Feuilleton

Arzneimittelgeschichte: Schlafkuren in der Psychiatrie und ihr Missbrauch für d

Schlafkuren durch Verabreichung von Barbituraten erschienen vielen Psychiatern in den 20er und 30er Jahren als Mittel der Wahl zur Behandlung schizophrener Patienten. Im Zweiten Weltkrieg wurde daraus ein Behandlungsschema abgeleitet, das gezielt einen scheinbar natürlichen Tod der Patienten herbeiführte - trauriges Beispiel für die Perversion der Medizin im Nationalsozialismus.

Therapie durch Dauernarkose

Man schrieb das Jahr 1920, als der Schweizer Psychiater Jacob Klaesi (1883-1980), Oberarzt an der von Eugen Bleuler (1857-1939) geleiteten Psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich, die Behandlung einer 39-jährigen therapieresistenten schizophrenen Patientin übernahm, die aufgrund der Schwere ihrer Erkrankung trotz mannigfaltiger Pharmakotherapie (u. a. mit Quecksilber und Arsen) abwechselnd in Zellabteilungen und Deckelbädern untergebracht werden musste. Klaesi kam der Einfall, die Patientin dadurch zu einem Gespräch zu bringen, dass er sie körperlich krank und hilfsbedürftig machte, und erzeugte bei ihr mit dem Barbituratgemisch Somnifen mehrere Dauernarkosen.

Nach einigen Wochen gelang es, die störrische und aggressive Patientin zu remittieren und schließlich zu entlassen. Dieser Erfolg ermutigte Klaesi, das Verfahren unter experimentellen Bedingungen einzusetzen. 1921 publizierte er in der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie seinen Bericht "Über die therapeutische Anwendung der Dauernarkose mittels Somnifen bei Schizophrenen", der seine Fachkollegen aufhorchen ließ und sie zu weltweitem Nachvollzug animierte.

Große Resonanz

Damals herrschte in der Psychiatrie Rat- und Hilflosigkeit; man akzeptierte jede Therapie, die auch nur eine winzige Aussicht auf Erfolg versprach. Während alle anderen medizinischen Disziplinen an dem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt partizipiert hatten, trat die Psychiatrie auf der Stelle. Bevor in den 50er Jahren unseres Jahrhunderts Neuroleptika, Antidepressiva, Tranquilizer, Lithium und MAO-Hemmer einen epochalen Wandel ermöglichten, trotzten die Psychosen allen Bemühungen und ließen bei den Therapeuten eine resignative Grundhaltung zurück. Klaesi weckte bei den Kollegen neue Hoffnung und gab den Anstoß zu einer Präsentationsflut wissenschaftlicher Ergebnisse, wie sie bislang über keine andere Therapie nach deren Propagation dokumentiert worden war.

Bemerkenswert ist allerdings die Tatsache, dass Klaesi nicht der erste Psychiater war, der Patienten mit dieser artifiziellen Ausschaltung des Bewusstseins durch Synthetika für unphysiologisch lange Zeit, bis zu acht Wochen(!), therapierte. Vor ihm führten Otto Wolf (1901) an der syrischen Heilanstalt Asfuriyeh mit dem hypnogenen Disulfon Trional und 1915 G. Epifanio an der psychiatrischen Universitätsklinik Turin mit Luminal (Phenobarbital) Schlafkuren durch.

Doch weder Wolf noch Epifanio, sondern Klaesi erlangte den Ruhm eines Inaugurators dieses therapeutischen Konzepts, und zwar aus vier Gründen:

  • Klaesi hatte die Autorität von Bleuler hinter sich.
  • Er erhielt die Starthilfe der Firma Hoffmann-La Roche, die der Barbituratkombination den exzellenten Namen Somnifen gab.
  • Der Zeitpunkt seiner Publikation kurz nach dem Ersten Weltkrieg war weitaus günstiger als jeweils der seiner beiden Vorgänger.
  • Schließlich spielte die Persönlichkeit von Klaesi eine Rolle.

    Lassen wir einen Zeitgenossen und Kollegen von ihm, den Schweizer Psychiater Max Müller, zu Wort kommen: "Klaesi hatte Format. Er steckte voller origineller Einfälle und besaß eine höchst eindrückliche, durch Witz und unerwartete Gedankensprünge verblüffende, suggestive, rhetorische Begabung, die Ausdruck eines hypomanischen Schwungs war, der mit depressiven Phasen im Wechsel auftrat."

    Keiner seiner im Grunde positiv eingestellten Kollegen konnte jedoch die glänzenden Resultate der Klaesischen Originalarbeit erreichen - übrigens die einzige, die er den Schlafkuren widmete! Daher mehrten sich in den Folgejahren Zweifel an Klaesis Bericht. Zudem hatte die martialisch gehandhabte Therapie eine relativ hohe Sterberate von etwa 7% und massive Nebenwirkungen in Form von Pneumonien, Fieber, Leukozytopenie usw.

