Die Blaue Hand – Teil 4

Die „Pille“ und das Thromboserisiko – alles klar, oder?

Rosenheim - 20.03.2023, 09:15 Uhr

Denken Sie vor Ihrem nächsten Langstreckenflug an ihre Kontrazeptiva und deren Thromboserisiko? (Foto: janvier / AdobeStock)

Denken Sie vor Ihrem nächsten Langstreckenflug an ihre Kontrazeptiva und deren Thromboserisiko? (Foto: janvier / AdobeStock)


Dass kombinierte orale Kontrazeptiva das Thromboserisiko erhöhen, ist eigentlich ein alter Hut. Frauenärzte werden – dank dem Blaue-Hand-Schulungsmaterial, das die DAZ Ihnen mit dieser Serie näherbringt – mit Checklisten, und Patientinnen mit Informationskarten daran erinnert. Warum es dennoch auch in der Apotheke sinnvoll sein kann, bei der nächsten „Pillen“-Verordnung mal wieder genauer hinzuhören und nachzuhaken, lesen Sie hier.

Spätestens seit 2013 sollte das Wissen über das Thromboserisiko von kombinierten hormonalen Kontrazeptiva (KHK) weit verbreitet sein. Denn damals beschäftigte sich das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gemeinsam mit der europäischen Arzneimittelagentur (erneut) damit. Es kam zu dem Schluss, dass bei allen KHK der Nutzen die Risiken zwar überwiegt, doch schon früher war immer wieder über venöse thromboembolische Ereignisse (VTE) als bekannte, seltene Nebenwirkung von KHK berichtet worden. „Aus Studien, überwiegend aus den 1990er Jahren“ war bereits bekannt, dass das VTE-Risiko durch die Art des Gestagens beeinflusst wird. 

Erst 2014 wurden schließlich gemeinsam mit einem Rote-Hand-Brief zu KHK und deren Risiko von venösen Thromboembolien auch Informationsmaterialien für Patientinnen, Ärztinnen und Ärzte veröffentlicht, die dauerhaft auf der Internetseite des BfArM bereitgestellt werden sollten. „Insbesondere bei der Erstverschreibung sollte die Checkliste verwendet, sowie die Patientinnenkarte den Anwenderinnen ausgehändigt werden“, hieß es. Und erst seit 2016 wird solches behördlich genehmigtes Schulungsmaterial – analog zur roten Hand – mit einer blauen Hand gekennzeichnet. Eine Auswahl solcher „blauen Hände“ stellen wir Ihnen in dieser Serie vor.

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Die Blaue Hand

In diesem Schulungsmaterial (Version 3 / Stand: September 2021) zu den KHK wird darauf hingewiesen, dass sich Thrombose-Risikofaktoren der Anwenderinnen über die Zeit ändern können. Richtet sich das Informationsmaterial also zunächst vor allem an Ärzte, Ärztinnen und Patientinnen, so können bei Stammkundinnen auch Apothekerinnen und Apotheker helfen, nochmals an die wichtigsten Punkte zu erinnern, sollten sich bei den Patientinnen Änderungen ergeben.

Wann die „Pille“ nicht verordnet werden darf

Die Nutzen-Risiko-Abwägung ist für alle zugelassenen „Pillen“ positiv. Doch sie alle erhöhen das Risiko für eine Thrombose oder venöse Thromboembolie – je nach Wirkstoffkombination ein bisschen mehr oder weniger. Insgesamt tritt eine Thrombose auch unter KHK immer noch sehr selten auf. Zum Vergleich: Eine Schwangerschaft erhöht das Risiko am stärksten, schätzungsweise 1 bis 2 Frauen pro 1.000 Schwangerschaften sind betroffen. Nichtsdestotrotz ist jeder Einzelfall tragisch. Es lohnt sich also einen (auffrischenden) Blick auf die zahlreichen Risikofaktoren zu werfen, die zusätzlich und unabhängig das Risiko für eine Thrombose erhöhen und beachtet werden müssen. So geht aus der Checkliste für Ärzt:innen hervor, dass KHK beispielsweise nicht geeignet sind bei 

  • sehr hohen Blutfettwerten oder
  • stark erhöhtem Blutdruck,
  • Migräne mit fokalen neurologischen Symptomen,
  • bekannter Blutgerinnungsstörung oder
  • einer Thromboembolie in der Anamnese.

KHK sollte ebenfalls nicht verordnet werden, wenn mehr als ein Risikofaktor von 13 weiteren im Schulungsmaterial aufgeführten vorliegt, darunter ein 

  • BMI über 30 kg/m2,
  • Alter über 35,
  • Rauchen,
  • Migräne oder beispielsweise
  • Diabetes mellitus.

