Apothekerbrüder Nattler zur Lage der Branche

„Bürokratische Überregulierung zurückfahren“

Gelsenkirchen / Düsseldorf / Stuttgart - 16.11.2022, 07:00 Uhr

Simon (li.) und Gerrit Nattler (x / Fotos: privat) 

Simon (li.) und Gerrit Nattler (x / Fotos: privat) 


Simon und Gerrit Nattler gehören zu den prägenden Gestalten der jüngeren Apothekergeneration. Im Interview mit dem Aktuellen Wirtschaftsdienst für Apotheker sprechen sich die beiden Unternehmer dafür aus, die bürokratische Überregulierung von Apotheken zurückzufahren. Außerdem plädieren sie dafür, mithilfe von lautstarkem Lobbyismus für eine bessere wirtschaftliche Lage der Apotheken zu kämpfen. in ihren Augen braucht es einen branchenfremden Vollprofi, der die Interessen der Apotheken konsequent in Berlin durchsetzt.

Simon und Gerrit sprechen Klartext. Die Brüder, die neben ihren sechs Elisana-Apotheken in Gelsenkirchen und Dorsten seit 2011 einen Onlineshop betreiben, brechen im Interview mit dem Aktuellen Wirtschaftsdienst für Apotheker (AWA) mit deutlichen Worten eine Lanze für ihre Branche. So fordern sie angesichts des anhaltenden Apothekensterbens, die „abstruse bürokratische Überregulierung“ zurückzufahren. Damit hätten Apotheker wieder „genug Luft zum Atmen“. Auf Dauer führe kein Weg daran vorbei, die Verwaltungsprozesse zu vereinfachen und digitalisieren. Beispielhaft verweisen sie auf die Präqualifizierung für 18.500 Apotheken, „die ja per se schon topqualifiziert sind“. Dies ist in den Augen der Nattler-Brüder „ein Unding“ und binde enorm viele Ressourcen.

„Wir brauchen einen Vollprofi als Lobbyisten“

Das vollständige Interview mit Simon und Gerrit Nattler lesen Sie im aktuellen AWA. (21/2022)

Eine Frage der Wertschätzung

Auch in wirtschaftlicher Hinsicht sprechen sich die beiden Apotheker im AWA-Interview dafür aus, den Betrieben Erleichterungen zu verschaffen: „Es kann nicht sein, dass man seitens der Politik immer mehr von uns Apothekern verlangt – zugleich kommt aber immer weniger in den Topf rein. Irgendwann ist dieses Band so überdehnt, dass es einfach reißt“, warnt Gerrit Nattler. Simon Nattler ergänzt, dass dahinter auch eine Frage der Wertschätzung stehe: „Wenn der Aufwand für uns immer größer, zugleich die Gegenleistung aber kleiner wird, dann ist das stark demotivierend. Die Folge ist, dass immer mehr Apotheker Dienst nach Vorschrift machen werden.“ Das könne niemand ernsthaft wollen.

Bei der Diskussion um die Erhöhung des Kassenabschlags geht es laut Simon Nattler „nicht nur um die 240 Millionen Euro“, sondern im Grunde um zwei Jahrzehnte fehlenden Inflationsausgleich. Die Apotheker steckten in einem „Schraubstock“: Die Kosten stiegen, zugleich sinke die Vergütung. Damit werde die Marge immer kleiner. Mit dieser Entwicklung wachse die Gefahr, dass immer mehr Apotheker „die Nase voll haben und hinwerfen“. Zudem könnten bestehende Versorgungsstrukturen „irreversibel zerstört werden! Das ist den Politikern gar nicht bewusst“, sagt Gerrit Nattler.

