Kinder vom 1. bis zum 24. Monat, die sich in einer starken Wachstumsphase befinden, vergleichsweise hohe Wirkstoffmengen.

Kinder sind "vulnerable" Gruppe

Das Spektrum moralischer Probleme bei der klinischen Forschung mit Kindern stellte Prof. Dr. Wiesemann vor, die Leiterin der Abteilung für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Göttingen. Nach § 40 Abs. 4 Satz 2 des Arzneimittelgesetzes ist die klinische Prüfung bei Minderjährigen nur dann erlaubt, wenn ein möglicher Nutzen für das in den Versuch einbezogene Kind besteht. Dabei findet eine Abwägung statt, die das Wohl des einzelnen Kindes im Zusammenhang mit dem Wohl aller Kinder sieht.

Die Gesetze in Deutschland sind bei Kindern restriktiv, weil man Kinder zu den "vulnerablen" also verletzlichen Gruppen zählt, die leicht von der Forschung missbraucht werden können. Da Kinder keine "informierte Zustimmung" zu klinischen Studien geben dürfen, müssen die Eltern anstelle ihrer Kinder eine solche Zustimmung erteilen. Auch die Eltern sind in dieser Situation oft verletzlich.

Ethikkommissionen schützen die Patienten

Seit über 20 Jahren gibt es in Deutschland Ethikkommissionen, die verschiedene Aufgaben erfüllen. Sie dienen in erster Linie dem Schutz des Patienten, aber auch dem Schutz des Forschers vor seinem eigenen Forschungsdrang. In der Praxis begutachtet die Ethikkommission das Design einer Studie, die Nutzen-Risiko-Relation und die Art und Weise, wie die Patienten aufgeklärt werden. Der Ethikkommission muss ein schriftliches Formular vorgelegt werden, mit dem die Eltern in sachlicher Sprache über alle Aspekte des Forschungsvorhabens informiert werden.

Zusätzlich muss mit den Eltern und gegebenenfalls auch mit dem Kind ein Gespräch geführt werden. Oft entscheidet sich erst durch dieses Gespräch, ob die Eltern ihre Zustimmung zu einer klinischen Studie mit ihren Kindern erteilen. Ist das Kind schwerkrank und hoffen die Eltern von der Studie eine Besserung für ihr Kind, so können die Eltern oft nicht wirklich frei entscheiden. In dieser Situation können Elterngruppen helfen, die ähnliche Erfahrungen gesammelt haben. Das Ziel ist es, die Eltern zu emanzipieren und sie zu gleichwertigen Partnern des Arztes zu machen.

Forschung nur zu therapeutischen Zwecken

Vor einer Studie muss der Versuchsleiter für die Teilnehmer eine Nutzen-Risiko-Berechnung anstellen. Bei klinischen Studien mit Kindern ist die Unterscheidung von therapeutischer und nichttherapeutischer Forschung von Bedeutung, denn letztere ist nicht zulässig in Deutschland. In der Praxis stellt sich jedoch häufig das Problem, dass sich therapeutische und nichttherapeutische Forschung nicht genau unterscheiden lassen. Placebokontrollierte Studien mit Kindern sind strenggenommen unzulässig, denn die Placebogruppe erhält keinen Wirkstoff und wird demnach nicht therapiert.

Um nichttherapeutische Forschung zu rechtfertigen, hat man den Begriff des minimalen Risikos eingeführt. Dieses Risiko entspricht dem Risiko, dem Kinder in ihrem Alltag ausgesetzt sind. Umstritten ist in der Ethik allerdings, ob man mit dem Begriff des relativen Risikos jede Form von Missbrauch in der Forschung verhindern kann.

Politik ist gefordert

Erika Mann, SPD-Politikerin und Mitglied des EU-Parlaments, vertrat die Ansicht, das Problem mit klinischen Studien bei Kindern lasse sich nur auf politischer Ebene lösen. Es komme darauf an, europaweit gesetzliche Regelungen zu beschließen. Da das EU-Parlament, dem Frau Mann angehört, keine Gesetzesinitiative hat, will man die EU-Kommission dazu bringen, entsprechende Schritte einzuleiten. Dies sei jedoch, so Mann, ein langwieriger Prozess, da für viele Politiker klinische Tests an Kindern noch immer ein Tabu bedeuten.

Manchmal brauchen Kinder eine höhere Dosis als Erwachsene

Über die Bedeutung der Klinischen Pharmakologie für die Pädiatrie referierte Frau Dr. Stephanie Läer vom Hamburger Universitätskrankenhaus Eppendorf. Die Pharmakokinetik spielt in der Pädiatrie eine große Rolle, denn mit ihr kann man die für ein Kind notwendige Arzneimitteldosis errechnen. Diese Dosis weicht oft erheblich von der Dosis ab, die sich ergibt, wenn man die Kinderdosis aus der Erwachsenendosis berechnet.

