Interview mit dem Patientenbeauftragten der Bundesregierung

Schwartze fordert „schnellstmöglich“ eine Entscheidung bei den pharmazeutischen Dienstleistungen

Berlin - 17.05.2022, 17:50 Uhr

Der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Stefan Schwartze, erläutert im DAZ-Interview, was er sich von der Einführung der pharmazeutischen Dienstleistungen erhofft. (b/Foto: Stefan Schwartze, MdB)

Der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Stefan Schwartze, erläutert im DAZ-Interview, was er sich von der Einführung der pharmazeutischen Dienstleistungen erhofft. (b/Foto: Stefan Schwartze, MdB)


Der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Stefan Schwartze (SPD), setzt große Hoffnungen in die neuen pharmazeutischen Dienstleistungen: Vor allem Multimorbide und Senioren können mit Angeboten wie der Medikationsanalyse besser als bisher vor Neben- und Wechselwirkungen von Arzneimitteln geschützt werden, hofft er. Damit solche Dienstleistungen endlich bei den Versicherten ankommen, fordert er den GKV-Spitzenverband und den DAV auf, nun rasch zu einer Einigung zu kommen und eine politische Einmischung zu vermeiden.

DAZ: Die Einführung der neuen pharmazeutischen Dienstleistungen steht kurz bevor. Noch ist der Katalog an Leistungen weitgehend geheim – welche Angebote wären aus Ihrer Sicht wünschenswert?

Schwartze: Zunächst ist es mir sehr wichtig zu betonen, dass pharmazeutische Dienstleistungen kein Selbstzweck sind. Sie müssen eine niedrigschwellige und barrierefreie Versorgungsverbesserung der Patientinnen und Patienten als Ziel haben. Daher sollten sich pharmazeutischen Dienstleistungen aus meiner Sicht primär auf drei Bereiche konzentrieren: Erstens die Erhöhung der Arzneimittelsicherheit durch eine strukturierte Medikationsanalyse zur Vermeidung von Polymedikationsrisiken. Zweitens die Stärkung der Therapietreue. Hier könnte ich mir die Betreuung und die Pflege des Medikationsplanes, die Bereitstellung individueller Verblisterungen oder personalisierte Verpackungen und vor allem eine noch intensivere Beratung, warum, wann und auf welche Weise die jeweiligen Medikamente eingenommen werden sollen, als wichtige unterstützende Dienstleistungen vorstellen. Und drittens sollten pharmazeutische Dienstleistungen der Sicherstellung der Arzneimittelversorgung insbesondere in ländlichen Regionen mit wenigen Apotheken dienen – zum Beispiel durch die Betreuung von Patientinnen und Patienten im häuslichen Umfeld oder durch ausgeweitete Botendienste.

Eine Dienstleistung, auf die sich der Deutsche Apothekerverband und der GKV-Spitzenverband offenbar recht schnell einigen konnten, ist die Medikationsanalyse. Geht dieser Ansatz in die richtige Richtung? Was erhoffen Sie sich davon konkret für die Versicherten?

Der Ansatz der Medikationsanalyse geht genau in die richtige Richtung. Polymedikation erhöht das Risiko unerwünschter Nebenwirkungen erheblich, insbesondere dann, wenn unterschiedliche Medikamente über Jahre ohne kritische Prüfung von möglichen Arzneimittelwechselwirkungen weiterverordnet werden. Das kann gerade für ältere Menschen ein erhebliches Gesundheitsrisiko darstellen. Die Ausmaße des Problems skizziert ganz aktuell der Gesundheitsreport 2022 der AOK Rheinland/Hamburg beispielhaft: Nach den Krankenkassendaten haben vier von zehn Versicherten über 65 Jahre im ersten Quartal 2022 mehr als fünf Medikamente verschrieben bekommen. Zudem bekam jeder fünfte ältere Versicherte mindestens ein Medikament pro Jahr verordnet, das laut der sogenannten Priscus-Liste ausdrücklich für Senioren potenziell ungeeignet ist.

Hier kann die pharmazeutische Kompetenz der Apothekerinnen und Apotheker im Rahmen einer systematischen und standarisierten Analyse der gesamten Medikation einen großen Beitrag dazu leisten, um zunächst überhaupt eine Übersicht aller ärztlich verordneten und rezeptfreien Arzneimittel zu erhalten und darauf aufbauend arzneimittelbezogene Probleme und mögliche unerwünschte Wechsel- bzw. Nebenwirkungen zu identifizieren.