    "Erschütterungstherapien"

    Doch damit nicht genug: 1933, im Jahr der sog. Machtergreifung, machten zwei weitere martialische Therapien von sich reden, die ähnlich wie Klaesis Schlafkur und die Malaria-Impftherapie nach Wagner-Jauregg aus Psychosen Somatosen zu machen versuchten: Durch temporäre oder irreparable Läsionen des Zentralnervensystems infolge Sauerstoffunterversorgung schalteten sie die Artikulation schizophrener oder kernneurotischer Affekte quasi aus. Es waren

  • die Insulin-Koma-Behandlung nach Manfred Sakel (1901-1957) und
  • die Cardiazol-Krampf-Behandlung nach Ladislaus v. Meduna (1896 bis 1964).

    Diese sog. "großen Erschütterungstherapien" beherrschten ab 1933 die Psychiatrie, und Arzneimittel waren hierbei die zuverlässigen Instrumente. Die massiven Nebenwirkungen dieser toxischen Interventionen entbehrten jedweder Übereinstimmung mit dem Gebot: Salus aegroti suprema lex.

    Bereits ein Jahr nach Einführung der Konvulsionstherapien meinte der ungarische Chirurg(!) Balo, dass es "sicher kein Zufall sei, dass jetzt parallel zu den politischen Verhältnissen auch in der Psychiatrie immer gewalttätiger erscheinende Behandlungsmethoden auftauchen". Und ein anderer kritischer Beobachter, der Psychiater Staercke, äußert sich 1938 auf dem Höhepunkt der inzwischen weltweit praktizierten Krampftherapien: "Wir sind von einer ängstlich gespannten Erwartung erfüllt. Um sich erblickt man nur entfesselte Aktivität, und zwar destruktive Aktivität."

    Nach skeptischer Beurteilung seiner 68 Fälle folgt als Resümee, "...das Für und Wider sorgfältig zu erwägen, bevor wir uns schweren Herzens entschließen, dem Kranken diese Verstümmelung anzutun. Wer ein chronisch gewordenes Geschwür einer Zehe mit Amputation der Zehe behandelt, wird gewiss Erfolg haben; wir versuchen lieber erst bessere Schuhe."

    Auch die folgenden an der Letalitätsgrenze praktizierten Therapien kennzeichnen die Psychiatrie der 30er Jahre:

  • die 1937 von den Italienern Bini und Cerletti eingeführte Elektrokonvulsionstherapie;
  • die chirurgische Intervention - erprobt und empfohlen von dem späteren Nobelpreisträger, dem Portugiesen Moniz - mit dem Ziel, die Verbindungsbahnen zwischen den beiden Hirnhälften zu durchtrennen, und dem Ergebnis, dass danach vom ehedem schizophrenen Patienten ein reaktions- und emotionsloses Wrack übrig blieb;
  • die drastischen Wasserretentionstherapien mit dem Antidiuretikum Tonephin, appliziert in der Vorstellung, ein Hirnödem zu erzeugen und dadurch das schizophrene Hirn wieder "einzurenken", die Psychose gewissermaßen auszuschwemmen. Es ist tragisch, dass Arzneimittel, die zunächst in bester Absicht als Therapeutika eingesetzt wurden, schon bald darauf zur gezielten Vernichtung der Patienten missbraucht wurden.

    Im Dienste des Rassenwahns

    1933 hatte Hitler in Deutschland die Macht ergriffen und damit die Möglichkeit erhalten, seine rassebiologischen Ideen zu realisieren. Zugleich erfolgte eine "biologische Reform" der humanitätsorientierten Individualpsychiatrie zugunsten einer zweckorientierten Unterordnung unter kollektive, völkisch definierte Interessen (Erbgesundheit, Rassereinheit). Die Psychiatrie arbeitete den Verfechtern einer Doktrin zu, die den genetischen Anteil an der Ätiologie psychischer Erkrankungen überbewertete und außerdem den kostenverursachenden Effekten der Psychiatrie einen ungebührlich hohen Rang einräumte.

    So wurde die Lawine losgetreten, bei deren Talfahrt es ab Oktober 1939 in Deutschland zur staatlich lizensierten und organisierten Tötung von 70273 psychisch Kranken durch Psychiater und ihr dienstlich unterstelltes Personal kam. Eigens zu diesem Zwecke wurde die sog. T4-Organisation gegründet, die durch eine sämtliche psychiatrische Einrichtungen einbeziehende Fragebogenaktion alle Patienten erfasste, die nicht arbeitsfähig und nach ärztlichem Ermessen unheilbar erkrankt waren. Die Organisation wurde T4 genannt, weil sie in Berlin in der Tiergartenstraße 4 residierte, dort wo heute die von Scharoun erbaute Philharmonie steht. Im Rahmen der T4 arbeitete eine aus etwa 30 angesehenen psychiatrischen Ordinarien und Chefärzten zusammengesetzte Gutachterkommission, die über Leben und Tod der ihnen nur anhand der Fragebögen bekannten Patienten entschieden.

