Einsatz umstritten

Bieten zugelassene Lebendimpfstoffe einen Schutz vor COVID-19?

Berlin - 15.06.2020, 12:00 Uhr

Forscher diskutieren unter anderem den Einsatz der Polio-Schluckimpfung gegen die Ausbreitung von SARS-CoV-2. ( r / Foto: imago images / epd)

Forscher diskutieren unter anderem den Einsatz der Polio-Schluckimpfung gegen die Ausbreitung von SARS-CoV-2. 
( r / Foto: imago images / epd)


Weltweit wird intensiv nach einem Impfstoff geforscht, der gezielt vor dem Coronavirus SARS-CoV-2 schützen soll. Bis es ihn gibt, könnten möglicherweise bereits existierende Lebendimpfstoffe einen gewissen Schutz gegen eine Infektion bieten, glauben Forscher. Denn gerade Lebendimpfstoffe, die funktionsfähige, aber abgeschwächte Erreger enthalten, lösen eine besonders robuste Antwort des Immunsystems aus.

Lebendimpfstoffe könnten möglicherweise gleich vor mehreren Krankheitserregern schützen, vermuten Forscher – vielleicht auch vor SARS-CoV-2. „Bisherige Studien konnten Hinweise erbringen, dass diese Impfstoffe einen Effekt über ihre erregerspezifische Wirkung hinaus haben und den Schutz vor anderen Krankheiten erhöhen können", schreiben die Experten Professor Melanie Brinkmann, Dr. Eva Kaufmann und Professor Thomas Mertens in einer gemeinsamen Antwort auf eine Anfrage der Deutschen Presse-Agentur. Eine solche Stimulierung bewirke langanhaltende Veränderungen in Immunzellen oder deren Vorläuferzellen, die zu einer erhöhten Funktionsbereitschaft der Körperabwehr führten, betont die Immunologin Dr. Eva Kaufmann von der McGill University in Montreal.

„Ganz generell gibt es aus epidemiologischen Studien Hinweise darauf, dass Lebendimpfstoffe, wenn auch zu einem geringen Prozentsatz, einen „Kreuzschutz" gegen nicht verwandte Erreger bieten könnten", bestätigt der Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI), Professor Klaus Cichutek. Diese Studien seien aber noch kein Nachweis für einen solchen Schutz, betont er. Empfehlungen für den Einsatz eines bereits zugelassenen Lebendimpfstoffs gegen das Coronavirus „würden in jedem Fall zunächst entsprechende, überzeugende Daten insbesondere zur Wirksamkeit gegenüber Covid-19 erfordern". Solche Daten liegen nach Kenntnis des PEI derzeit weltweit nicht vor.

Professor Melanie Brinkmann vom Braunschweiger Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) verweist auf Hinweise dafür, dass der Tuberkulose-Impfstoff BCG gegen virale Infektionen bei Menschen schützen kann. Ob diese Immunantwort auch einen gewissen Schutz gegen die Infektion mit SARS-CoV-2 vermittele, sei bislang nicht bekannt. „Es ist wichtig, dies nun in klinischen Studien zu untersuchen", betont die Virologin. Nach PEI-Angaben prüfen derzeit zwei klinische Studien eine solche Wirkung des relativ neuen und bereits auf seine Sicherheit untersuchten BCG-Impfstoffs VPM 1002 in bestimmten Risikogruppen. Ergebnisse werden im kommenden Jahr erwartet.

Oraler Polio-Impfstoff gegen COVID-19?

Im Fachblatt „Science" geht ein internationales Forscherteam in einem Diskussionsbeitrag ebenfalls auf die Frage ein, ob Lebendimpfstoffe einen Schutz vor COVID-19 bieten könnten. Die Wissenschaftler um Dr. Konstantin Chumakov von der US-Arzneimittelbehörde FDA (Food and Drug Administration) sprechen sich für eine Studie aus, um insbesondere die Wirksamkeit des – von der Schluckimpfung bekannten – oralen Polio-Impfstoffs OPV gegen das Coronavirus zu untersuchen.

Die in den 1950er Jahren entwickelte Vakzine habe in früheren Studien auch einen gewissen Schutz vor anderen Viren wie etwa Grippeerregern gezeigt, schreiben die Forscher. „Wenn die Ergebnisse der Studien mit OPV positiv sind, könnte OPV genutzt werden, um die verletzlichsten Bevölkerungen zu schützen."

Der Virologe Professor Thomas Mertens von der Uniklinik Ulm, Vorsitzender der Ständigen Impfkommission (STIKO) am Robert Koch-Institut (RKI), sieht diesen Vorschlag allerdings skeptisch: Ein weltweiter Einsatz des OPV-Impfstoffs gegen SARS-CoV-2 sei „kaum vorstellbar" – vor allem um mögliche Infektionen mit Erregern, die von solchen Impfviren abstammen, zu vermeiden.

Die aktuelle Strategie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sehe vor, weltweit alle OPV-Impfungen zu stoppen und stattdessen zur Ausrottung des Poliovirus-Typs 1 – des einzigen noch verbliebenen Polio-Wilderregers – Totimpfungen zu verwenden. „Eine durch Impfungen mit OPV unvermeidbare erneute Freisetzung von Polio-Impfviren erscheint äußerst fragwürdig", betont Mertens.



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