Bei bestimmungsgemäßem Gebrauch besteht kein Anlass zur Sorge

Wie gefährlich ist Pregabalin?

Stuttgart - 12.03.2024, 18:12 Uhr

Todesfälle durch Pregabalin waren in den vergangenen Tagen in den Schlagzeilen der Laienpresse (Foto: PBXStudio/AdobeStock)

Todesfälle durch Pregabalin waren in den vergangenen Tagen in den Schlagzeilen der Laienpresse (Foto: PBXStudio/AdobeStock)


Viele Pregabalin-Patienten werden dieser Tage mit Sorge die Meldungen aus Großbritannien verfolgen: Die Sunday Times berichtete von 3400 Todesfällen durch Pregabalin in den Jahren 2018 bis 2022 und vergleicht die Situation schon mit der amerikanische Opioid-Epidemie. Die Nachricht wird auch in den deutschen Medien aufgegriffen. Was bedeuten die Zahlen?

Im Jahr 2004 ließ die Europäische Kommission ein neues Antiepileptikum zu, Pregabalin (Lyrica®) aus dem Hause Pfizer: als Add-on bei fokalen Anfällen und zur Therapie von neuropathischen Schmerzen. Heute ist Pregabalin mit 135 Millionen definierten Tagesdosen laut Arzneiverordnungs­report 2022 das am häufigsten verordnete Antiepileptikum in Deutschland [1]. In den meisten Fällen wird es  
zur Therapie von neuropathischen Schmerzen verschrieben, die beispielsweise als Komplikation eines Diabetes mellitus entstehen können. 2006 wurde die Zulassung auf die Therapie generalisierter Angststörungen erweitert. Darüber hinaus wird Pregabalin häufig off label bei nicht neuropathischem Schmerz, instabiler Stimmungslage oder somatoformen Störungen ein­gesetzt [2].  

GABA im Namen, nicht in der Wirkung 

Pregabalin gehört genauso wie seine Vorgängersubstanz Gabapentin (Neurontin®) zu den Gabapentinoiden, den Abkömmlingen der Gamma-Aminobuttersäure (GABA). Am GABA-Rezeptor binden die Moleküle allerdings nicht, stattdessen inhibieren sie spannungsabhängige Calcium-Kanäle über deren Alpha-2-delta-Untereinheit. Weniger Calcium-Ionen in den Nervenzellen bedeutet, dass weniger exzitatorische Neurotransmitter ausgeschüttet werden, was dämpfend auf das Nervensystem wirkt. Fokale epileptische Anfälle treten dadurch nur noch halb so häufig auf, neuropathische Schmerzen werden um circa ein Drittel reduziert [3, 4]. Pregabalin ist pharmakokinetisch betrachtet ein fast perfekter Arzneistoff: Das Molekül wird schnell und linear resorbiert, kaum metabolisiert, nicht an Plasmaproteine gebunden und unverändert mit dem Urin aus­geschieden. Deshalb sind keine pharmakokinetischen Wechselwirkungen mit anderen Wirkstoffen zu erwarten. Zentral wirkende Substanzen kann Pregabalin aber in ihrer Wirkung verstärken. 