    Ein rotes Kreuz (!), von fachkundiger Hand auf den Fragebogen gezeichnet, setzte einen Mordmechanismus in Gang, an dessen Ende der von Ärzten überwachte Tod in einer von fünf Gastötungsanstalten in Deutschland stand. Arzneimittel wurden hierbei als Beruhigungsmittel vor dem als Reinigungsprozedur verschleierten Gang in die Gaskammern eingesetzt.

    Die Täter waren a priori durch das im Oktober 1939 verfasste und auf den 1. September 1939 zurückdatierte Schreiben (wohlgemerkt kein Gesetz, kein Befehl, keine Anordnung o.ä.) von Hitler an Reichsleiter Bouhler und Hitlers Gesundheitsberater Prof. Brandt vorab amnestiert.

    "Wilde Euthanasie" mit Phenobarbital

    Hitler stoppte im August 1941 die zentral organisierten Tötungen von Geisteskranken aus taktischen Gründen. Nunmehr begann die Phase der sog. "Wilden Euthanasie". Die dezentralen Tötungen in den einzelnen Kliniken hielten bis Mai 1945 an. Tod durch Reduktionskost, in Hungerhäusern systematisch herbeigeführt, und das sog. Luminal-Schema waren die Methoden.

    Die Psychiater kannten die letalen Risiken der Dauerapplikation von Barbituraten aus der Praxis der 20er Jahre und aus der Literatur. Was lag näher, als sich dieser berechenbaren und unverdächtigen Methode zur Ermordung hilfloser Kranker zu bedienen? Die Dauerapplikation subtoxischer Mengen hypnogener Substanzen entwickelte sich zur Routine, die an Perfektion und Perfidie nicht mehr zu überbieten war und den Soforttod durch atemhemmende Gase im Sinne der Geheimhaltung geradezu stümperhaft erscheinen lässt. Denn der Eintritt des Todes wurde so lange hinausgezögert, bis das tiefer und tiefer benommene Opfer an Lobärpneumonie erkrankte und eines scheinbar natürlichen Todes starb, so wie es nach August 1941 in statistisch steigender Tendenz den Krankenblättern zu entnehmen ist.

    Die Methode trägt einen Namen: Luminal-Schema nach Paul Nitsche. Wer war Dr. Paul Nitsche? Als Schüler des auf die Rassehygiene besonders fixierten Ordinarius für Psychiatrie in München, Emil Kraepelin (1856-1926), machte er eine steile NS-Karriere, an deren Ende der Vorsitz der T4-Kommission und die Leitung der Gastötungsanstalt Pirna bei Dresden stand. Von ihm erhielten die Kollegen die hinterhältige Empfehlung zur Tötung mit subtoxischen Mengen gebräuchlicher Hypnotika.

    Hunger und Tötung mit Arzneimitteln kosteten weiteren geschätzt 100000 Patienten das Leben. Die genaue Zahl kann im Gegensatz zu der durch eine akribische Buchhaltung begleiteten Tötung mittels Gas dem Wesen ihrer Durchführung nach nicht ermittelt werden. Die Schätzungen beruhen auf den Aussagen von Beteiligten, der Auswertung von Krankenblättern und den Sterbebüchern in den einzelnen psychiatrischen Kliniken.

    Perversion der Medizin

    Wir stehen am Ende einer Entwicklung, die mit den Dauerschlafkuren von Klaesi begann, und sehen mit Bestürzung die Pervertierung dieser zwar martialischen, jedoch in wohlverstandenem ärztlichem Sinne praktizierten Somatotherapie der Vorkriegszeit zu Mordstrategien im Dienst der Rassehygiene, die zur kollektiven Hysterie ausuferte. Hufelands Warnung, dass es in einem Staatswesen nichts Gefährlicheres gebe als den Arzt mit der Lizenz zum Töten, fand unter den Nationalsozialisten ihre traurige Bestätigung.

    Literatur Aly, G.: Aktion T4. Edition Hentrich, Berlin 1989. M. v. Cranach et al.: Psychiatrie im Nationalsozialismus. Oldenbourg Verlag, München 1999. Friedrich, H., W. Matzow: Dienstbare Medizin. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1992. Klee, E.: "Euthanasie" im NS-Staat. Fischer, Stuttgart 1989. Linde, O. K.: Pharmakopsychiatrie im Wandel der Zeit. Tilia, Klingenmünster 1989. Richarz, B.: Heilen, Pflegen, Töten. Verl. f. Medizinische Psychologie, Vandenhoeck & Ruprecht, 1987. Scherer, K., O. K. Linde, R. Paul: Die Heil- und Pflegeanstalt Klingenmünster 1933-1945. Verl. Institut f. pfälzische Geschichte und Volkskunde, Kaiserslautern 1998. Vanja, C.: Euthanasie in Hadamar. Verlag LWV Hessen, 1991. Anschrift des Verfassers: Dr. Otfried K. Linde, Oberer Heißbühl 1, 76889 Klingenmünster

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