Ein 5 Monate alter Patient mit Vorhoftachykardien wurde zunächst ohne Erfolg mit einer vermeintlich hohen Dosis des Betablockers Sotalol therapiert, nämlich 5,5 mg pro kgKG. Eine ähnlich hohe Dosis führt nämlich bei einem 35-jährigen Patienten zu Plasmakonzentrationen von Sotalol, die oberhalb des therapeutischen Bereichs liegen. Ein Plasmakonzentrations-Zeitprofil, das bei dem 5 Monate altem Kind angefertigt wurde, ergab, dass die Plasmakonzentration von Sotalol zu gering für den gewünschten therapeutischen Effekt war. Erst durch eine Erhöhung der Sotaloldosis auf 7,9 mg pro kgKG konnten die Vorhoftachykardien erfolgreich behandelt werden. Die Ursache des erhöhten Bedarfs an Sotalol liegt hier in der gesteigerte Eliminationsgeschwindigkeit des Wirkstoffs bei Kindern vom 1. bis zum 24. Monat.

PK/PD Modeling

Die Wirkung eines Arzneimittels ergibt sich durch die Konzentration am Wirkort. Die Pharmakodynamik eines Arzneimittels wird von der Pharmakokinetik beeinflusst. In den letzten Jahren hat sich in den USA eine junge Wissenschaft etabliert, die eine Beziehung herstellt zwischen der Pharmakokinetik und der Pharmakodynamik. Diese Wissenschaft heißt pharmakokinetisches/pharmakodynamisches Modeling (PK/PD-Modeling) und fragt nach der Beziehung zwischen der Plasmakonzentration eines Arzneistoffs und seiner Wirkung.

An der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf wird ein solches PK/PD-Modeling an Kindern durchgeführt, die infolge einer Herzmuskelschwäche mit dem Betablocker Carvedilol behandelt werden, was zu einer Reduzierung der Herzfrequenz führt.

Mathematische Modelle sind notwendig

Bei einem 1-jährigen Kind, das Carvedilol gegen die Herzmuskelschwäche erhalten hat, wurde die Plasmakonzentration gemessen und eine Plasmakonzentrations-Zeitkurve erstellt. Gleichzeitig hat man bei dem Kind auch die Herzfrequenz gemessen. Es fällt auf, dass der Zeitpunkt der maximalen Plasmakonzentration nicht übereinstimmt mit dem Zeitpunkt der maximalen Wirkung (Frequenzsenkung).

Pharmakokinetische Zeitpunkte (zum Beispiel die maximale Plasmakonzentration) und pharmakodynamische Zeitpunkte (zum Beispiel die maximale Wirkung) lassen sich nicht unmittelbar verknüpfen, sondern müssen mit Hilfe mathematischer Modelle zusammengebracht werden. Als Ergebnis der mathematischen Berechnung erhält man eine Kurve, die der hypothetischen Konzentration des Wirkstoffs im Effektkompartiment entspricht.

Die maximale Konzentration im Effektkompartiment fällt nun zusammen mit dem Zeitpunkt der maximalen Wirkung. Solche PK/PD-Modelings werden mit Kindern in verschiedenen Altersgruppen gemacht. Besonders bei Kindern ist das PK/PD-Modeling eine wichtige neue Methode, um optimale Therapieergebnisse zu erzielen.

Unblutige Messung möglich

Für das PK/PD-Modeling muss man unter anderem Plasmakonzentrationen messen. Die dafür erforderliche Blutentnahme ist bei Kindern zum Teil höchst problematisch. In Hamburg-Eppendorf wendet man daher zur Messung der Plasmakonzentration eine Dialysetechnik an, die mit sehr kleinen Sonden arbeitet. Eine solche Mikrodialyse-Sonde wird wie eine Verweilkanüle in das Blutgefäß eingeführt. Man muss also nicht mehrmals stechen. An der Sonde ist eine Pumpe befestigt, über die eine Perfusionsflüssigkeit in die Sonde gelangt. Durch die Dialysemembran erfolgt ein Austausch zwischen der Dialyseflüssigkeit und dem Plasma, das den zu messenden Arzneistoff enthält. Blutzellen können die Dialysemembran nicht durchdringen.

Fazit

Es ist unverantwortlich, dass Kinder in einer Vielzahl von Fällen mit Medikamenten behandelt werden, die an Kindern niemals geprüft worden sind. Dieser Missstand kann nur durch politische Aktivitäten behoben werden. Da klinische Studien teuer sind, sollte die Politik die gesetzlichen Grundlagen schaffen, dass diese klinischen Studien mit Kindern durchgeführt werden müssen. Die 16 Millionen Kinder in Deutschland sollten hinsichtlich der Sicherheit von Arzneimitteln dasselbe Recht haben wie Erwachsenen.

Kinde sind keine Miniaturausgaben von Erwachsenen. Es ist daher gefährlich, die Dosierung von Arzneimitteln für Kinder nach der Dosis für Erwachsene zu berechnen. Wie Erwachsene sollten auch Kinder ein Recht darauf haben, nur mit geprüften Arzneimitteln behandelt zu werden. Das war das Ergebnis einer wissenschaftlichen Tagung des Kollegiums der Medizinjournalisten.

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