Nebenwirkung Euphorie

Zu den häufigsten Nebenwirkungen von Pregabalin zählen laut Fachinformation Benommenheit und Schläfrigkeit sowie vermehrte Nasopharyngitiden, gesteigerter Appetit, Kopfschmerzen, verschwommenes Sehen und Schwindel [5]. Seltener werden aber auch schwere unerwünschte Effekte beobachtet, z. B. QT-Zeit-Verlängerung, Herzinsuffizienz oder schwere Atemdepression in Kombination mit anderen ZNS-dämpfenden Arzneimitteln. Zu den wohl weniger unangenehmen Nebeneffekten gehört, dass die Präparate ein Gefühl der Euphorie auslösen können, vor allem am Anfang einer Therapie – oder, wenn sie überdosiert werden. Die euphorische Wirkung entsteht womöglich durch vermehrte GABA-Freisetzung im Gehirn [2]. Andere Substanzen, die die Wirkung von GABA verstärken (z. B. Benzodiazepine oder Alkohol) machen gewöhnlich abhängig. Auch im Fall von Pregabalin wurden nach der Markteinführung vermehrt Fälle von Abhängigkeit beschrieben. Die Fallberichte in der Sunday Times schildern, wie die anfäng­liche Euphorie nach Therapiebeginn verfliegt und Betroffene dann allmählich die Dosis erhöhen und so in die Abhängigkeitsspirale geraten, im schlimmsten Fall endete die Sucht im Tod [6]. Gleichzeitig wird beobachtet, wie die Substanz auch als Freizeitdroge zunehmend missbraucht wird. Die Tabletten tragen umgangssprachlich den Namen „Budweisers“, weil sie einen dem Alkohol ähnlichen Rausch hervorrufen. Die Zeitung zitiert Zahlen des britischen National Office for Statistics, wonach in den Jahren zwischen 2018 und 2022 3400 Pregabalin-bezogene Todesfälle aufgetreten sind. Tendenz: stark steigend, von 9 Todesfällen im Jahr 2012 auf 779 im Jahr 2022. 

Abhängigkeitsgefahr bei Suchtkrankheit

Droht also wirklich eine Pregabalin-Epidemie? Das Thema ist nicht neu, schon 2011 informierte die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft über das Abhängigkeitsrisiko der Substanzen. 2020 erschien eine Analyse des Themas in der Fachzeitung „Arzneiverordnung für die Praxis“, einem unabhängigen Informa­tionsblatt der Kommission [7]. Darin heißt es: „Spontanmeldungen und Berichte in der Literatur deuten darauf hin, dass Pregabalin ein Abhängig­keitspotenzial besitzt. Zwar sind überwiegend suchtkranke Patienten betroffen (insbesondere bei Konsum von Opioiden). In seltenen Fällen wird kasuistisch aber auch über eine Abhängigkeit bei nicht anderweitig abhängigen Patienten berichtet.“  
In der Fachinformation von Lyrica® wird der Punkt Abhängigkeit ebenfalls aufgegriffen und auf die berichteten Fälle hingewiesen [5]. Besonders bei Patienten mit Drogenmissbrauch in der Vorgeschichte sei Vorsicht geboten. Unabhängig von einer Abhängigkeit entstehen Entzugssymptome wie Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Übelkeit, Angst oder Nervosität, weshalb es immer ausgeschlichen werden sollte, anstatt es abrupt abzusetzen. 

Aufklären statt verbieten

Das britische Science Media Centre hat Experten um Einschätzung der Schlagzeilen gebeten [8]. Prof. Glyn Lewis, psychiatrische Epidemiologin vom University College of London, betont die bekannte Problematik bei gleichzeitigem Konsum von Opioiden. Auch in den dargestellten Fällen hätten die Personen Pregabalin mit Opioiden kombiniert oder nicht nach den Anweisungen ihrer Ärzte eingenommen. Eine britische Studie, die 2022 im British Journal of Clinical Pharmacology veröffentlicht wurde, untersuchte mehr als 3000 Todesfälle, die sich zwischen 2004 und 2020 im Vereinigten Königreich im Zusammenhang mit Gabapentinoiden ereignet haben [9]. In 92% der Fälle wurden gleichzeitig auch Opioide nachgewiesen. Allein in zwei Fällen konnte die Todesursache einer alleinigen Gabapentinoid-Intoxikation zugeordnet werden. Dr. Franziska Schenk vom King’s College führt eine finnische Studie an, wonach sich die meisten Todesfälle in Kombination mit anderen Drogen ereigneten [10]. Ihrer Meinung nach sollten auch Personen, die die Substanzen als Freizeitdroge einnehmen, über die Gefahr beim Mischen mit anderen Rauschmitteln aufgeklärt werden. Dr. Cathy Stannard vom NHS Gloucestershire CCG und Dr. Xinchun Gu von der University of Oxford mahnen eine bessere Verordnungspraxis an: Co-Medikationen mit Opioiden sollten vor der Verordnung abgefragt und entsprechend vermieden werden. Nicht leitliniengerechte Verordnungen sollten reduziert werden. Eines lehnen aber alle ab, nämlich den Einsatz von Pregabalin zu verbieten. Schließlich handele es sich um ein wirksames Arzneimittel, wenn es bestimmungsgemäß verwendet wird. 