Bei kombinierten oralen Kontrazeptiva auch an andere Arzneimittel denken

Auch die Einnahme von Arzneimitteln wie beispielsweise 

  • Glucocorticoiden,
  • Neuroleptika,
  • Antipsychotika,
  • Antidepressiva und
  • Chemotherapeutika

können das Thromboserisiko erhöhen. Diese werden in der Regel nicht vom Gynäkologen verordnet, führen aber dazu, dass die hormonelle Kontrazeption kritisch hinterfragt werden sollte. Gleiches gilt auch beim Auftreten bestimmter Krankheiten, wie zum Beispiel Krebs, systemischem Lupus erythematodes, Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa. Aber auch wenn sich eine Patientin verletzt hat, operiert werden soll oder eine längere Reise antreten möchte, kann es sein, dass die Apotheke davon eher mitbekommt als die Frauenärztin oder der Frauenarzt.

Plant die Frau einen Urlaub oder gar eine OP?

Insbesondere bei längerer Immobilisation nach einer Verletzung oder Operation sowie bei Flugreisen ist Vorsicht gefragt. Planen Frauen eine Reise mit einer Flugdauer über vier Stunden, sollten sie am besten mit ihrem Arzt oder Ärztin geeignete Vorbeugungsmaßnahmen besprechen. Ist ein größerer operativer Eingriff geplant, sollten Frauen die Einnahme der Pille mindestens vier Wochen vorher unterbrechen. Die Pille darf dann frühestens zwei Wochen nach vollständiger Remobilisation wieder angesetzt werden, da das Risiko einer Thrombose besonders zu Beginn der Einnahme am höchsten ist.

Da das Risiko aber auch steigt, wenn die Einnahme für mehr als vier Wochen unterbrochen wurde und dann wieder fortgeführt wird, ist das Absetzen der „Pille“ generell abzuwägen.

„Pillen“-Patientinnen sollten eine Thrombose erkennen können

Die offizielle Patientenkarte der Blaue-Hand-Unterlagen weist nicht nur auf mögliche Risikofaktoren hin, sondern klärt außerdem über mögliche Anzeichen einer Thrombose, Lungenembolie, eines Herzanfalls oder Schlaganfalls auf. Zur Erinnerung: 

Hellhörig werden sollte man immer dann, wenn einseitig starke Schmerzen oder eine Schwellung am Bein auftritt. Zusätzlich können Druckschmerz, Erwärmung sowie eine farbliche Änderung am Bein auftreten, also Blässe, Rot- oder Blaufärbung. Plötzliche Atemnot, starke Brustschmerzen beim Einatmen oder gar das Aushusten von Blut lässt an eine Lungenembolie denken. 

Aus Sicht des BfArM sollte insbesondere für Erstanwenderinnen und Anwenderinnen unter 30 Jahren zur Schwangerschaftsverhütung die Verordnung eines kombinierten hormonalen Kontrazeptivums mit dem geringsten bekannten Risiko für venöse Thromboembolien bevorzugt werden. Der Arzt oder die Ärztin sollte also vorzugsweise KHK mit Levonorgestrel wählen, da es nach heutigem Kenntnisstand das niedrigste Risiko für venöse Thromboembolien aufweist. 

Warum nicht für alle Levonorgestrel?

Ebenfalls als niedrig bewertet wird das Thrombose-Risiko für die Wirkstoffe Norethisteron oder Norgestimat. Bei KHK mit Levonorgestrel, Norethisteron oder Norgestimat erleiden etwa 5 bis 7 von 10.000 Frauen innerhalb eines Jahres eine venöse Thromboembolie, während nur 2 Frauen von 10.000 ohne hormonelle Verhütung und ohne Vorliegen einer Schwangerschaft betroffen sind. Mit der Kombination Dienogest und Ethinylestradiol steigt das Risiko auf etwa 8 bis 11 Frauen, bei Einnahme von Drospirenon, Gestoden oder Desogestrel sogar auf 9 bis 12 von 10.000 Frauen.

Gestagene der 3. und 4. Generation und ihr Thromboembolierisiko

Schöne Gefahr?

Die androgene Partialwirkung von Levonorgestrel kann zu Nebenwirkungen wie unerwünschtem Haarwachstum und/oder Akne führen. Leidet eine Frau ohnehin an Androgenisierungserscheinungen, kommen daher teils bevorzugt Gestagene zum Einsatz, die den Androgenrezeptor kompetitiv hemmen. Hierzu zählen Cyproteronacetat, Dienogest sowie Drospirenon. Aus kosmetischen Gründen dürfe jedoch keine Pille verordnet werden, mahnt das BfArM. Schließlich seien Verhütungspräparate Arzneimittel mit ernstzunehmenden Nebenwirkungen und Risiken und keine Life-Style-Produkte.


Anna Carolin Antropov, Apothekerin
redaktion@daz.online


Deutsche Apotheker Zeitung / dm
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