Im Modellprojekt ARMIN (Arzneimittelinitiative in Sachsen und Thüringen) gehen die Beteiligten noch einen Schritt weiter: Dort nutzen Apotheken und Praxen den Medikationsplan als digitales Tool und betreuen die Patientinnen und Patienten darüber kontinuierlich gemeinsam. Braucht es bei der Arzneimitteltherapie auch in der Regelversorgung diesen intensivierten Austausch und wie kann es gelingen, solch ein Konzept umzusetzen?

Die Arzneimittelinitiative in Sachsen und Thüringen ist ein sehr gelungenes Beispiel dafür, welchen Mehrwert eine Medikationsanalyse für eine bessere und sichere Arzneimittelversorgung der Patientinnen und Patienten leisten kann. Das Projekt setzt dabei einen Ansatz um, der auch mir sehr wichtig ist: die interprofessionelle Zusammenarbeit. Das Wissen um die Analyse der Medikation sollte nicht auf die Apotheke beschränkt bleiben, sondern auch den behandelnden Ärztinnen und Ärzten sowie den betroffenen Patientinnen und Patienten zur Verfügung gestellt werden. In enger Abstimmung sollte – wie in Sachsen und Thüringen erfolgreich erprobt - ein individueller Medikationsplan entstehen, der die notwendigen Medikamente enthält, bezüglich möglicher Wechselwirkungen regelmäßig geprüft und stetig aktualisiert wird. Flankiert durch eine umfassende Beratung und Aufklärung der Versicherten sowie durch digitale Lösungen, erhöht dies nicht nur den sektorenübergreifenden Informationsfluss, und die Arzneimittelsicherheit, sondern steigert gleichzeitig niedrigschwellig die Gesundheitskompetenz und das Verständnis der Betroffenen für die Notwendigkeit ihrer Medikation – das wirkt sich wiederum positiv auf die Therapietreue aus. Ein derartiger interprofessioneller Austausch zum Nutzen der Patientinnen und Patienten wäre aus meiner Sicht ein Gewinn für die Regelversorgung.

Auch Angehörige in die Beratung einbeziehen

Beim Symposium der Bundesapothekerkammer haben Sie von einem Fall aus dem persönlichen Umfeld berichtet, in dem eine Fehlmedikation zu Krankenhauseinweisung und letztlich zu einem dauerhaften Schaden geführt hat. Wie hat sich dieses Ereignis auf Ihre Sicht auf das Thema Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) ausgewirkt?

Dieses Ereignis hat meine Sicht auf die Arzneimitteltherapiesicherheit verändert und mir deutlich gemacht, dass sich Patientinnen und Patienten, aber auch ihre Angehörigen, sehr viel kritischer mit den verordneten Arzneimitteln, vermeidbaren Risiken der Arzneimitteltherapie und risikominimierenden Maßnahmen auseinandersetzen müssen. Ein erster Schritt für den so wichtigen Überblick über die eigenen Arzneimittel ist der Medikationsplan. Seit 2016 haben Patientinnen und Patienten, die mindestens drei verordnete Arzneimittel über längere Zeit einnehmen, einen gesetzlichen Anspruch auf einen Medikationsplan. Er fasst alle Arzneimittel einer Person zusammen und gibt eine verständliche Übersicht, wann welche Medikamente eingenommen werden sollen. Der Medikationsplan unterstützt damit die Gesundheitskompetenz und stärkt die Patientensicherheit. Dennoch wissen immer noch viel zu wenige Patientinnen und Patienten und auch nicht alle Ärztinnen und Ärzte, dass es diesen Rechtsanspruch gibt. Auch aus diesem Grund bin ich Schirmherr der Initiative „Medikationsplan schafft Übersicht“ der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen, die Patientinnen und Patienten über den Anspruch auf einen Medikationsplan aufklären und dazu ermutigen will, ihren Medikationsplan anzufragen und einzufordern.

Glauben Sie, dass die Patientinnen und Patienten in Deutschland bezüglich der AMTS ausreichend sensibilisiert sind? Inwiefern besteht hier Aufklärungsbedarf?

