Spinale Muskelatrophie

Nusinersen: Ausmaß des Zusatznutzens? Erheblich!

Stuttgart - 01.02.2018, 16:15 Uhr

Das erste Orphan Drug mit G-BA bescheinigtem „erheblichem" Zusatznutzen: Nusinersen in Spinraza® bei Spinaler Muskelatrophie. (Foto: Biogen)

Das erste Orphan Drug mit G-BA bescheinigtem „erheblichem" Zusatznutzen: Nusinersen in Spinraza® bei Spinaler Muskelatrophie. (Foto: Biogen)


Der Gemeinsame Bundesausschuss hat dem Arzneimittel Nusinersen einen erheblichen Zusatznutzen bescheinigt – aber nur für Patienten mit der schwersten, nämlich der akut infantilen Form der spinalen Muskelatrophie. Für das Orphan Drug Spinraza® besitzt Biogen seit Mai 2017 die Zulassung in der EU.

Die Bewertungen des Zusatznutzens vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) sich insbesondere der Pharmaindustrie immer wieder ein Dorn im Auge, schließlich ist das Ausmaß des Mehrwerts ein Argument in den Preisverhandlungen mit den Kassen. Mit Einschätzungen wie „erheblicher Zusatznutzen“ gehen Professor Josef Hecken, unparteiischer Vorsitzender des G-BA, und seine G-BA-Kollegen meist sparsam um. Seit Einführung der frühen Nutzenbewertung mit dem AMNOG im Januar 2011 hat sich der Gemeinsame Bundesausschuss erst in drei Fällen zu dieser Höchstbewertung durchgerungen.

2015 attestierte er Propranolol in Hemangiol® erstmals einen erheblichen Zusatznutzen beim infantilen Hämangiom. Im gleichen Jahr folgte Afatinib (Giotrif®) bei Patienten mit nichtkleinzelligem Lungenkrebs und aktivierender EGFR-Mutation. Nun reiht sich auch Nusinersen in diese rare Reihe der Arzneimittel mit G-BA-bescheinigtem erheblichem Zusatznutzen ein. Nusinersen ist das erste Orphan Drug mit dieser Bewertung. Indiziert ist es bei Patienten mit Spinaler Muskelatrophie (SMA). 

Erheblicher Zusatznutzen Spinraza® – bei welcher Form der Spinalen Muskelatrophie?

Der G-BA sieht allerdings nicht für jede Form der Spinalen Muskelatrophie den gleichen Zusatznutzen. Er attestiert den erheblichen Zusatznutzen nur dem schwersten Subtyp der Erkrankung, der akut infantilen SMA. Bei diesen Patienten beginnt die klinische Symptomatik bereits im Mutterleib oder wird innerhalb der ersten drei Lebensmonate des Kindes diagnostiziert. Die Kinder lernen nie eigenständig zu sitzen und sterben sehr früh an Ateminsuffizienz oder an sekundären Atemwegsinfektionen, meist während ihrer ersten zwei Lebensjahre.

Spinale Muskelatrophie (SMA)

Bei der Spinalen Muskelatrophie korreliert der Schweregrad der Erkrankung unter anderem damit, wie jung der Patient bei Symptombeginn ist. Auf physiologischer Ebene kommt es bei SMA-Patienten zur Zerstörung von Motoneuronen im Vorderhorn des Rückenmarks.

Warum? Den Patienten fehlt ein bestimmtes Protein, das Survival Motoneuron (SMN), da ihnen das hierfür codierende Gen SMN1 fehIt oder es defekt ist. In der Folge kann der sensorische Impuls, der das Rückenmark über das Hinterhorn erreicht, nicht auf die motorischen Vorderhornzellen übertragen werden – die Muskulatur wird nicht aktiviert und atrophiert zunehmend.

In der Nähe des Genortes für SMN1 liegt ein weiteres für SMN codierendes Gen: SMN2. Es ist für geringe Mengen des Survival-Monoteuron-Proteins verantwortlich. Die Schwere und schlechte Prognose der Spinalen Muskelatrophie hängen neben einem jungen Alter bei Symptombeginn auch mit einer niedrigen Anzahl dieser SMN2-Gen-Kopien zusammen.

Die Spinale Muskelatrophie beeinträchtigt alle Muskeln des Körpers, meist sind die proximalen Muskeln (Schulter-, Hüft- und Rückenmuskulatur) am schwersten betroffen sind. Auch die Kau- und Schluckmuskulatur kann atrophisch funktionell eingeschränkt sein.

Durch die Beteiligung der Atemmuskulatur, fällt den Patienten eine ausreichende Sauerstoffaufnahme schwer oder ist unmöglich. Häufige Infektionen der Atemwege und Pneumonien verschärfen die Ateminsuffizienz und zeichnen vor allem bei der schwersten Form der SMA, der infantilen, für den frühen Tod der Patienten verantwortlich.