Interessen knallhart vertreten

Vor diesem Hintergrund sprechen sich die Brüder dafür aus, dass sich die Branche „jetzt lautstark bemerkbar“ machen müsse. Heutzutage bekomme nicht derjenige Recht, der die besten Argumente habe, sondern wer am lautesten schreie. Da die Angriffe auf die Branche härter würden, müsse sich diese auch mit härteren Mitteln zur Wehr setzen. Simon Nattler: „Ich halte es deshalb für essenziell, dass wir einen branchenfremden Vollprofi engagieren, der die Interessen der Apotheken konsequent in Berlin durchsetzt.“ Dies sollte ein erfahrener Lobbyist sein, der die „mehr als berechtigten Forderungen“ der Apotheken „knallhart“ nach außen vertritt und weiß, wie man harte Maßnahmen durchsetzt – nach innen wie nach außen.

Zudem sollte sich die Branche endlich vom Prinzip der Minimalforderungen verabschieden und ihre über Jahrzehnte eingeübte Demut aus den Köpfen bringen. „Warum tragen wir unsere Forderungen nicht ähnlich selbstbewusst in die Öffentlichkeit wie zum Beispiel die Ärzte?“

In Bezug auf die Vergütung von Apothekern weist Gerrit Nattler darauf hin, dass die Apotheker immer eine Mischkalkulation gemacht hätten und defizitäre über ertragsstärkere Angebote quer subventionierten. Sollte die Politik aber beispielsweise beschließen, die Abgabe von verschreibungspflichtigen Rx-Medikamenten in Zukunft nur noch kostendeckend zu vergüten, „müssten wir darauf reagieren“. Das würde bedeuten, dass alle Geschäftsfelder nüchtern durchkalkuliert würden und bislang quer subventionierte Angebote eingestellt werden müssten.

E-Rezept: Handwerklich schlecht

In Punkto E-Rezept stellt Simon Nattler fest: „Wenn eine Lösung dermaßen an den Bedürfnissen aller Beteiligten vorbei entwickelt wird, das Ganze dann auch noch handwerklich schlecht gemacht ist und auf einer völlig veralteten Technik aufbaut, dann brauche ich mich nicht zu wundern.“ Hinzu komme „eine miserable Kommunikation, die zusätzlich Vertrauen gekostet hat“.

Wenn das E-Rezept irgendwann funktioniere und die Rahmenbedingungen fair gesetzt seien, ist dieses Instrument in seinen Augen durchaus sinnvoll. Es reiche aber nicht, nur einen Teilprozess zu digitalisieren: „Wenn schon, dann muss man den kompletten Verordnungs-Workflow digital designen. Sonst entstehen keine Synergien.“


Dr. rer. nat. Hubert Ortner, Chefredakteur AWA – Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker
redaktion@daz.online


Thorsten Schüller, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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5 Kommentare

Überregulierung

von Dorf-Apothekerin am 16.11.2022 um 10:46 Uhr

Bürokratische Überregulierung ist das Eine, Filz ist das Andere.
Das E-Rezept ist doch an den Bedürfnissen der Beteiligten orientiert, wenn man weiß, dass DOC-Morris mit IBM und der Gematik zusammenhängt.

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AW: Überregulierung

von Mike Schmid am 17.11.2022 um 9:30 Uhr

Umgekehrt wird aber auch ein Schuh daraus. Ich möchte mich als preisbewusster Kunde aktiv für eine Online-Apotheke entscheiden dürfen und meine Bedürfnisse sind mit einem Papierausdruck vollkommen gedeckt. Auch der CCC hält den Ausdruck datenschutzrechtlich für die einfachste Lösung. Papier wird als vermeintlich nicht-digitale Lösung verworfen, obwohl wir jahrelang z.B. unsere Boardingpässe ausgedruckt haben, damit sie an der richtigen Stelle eingescannt werden können. Als Kunde sehe ich eher eine Diffamierungs-/Boykottkampagne der Apotheker, weil man um sein Quasi-Monopol fürchtet