Gabapentinoide suchtpräventiv einsetzen

Wie ein bestimmungsgemäßer Einsatz aussehen kann, zeigt der Leitfaden „Schädlicher Gebrauch und Abhängig­keit von Medikamenten“ der Bundesärztekammer [11]. Das Dokument definiert Grundsätze einer suchtpräventiven Verschreibung von Gabapentinoiden. Bei einer vorbestehenden Substanzabhängigkeit solle Pregabalin nicht verordnet werden. Gabapentin wäre eine mögliche Alternative wegen der günstigeren Pharmakokinetik mit nichtlinearer Resorptionskinetik und geringerer Toxizität bei oraler Überdosierung. Je nach Indikation kann auch ganz auf Gabapentinoide verzichtet werden, z. B. zugunsten anderer Antikonvulsiva bei Epilepsien oder Antidepressiva bei neuropathischen Schmerzen. Die Therapie soll außerdem fortlaufend überwacht werden. Suchtfördernde psychotrope Begleitmedikationen sollten nur so kurz wie möglich verordnet werden.

In der Apotheke Missbrauch erkennen

In der Apotheke können bestimmte Indizien auf einen Missbrauch der Gabapentinoide hindeuten, beispielsweise wenn die Patienten eigenmächtig die Dosis steigern oder Pregabalin-Rezepte von verschiedenen Ärzten vorlegen [11]. Dann sollte in einem vertraulichen Gespräch nach den Hintergründen gefragt und gegebebenfalls ein Arztbesuch angeraten werden. In den meisten Fällen kann ein Entzug der Substanzen ambulant erfolgen. Die Dosis wird dann über einige Wochen langsam reduziert [11]. Patienten, die aufgrund der aktuellen Berichte in den Medien verunsichert sind, sollten Pregabalin aber auf keinen Fall ohne ärztliche Begleitung absetzen. Bei bestimmungsgemäßem Gebrauchen handelt es sich um ein wirksames Arzneimittel und eine Abhängigkeit bei nicht suchtkranken Personen ist selten.

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Literatur 

[1] Ludwig WD, Mühlbauer B, Seifert R. Arzneiverordnungsreport 2022. Springer-Verlag Berlin 2023

[2] Bonnet U und Scherbaum N. How addictive are gabapentin and pregabalin? A systematic review. Eur Neuropsychopharmacol 2017;7:1185-1215

[3] Panebianco M et al. Pregabalin add-on for drug-resistant focal epilepsy. Cochrane Database Syst Rev 2022;3:CD005612

[4] Derry S et al. Pregabalin for neuropathic pain in adults. Cochrane Database Syst Rev 2019;1:CD007076

[5] Fachinfo Lyrica® Hartkapseln, Stand Dezember 2023 

[6] Anxiety drug pregabalin killed my son — and hundreds more are dying from it.  Artikel der Sunday Times, www.thetimes.co.uk/article/an-anxiety-drug-killed-my-son-and-hundreds-more-are-dying-from-it-too-ncpswc02g (Zugriff am 11.03.2024)

[7] Köberle U et al. Abhängigkeitspotenzial von Pregabalin. AVP 2020;47:62-65

[8] Mitteilung des Science Media Centre vom 04. März 2024. Expert reaction to media reports and questions about pregabalin. www.sciencemediacentre.org/expert-reaction-to-media-reports-and-questions-about-pregabalin/

[9] Kalk NJ et al. Fatalities associated with gabapentinoids in England (2004–2020). Br J Clin Pharmacol 2022;88:3911-3917

[10] Kriikku P und Ojanperä I. Pregabalin and gabapentin in non-opioid poisoning deaths. Forensic Sci Int 2021:324:110830

[11] Schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit von Medikamenten. Leitfaden der Bundesärztekammer, Stand Mai 2022, www.bundesaerztekammer.de/themen/aerzte/public-health/suchtmedizin/medikamentenabhaengigkeit#c17335