Beträchtlicher und nicht quantifizierbarer Zusatznutzen für „mildere“ Formen der SMA

Nur einen „beträchtlichen" Zusatznutzen bescheinigt der G-BA Patienten mit Chronisch Infantiler Spinaler Muskelatrophie. Bei dieser Unterform der Erkrankung entwickeln Kinder meist innerhalb ihres ersten Lebensjahres Symptome. Sie hat die zweitschlechteste Prognose. Die Kinder können in der Regel selbständig sitzen, benötigen aber Hilfe beim Stehen oder Gehen. Ihre Lebenserwartung ist stark verkürzt.

Der Zeitpunkt der Diagnose der Juvenilen Spinalen Muskelatrophie schwankt erheblich, in manchen Fällen zeigen Kinder bereits im ersten Lebensjahr klinische Symptome. Manchmal diagnostizieren Ärzte die SMA erst im Jugendalter. Von einer Adulten SMA sprechen Fachkreise, wenn Patienten jenseits des 30. Lebensjahres erste muskelatrophische Symptome zeigen. Für diese beiden Patientengruppen ist laut G-BA-Beschluss der Zusatznutzen nicht quantifizierbar.

Wie wirkt Nusinersen?

Nusinersen greift in das SMN2-Geschehen ein: „Nusinersen ist ein Antisense-Oligonukleotid (ASO), das den Anteil des Einschlusses von Exon 7 in die Messenger-Ribonukleinsäure (mRNA)-Transkripte des Survival Motor Neuron 2 (SMN2) erhöht, indem es an eine intronische Splice Silencing Site (ISS-N1) im Intron 7 auf der Prä-Messenger-Ribonukleinsäure (prä-mRNA) von SMN2 bindet. Durch diese Bindung verdrängt das ASO die Spleißfaktoren, welche normalerweise das Spleißen unterdrücken. Die Verdrängung dieser Faktoren führt zu einer Retention des Exon 7 in der SMN2-mRNA, die dann bei Bildung der SMN2-mRNA in ein funktionelles SMN-Protein voller Länge translatiert werden kann", erklärt die Fachinformation zu Spinraza® den Wirkmechanismus.

Einfacher formuliert: Nusinersen bewirkt, dass der „Output“ der SMN-Protein-Synthese aus dem SMN2-Gen erhöht wird, indem aus der SMN2-mRNA ein funktionelles SMN-Protein translatiert wird.

Die spinale Muskelatrophie zählt zu den den seltenen Erkrankungen und trifft einen von 10.000 Menschen. Nusinersen zur Behandlung der SMA ist folglich als Orphan Drug zugelassen. Die frühe Nutzenbewertung durch das IQWiG und die abschließende Bewertung durch den G-BA laufen bei Orphan Drugs nicht in allen Punkten wie bei „normalen" Arzneimitteln ab: Allein die medizinische Zulassung des Orphan Drugs bescheinigt diesem automatisch einen Zusatznutzen. Der pharmazeutische Unternehmer muss keine Daten zum Nutzen im Vergleich mit der zweckmäßigen Vergleichstherapie vorlegen. Ausnahmen bestätigen jedoch die Regel – übersteigt der Umsatz des betroffenen Arzneimittels 50 Millionen Euro in den vergangenen zwölf Kalendermonaten, so muss der pharmazeutische Unternehmer auch für Orphan Drugs entsprechende Daten nachreichen. 

Was kostet eine Therapie mit Spinraza®?

In seiner Nutzenbewertung berücksichtigt der G-BA auch immer die Kosten der zu bewertenden Arzneimitteltherapie. Rein auf das Arzneimittel runtergebrochen, sind diese für Nusinersen nicht ganz unerheblich: So veranschlagt der Gemeinsame Bundesausschuss für das erste Behandlungsjahr mit Spinraza® 621.354 Euro. Im zweiten Jahr rechnet er noch mit 310.677 Euro an Therapiekosten.

Die Patienten erhalten Nusinersen intrathekal. Die empfohlene Dosis beträgt 12 mg pro Anwendung. Nach vier Aufsättigungsdosen zu Behandlugnsbeginn an den Tagen 0, 14, 28 und 63 folgen Erhaltungsdosen mit viermonatigem Abstand.



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online (cel)
redaktion@daz.online


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1 Kommentar

beeindruckend

von Peter Bauer am 01.02.2018 um 17:37 Uhr

Das ist wirklich ein sehr beeindruckendes Beispiel einer
Arzneimittelentwicklung der sonst so viel gescholtenen
"bösen und gierigen Pharmaindustrie"

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