Interessenvertretung

von Dr. Ralf Schabik am 16.11.2022 um 10:09 Uhr

"lautstark bemerkbar machen" - das fordere ich seit JAHREN. Und immer wieder laufe ich voll an die Wand. Die Apothekerschaft ist viel zu "distinguiert". Mir ist schon klar, dass "lautstark" nicht zu unserer sonstigen Arbeitsweise passt. Aber es ist leider Fakt, dass sich der Kommunikationsstil heute geändert hat - das zu ignorieren, ist dumm.
Neulich erzählte mir ein Kollege (den ich eigentlich sehr schätze) ganz stolz "seit ich die Branchen-News nicht mehr lese, geht es mir besser". Klar. Ist auch ein Weg, Unangenehmes einfach auszublenden.
"Branchenfremde Vollprofis" - auch das fordere ich schon lange. Allerdings etwas differenzierter: Ich denke, unsere Leute an der Spitze (insbesondere DAV) SIND Vollprofis im "apothekerlichen" Sinne. Und mit Dr. Kern haben wir einen externen Profi. Warum die öffentliche Kommunikation dann so desaströs ist, kann ich mir nur dahingehend erklären, dass uns eine echte "Wildsau-Fraktion" fehlt, die ich seit Jahren vermisse.
Solange unsere Juristen in Bund und Land in Personalunion Lieferverträge verhandeln UND gegen Schikanen (zB Retaxen) vorgehen müssen, solange müssen die unter dem Strich viel zu brav sein. Womit wir wieder beim "laut" sind.

Die Situation der Apotheken wird im Artikel hervorragend zusammengefasst.
Gleichwohl reicht es NICHT aus, unsere Interessen im Bund zu vertreten. Die Arbeit beginnt in den Ländern - ob wir das gut finden oder nicht. Und da rächt sich, dass etliche unserer Mitgliedsorganisationen zu sehr "ich-bezogen" sind. Föderalismus ist gut und wichtig. Aber wir brauchen eine stärkere Steuerung durch die Bundesebene, um Effizienzreserven zu heben und Schlagkraft zu stärken.

UND wir müssen runter von dem hohen Ross, zu glauben, nur uns ginge es an den Kragen. Karl Friedrich Müller verweist völlig zutreffend auf die Landwirtschaft - aber die Drecksbürokraten machen das GESAMTE Land kaputt. Darum müssen endlich die Scheuklappen weg - und wen die Bäcker gegen die Bonpflicht kämpfen, sollten wir uns nicht zu vornehm sein, den Schulterschluss zu suchen. Aber das ist wieder das Thema "zu distinguiert".

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Das ist der Plan!

von Karl Friedrich Müller am 16.11.2022 um 9:50 Uhr

Zudem könnten bestehende Versorgungsstrukturen „irreversibel zerstört werden! Das ist den Politikern gar nicht bewusst“, sagt Gerrit Nattler.
Weil die Politik bestimmte "Strukturen" hofiert und fördert. Man kann sich mal fragen, warum. So werden auch mal Stimmen laut, zu prüfen, welche Aktien so ein Politiker hält.
Oder Zuwendungen? Ich meine, ,wenn schon ein Spargelessen reicht, um DocMorris zu fördern.
In der Landwirtschaft haben wir ein ähnliches Problem. Die Kleinen werden konsequent fertig gemacht.
Ich glaube, dass die meisten Politiker schon wissen, was sie tun.

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Völlig richtig

von ratatosk am 16.11.2022 um 9:11 Uhr

Sehr genau die Probleme auf den Punkt gebracht.
Man muß nur noch einmal darauf hinweisen, daß in den meisten Problemfeldern in Deutschlands, man immer am Ende auf eine dramatische Bürokratisierung als Hauptproblem stößt, mit zunehmend schlechter konzipierten neuen Gesetzen. Zusätzlich muß man auch eine immer größere Feindseligkeit der Verwaltung gegenüber Unternehmen erkennen, zumindest wenn diese nicht Konzerngröße oder Bedeutung für das Wohlergehen der Parteien haben. Von Beraterposten bis Spargelfahrten.
In Österreich hat es schon einen Wandel zur Unterstützung für die Betriebe gegeben, da man dort eingesehen hat, daß diese die Grundlage des Wohlergehens sind und die die Behörden ja nichts erwirtschaften, sondern nur mäßig effizient umverteilen.

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