Mit Blick auf die Gesundheitskompetenz gibt es insgesamt noch viel Handlungsbedarf. Es ist unbestritten, dass es vielen Menschen ganz grundsätzlich schwerfällt, sich in gesundheitlichen Fragen zurechtfinden. Für die Arzneimitteltherapiesicherheit gilt dies ganz besonders. Patientinnen und Patienten, die regelmäßig mehrere Arzneimittel anwenden, müssen eine Vielzahl von Herausforderungen bewältigen: Verschiedene Darreichungsformen, komplexe Informationen über die Indikation, die Anwendung sowie das Wirkungs- und Nebenwirkungsprofil der Arzneimittel müssen verstanden und umgesetzt werden. Insbesondere älteren Patientinnen und Patienten mit Multimedikation fällt die regelmäßige Anwendung der Arzneimittel oft nicht leicht. Medikamente können verwechselt, falsch angewendet oder ganz vergessen werden. Hier kommt es ganz wesentlich auf eine niedrigschwellige, adressatengerechte Kommunikation über Nutzen und Risiken von Arzneimitteln sowie gegebenenfalls auch individuelle Unterstützung an. Patientinnen und Patienten müssen für mögliche Nebenwirkungen sensibilisiert werden und auf Augenhöhe verständlich erklärt bekommen, dass es für den Behandlungserfolg unerlässlich ist, die Medikamente auf die verordnete Art und Weise und für die verschriebene Dauer auch tatsächlich einzunehmen. Zur Unterstützung der Patienten und der Erhöhung der Arzneimitteltherapiesicherheit setze ich hier – wie bereits gesagt – große Hoffnung auf die pharmazeutischen Dienstleistungen, zum Beispiel die Medikationsanalyse und eine intensive regelmäßige Beratung und Begleitung der Patientinnen und Patienten in der Apotheke. Bei Multimorbiden und Älteren könnte es zudem sinnvoll sein, auch die Angehörigen in die Beratung miteinzubeziehen, damit sie zusätzlich informiert sind und im häuslichen Umfeld unterstützen können.

Angebote müssen jetzt in der Versorgung ankommen

Viele Krankenhauseinweisungen und Todesfälle im Zusammenhang mit Arzneimitteln wären vermeidbar. Würden Sie die Krankenkassen gern stärker in die Pflicht nehmen, in diesem Bereich mehr in Prävention zu investieren?

Ein unerwünschtes Arzneimittelereignis kann seine Ursache an verschieden Stellen des ambulanten oder stationären Versorgungsalltags haben. Für eine Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit sind daher nicht nur die Krankenkassen, sondern alle am Arzneimitteltherapieprozess beteiligten Akteure gefordert. Das Bundesministerium für Gesundheit hat daher bereits 2008 zusammen mit den auf Bundesebene angesiedelten Verbänden der Ärzteschaft, der Apothekerschaft und weiteren Beteiligten den Aktionsplan zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit in Deutschland ins Leben gerufen. Dieser Aktionsplan definiert Maßnahmen zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit auf verschiedenen Ebenen und wurde im vergangenen Jahr für die Zeit von 2021 bis 2024 fortgeschrieben und angepasst. Mit insgesamt 42 Maßnahmen sollen unter anderem die Risikowahrnehmung und die Risikoeinstellung aller Beteiligten, die Gesundheitskompetenz der Patientinnen und Patienten sowie sektorenübergreifende und interprofessionelle Kooperationen verbessert werden. Große Hoffnungen setze ich zudem in die Digitalisierung. Eine systematische digitale Unterstützung und Begleitung der Arzneimitteltherapie, zum Beispiel durch die elektronische Patientenakte, den elektronischen Medikationsplan oder digitale unterstützte geschlossene Medikationsprozesse in Krankenhäusern, können wesentlich dazu beitragen, potenzielle Fehlerquellen bei der Medikation sektorenübergreifend auszuschließen.

Die Krankenkassen sind bekanntermaßen nicht begeistert davon, für pharmazeutische Dienstleistungen zahlen zu müssen. Seit nunmehr fast einem Jahr zögern sie eine Einigung hinaus. Wann ist der Moment gekommen, in dem die Politik intervenieren muss?

Patientinnen und Patienten haben einen Rechtsanspruch auf pharmazeutische Dienstleistungen und ich kann aus Patientensicht eine gewisse Ungeduld hinsichtlich der schleppenden Umsetzung als berechtigt nachvollziehen. Ich erwarte daher, dass dieser Rechtsanspruch nach der Entscheidung der Schiedsstelle zeitnah in der Versorgung mit entsprechenden Angeboten ankommt. Ganz unabhängig davon, welche Positionen zum aktuellen Verfahrensstand geführt haben, fordere ich alle an diesem Prozess beteiligten Akteure jetzt mit Nachdruck auf, schnellstmöglich eine Lösung im Sinne der Patientinnen und Patienten herbeizuführen. Ich hoffe, dass sich die – ansonsten sehr berechtigte – Frage nach einer möglichen politischen Intervention dann nicht mehr stellt.

Herr Schwartze, vielen Dank für das Gespräch!



Christina Müller, Apothekerin und Redakteurin, Deutsche Apotheker Zeitung (cm)
redaktion@daz.online


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