Dr. Tony Daubitz, Apotheker
redaktion@daz.online


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1 Kommentar

Pregabalin

von Thomas Anz am 29.03.2024 um 9:58 Uhr

Ich habe Parkinson und Polyneuropathie und noch einige andere "Baustellen". Parkinson verursacht Muskelschmerzen in Schulter, Nacken, Rücken, Hände, Armen und Beinen, eigentlich überall, nicht immer gleichzeitig, aber regelmäşig wiederkehrend wandern die Schmerzen turnusmäßig durch den Körper. Rehasport, Physiotherapie, Ergotherapie, manuelle Therapie, Massagen helfen - zumindest mir - die Schmerzen einigermaßen in den Griff zu bekommen. All diese Schmerzen sind nichts gegenüber den Nervenschmerzen, die die Polyneuropathie bei mir verursacht. Hätte ein Chirurg mir angeboten all meine Zehen zu amputieren, ich hätte sofort eingewilligt. Nervenschmerzen sind unerträglich! Gabapentin hat bei mir bei Weitem nicht den Erfolg gebracht wie Pregabalin. Die Vorstellung, ich dürfte Pregabalin jetzt nicht mehr einnehmen, weil es vielleicht verboten werden könnte, versetzt mich - ehrlich gesagt - in Panik, denn bisher hat mir kein Arzt ein anderes vergleichbares Mittel nennen können. Ganz nebenbei hat Pregabalin dafür gesorgt, dass meine Panikattacken und Angstzustände verschwunden sind und dass es nach einem einmaligen epileptischen Anfall keine weiteren epileptischen Anfälle gab.
Jetzt zu den Todesfällen in Großbritannien: Ich weiß nicht, wer die Personen in Großbritannien waren, die gestorben sind. Aber was bekannt ist und der Artikel ja auch bestätigt und mir auch von meiner Neurologin bestätigt wurde, ist, dass es im Kontext mit einer Drogensucht vermehrt zu Todesfällen gekommen ist. Jeder Arzt muss wissen, dass er Pregabalin drogenabhängigen Menschen niemals verschreiben darf und ich hoffe, dass dies mittlerweile bei allen Ärzten angekommen ist. Wie gesagt, ich weiß nicht, wer die Todesopfer im Zusammenhang mit Pregabalin gewesen sind, aber ich weiß, dass ich es ohne ärztliche Begleitung nicht einfach absetzen werde, was ich auch keinem Leidensgenossen empfehlen kann, da es bei unkontrolliertem Absetzen zu heftigen Entzugserscheinungen führt, was ich vor zwei Jahren am eigenen Leibe erfahren musste, da durch die Hinzugabe von weiteren Parkinsonmedikamenten zwecks Verbesserung der motorischen und nicht-motorischen Beschwerden bei Parkinson, bei mir Halluzinationen und Wahnvorstellungen auftraten, die so schlimm wurden, dass unter Aufsicht von Ärzten im Rahmen eines Krankenhausaufenthaltes alle Medikamente abgesetzt werden mussten, um schließlich die Medikamente herauszufiltern, die zu diesen unerwünschten und sehr belastenden Beschwerden - Hallizinationen und
Wahnvorstellungen - geführt haben. Seitdem weiß ich annähernd, was ein Entzug ist,. Die Neurologen des Krankenhauses hatten mich darauf vorbereitet, dass die notwendige komplette Absetzung der Medikamente zu entzugsähnlichen Erscheinungen führen wird. Erscheinungen ist das richtige Wort: Was ich nicht alles in meiner Phantasie gesehen habe und wieviele Personen mich verfolgt haben, aus welchen Gründen auch immer. Wenn ich nicht unter Beobachtung gewesen wäre, würde ich heute nicht mehr leben. Mein Bettnachbar meinte später. dass ich ganz heftig "durch den Wind" gewesen sei..

Fazit: Pregabalin war Gott sei Dank nicht unter den Medikamenten, die abgesetzt werden mussten! Ansonsten hätte ich jetzt ein großes Problem: unerträgliche, zum Wahnsinn treibende Nervenschmerzen!

PS: Ich bin kein Arzt und auch kein Vertreter der Pharmaindustrie und dies ist auch keine Schleichwerbung für Pregabalin!

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