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Corona-Superspreader bei Tönnies
Vorsicht Luftumwälzung: Corona-Aerosole fliegen acht Meter weit
Für viele Wissenschaftler schien es – während die WHO noch zurückhaltend reagierte – schon lange klar zu sein: Aersole spielen bei der Übertragung von SARS-CoV-2 eine bedeutende Rolle. Wie bedeutend, das könnte nun eine Studie zeigen, die den ersten SARS-CoV-2-Ausbruch im Mai 2020 beim Fleischzerlegebetrieb Tönnies untersucht hat: Die Ergebnisse sind auf der Preprint-Plattform SSRN erschienen und sollen eine mögliche Übertragung durch Aerosole über mehr als acht Meter nachweisen.
Was hat den massenhaften Fund von Corona-Infizierten bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück ausgelöst? Laut einer gemeinsamen Studie des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI), des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) und des Heinrich-Pette-Instituts, Leibniz-Institut für Experimentelle Virologie (HPI), hat ein Mitarbeiter in der Rinderzerlegung im Mai 2020 das Coronavirus bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück verteilt. Die Studienergebnisse seien auf der Preprint-Plattform SSRN erschienen, eine Publikation folge, heißt es in der entsprechenden Pressemitteilung.
Das erstaunliche an den Ergebnissen: Das Corona-Virus wurde auf mehrere Personen im Umkreis von mehr als acht Metern übertragen. Dazu wurden die Standorte der Arbeiter bei der Arbeit und die Infektionsketten anhand von Virussequenzen analysiert. Ist damit nun der Beweis erbracht, dass sich SARS-CoV- in bedeutendem Maße über Aerosole ausbreitet? Die WHO hielt das Ausmaß der Luftübertragung von Coronaviren Anfang Juli noch für unklar und reagierte zurückhaltend auf einen entsprechenden Vorstoß von Experten, die das Übertragungsrisiko des Coronavirus in der Luft für unterschätzt halten. Schließlich erkannte die WHO am 10. Juli die Verbreitung über die Luft laut Medienberichten an. Wer allerdings einen Blick auf die Seite der WHO wirft, kann nachlesen, dass vieles weiterhin nicht klar ist. So ist dort speziell von Aerosolen in medizinischen Einrichtungen die Rede. In anderen Umgebungen wie Restaurants oder bei Chorproben, wäre die aufgetretene Übertragung weiterhin auch durch Tröpfchen erklärbar, so die WHO. So soll es sich immer um große Menschenansammlungen mit geringem Abstand und schlechter Belüftung gehandelt haben. Auch im aktuellen Tönnies-Fall könnten die besonderen äußeren Bedingungen die offenbare Aerosol-Übertragung erklären.
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Nicht nur Tröpfchen
Die Deutsche Presse-Agentur (dpa) berichtet, dass in der Fleisch-Zerlegung die Luft durch Umwälzung auf 10 Grad gekühlt wird. Der Bonner Hygiene-Professor Martin Exner hatte die Luftumwälzung als einen möglichen Faktor für die Virus-Ausbreitung benannt, nachdem er die Arbeitsbedingungen vor Ort im Werk analysiert hatte. Tönnies hat daraufhin neue Filter-Anlagen installiert, um das Verteilen des Virus über die Luft zu unterbinden.
Exner hatte Mitte Juni zudem vermutet, dass auch die Wohnsituation der Arbeiter eine Rolle spielen könne. Die Forscher aus Hamburg und Braunschweig dagegen betonten nun, dass die Wohnsituation der Werksarbeiter während der untersuchten Phase keine wesentliche Rolle gespielt habe.
Lässt sich der Fall Tönnies auf andere Lebensbereiche übertragen?
„Unsere Studie beleuchtet SARS-CoV-2-Infektionen in einem Arbeitsbereich, in dem verschiedene Faktoren aufeinandertreffen, die eine Übertragung über relativ weite Distanzen ermöglichen. Es stellt sich nun die wichtige Frage, unter welchen Bedingungen Übertragungsereignisse über größere Entfernungen in anderen Lebensbereichen möglich sind“, sagte Melanie Brinkmann, Professorin und Forschungsleiterin am HZI in Braunschweig.
Adam Grundhoff, Mitautor der Studie, sagte der Deutschen Presse-Agentur mit Blick auf das Ergebnis: „Damit ist ein Superspreader-Vorgang für den Ausbruch bei Tönnies gefunden.“ Auch sei nachgewiesen worden, dass die bei Tönnies gefundenen Virussequenzen zuvor in einem Werk einer Westfleisch-Tochter in Dissen in Niedersachsen auch eine Rolle gespielt haben, sagte der Professor.
„Unsere Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Bedingungen des Zerlegebetriebs – also die niedrige Temperatur, eine geringe Frischluftzufuhr und eine konstante Luftumwälzung durch die Klimaanlage in der Halle, zusammen mit anstrengender körperlicher Arbeit – die Aerosolübertragung von SARS-CoV-2-Partikeln über größere Entfernungen hinweg förderten“, sagte Grundhoff. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Faktoren generell eine entscheidende Rolle bei den weltweit auftretenden Ausbrüchen in Fleisch- oder Fischverarbeitungsbetrieben spielen. Unter diesen Bedingungen ist ein Abstand von 1,5 bis 3 Metern alleine ganz offenbar nicht ausreichend, um eine Übertragung zu verhindern.“
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Tönnies-Sprecher André Vielstädte berichtete, dass sich die Zahl der gefundenen Infektionen von der Rinderzerteilung über die Sauen- und später die Schweinezerteilung ausgebreitet habe. Das hätte die eigene Reihentestung gezeigt. Zwar würden die Arbeiter nicht in den unterschiedlichen Bereichen durchmischt eingesetzt. „Aber die Bereiche liegen in der Fabrik nah beieinander“, erklärte Vielstädte. Die Arbeiter würden sich in den Gängen auf dem Weg zur Arbeit und in den Sozialräumen begegnen.
Im Büro mehr Aerosol-Belastung als im Kino?
Und auch in anderen Lebensbereichen interessiert man sich natürlich für die mögliche Übertragung durch Aerosole: Die Konzentration der für die Übertragung von Corona-Viren relevanten Aerosole soll in Kinosälen dabei deutlich geringer als in einem Büroraum sein. Zu diesem Ergebnis kommt zumindest eine der dpa vorliegende Studie des Hermann-Rietschel-Instituts der Technischen Universität Berlin für den Hauptverband Deutscher Filmtheater HDF Kino.
Werde im Kino nur geatmet, soll die Zahl der eingeatmeten Aerosole selbst bei einem Film mit Überlänge noch deutlich unter der in einem Büro liegen, in dem gesprochen werde. Das hängt laut Studie auch mit der Lüftungsart in den Kinos zusammen.
Der Verband HDF Kino fordert deswegen, die Abstandsregelung von 1,50 Metern zu reduzieren, da die Sicherheit der Besucher gewährleistet sei. Nur wenn Kinos ihre Kapazitäten erhöhen können, werde es mehr neue Filme geben, mit denen die Kinos die Krise überleben könnten.
Angenommen, dass die Tröpfcheninfektion aber doch eine wichtigere Rolle spielt als die Übertragung durch Aerosole, scheint eine Reduzierung der Abstandsregeln nicht grundsätzlich sinnvoll zu sein.
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